auszuhandigen?«

Sie schuttelte erstaunt den Kopf.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Es handelt sich um einen sehr wichtigen Gegenstand, und da Ihr Bruder am Tag der Revolution in Ihrem Hotel war…«

»Ja, er wollte mich besuchen, aber ich war nicht da; er hinterlie? mir eine Nachricht – vollig uninteressant. Er erkundigte sich, ob ich am nachsten Tag mit ihm Golf spielen wollte. Er scheint keine Ahnung gehabt zu haben, dass er noch am gleichen Tag mit Prinz Ali das Land verlassen musste.«

»War das alles? Haben Sie den Brief aufbewahrt, Mrs Sutcliffe?«

»Aber nein. Er war viel zu unwichtig. Ich habe den Bogen sofort zerrissen und weggeworfen. Warum hatte ich ihn aufheben sollen?«

»Weil er vielleicht noch eine versteckte Botschaft enthielt – moglicherweise mit unsichtbarer Tinte geschrieben.«

»Mit unsichtbarer Tinte!«, wiederholte Mrs Sutcliffe verachtlich. »So etwas geschieht doch nur in Kriminalromanen.«

»Da muss ich Ihnen leider widersprechen«, entgegnete O’Connor entschuldigend.

»Unsinn! Bob hat bestimmt niemals unsichtbare Tinte benutzt. Warum sollte er? Er war ein lieber, vernunftiger Junge, der mit beiden Beinen fest auf der Erde stand.« Wieder begannen die Tranen uber ihr Gesicht zu rollen. »Wo ist denn nur meine Handtasche? Ich brauche unbedingt ein Taschentuch. Vielleicht hab ich sie im anderen Zimmer gelassen.«

»Ich hole sie Ihnen«, sagte O’Connor.

Er ging durch die Verbindungstur und blieb erstaunt stehen, als ein junger Mann im blauen Overall, der uber einen Koffer gebeugt dastand, verlegen aufblickte.

»Ich bin der Elektriker, die Leitung war defekt«, erklarte der junge Mann eilig.

O’Connor druckte auf einen Schalter.

»Scheint doch alles in bester Ordnung zu sein«, meinte er liebenswurdig.

»Dann haben die mir wohl eine falsche Nummer gegeben«, entgegnete der Elektriker.

Er nahm seine Werkzeugtasche und verlie? rasch das Zimmer.

O’Connor runzelte die Stirn, nahm die Handtasche vom Frisiertisch und gab sie Mrs Sutcliffe.

»Entschuldigen Sie einen Moment«, sagte er und nahm den Horer ab.

»Hier Zimmer 310. Haben Sie eben einen Elektriker hierhergeschickt?… Ja, ich warte… Nein? Dachte ich mir’s doch… Ja, das Licht ist in Ordnung, vielen Dank.«

Er legte den Horer auf.

»Unten wissen sie nichts von einem Elektriker.«

»Was wollte der Mann hier? War es ein Dieb?«

»Moglich.«

Mrs Sutcliffe prufte aufgeregt den Inhalt ihrer Handtasche. »Aus meiner Tasche hat er nichts genommen – auch kein Geld.«

»Sind Sie ganz sicher, dass Ihr Bruder Ihnen nichts mitgegeben hat? Hat er Sie nicht gebeten, etwas in einen Ihrer Koffer zu packen?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Mrs Sutcliffe.

»Hat er sich vielleicht an Ihre Tochter gewandt? Sie haben doch eine Tochter?«

»Ja, sie trinkt unten Tee.«

»Konnte es sein, dass Ihr Bruder ihr etwas mitgegeben hat?«

»Ausgeschlossen.«

»Es besteht auch noch die Moglichkeit, dass er etwas in Ihrem Gepack versteckt hat, als er allein in Ihrem Hotelzimmer war.«

»Aber warum sollte er? Das ist eine vollig absurde Idee.«

»Nein, es ist nicht so absurd, wie Sie annehmen. Es ware denkbar, dass Prinz Ali Ihren Bruder beauftragt hat, etwas fur ihn aufzubewahren. Vielleicht glaubte Ihr Bruder, dass dieser Gegenstand bei Ihnen sicherer ware als bei ihm.«

»Klingt hochst unwahrscheinlich.«

»Wurden Sie mir gestatten, Ihr Gepack zu durchsuchen?«

»Wie? Das ganze Gepack?«, fragte Mrs Sutcliffe entsetzt.

»Ich wei?, dass es eine Zumutung ist«, erklarte O’Connor. »Aber es konnte von gro?ter Wichtigkeit sein. Ich wurde Ihnen dann gern wieder beim Einpacken helfen«, fuhr O’Connor liebenswurdig fort. »Meine Mutter, der ich oft helfe, halt mich fur einen sehr guten Packer.«

Der junge O’Connor besa? viel Charme – das hatte Colonel Pikeaway richtig eingeschatzt –, dem Mrs Sutcliffe jetzt seufzend erlag.

»Also gut«, sagte sie, »wenn Sie es fur unbedingt notig halten…«

»Es konnte von au?erordentlicher Wichtigkeit sein«, wiederholte O’Connor. Er sah sich um und bat mit einem reizenden Lacheln: »Konnen wir gleich anfangen?«

Als Jennifer eine Dreiviertelstunde spater vom Tee zuruckkam, blickte sie sich erstaunt im Zimmer um.

»Was ist denn hier los, Mum?«

»Wir haben alles ausgepackt, und jetzt packen wir wieder ein«, erwiderte Mrs Sutcliffe verargert. »Das ist Mr O’Connor, und das ist meine Tochter Jennifer.«

»Aber warum denn?«

»Frag nicht so viel… Man nimmt anscheinend an, dass Onkel Bob etwas in meinem Gepack versteckt hat. Dir hat er doch wohl nichts gegeben, Jennifer?«

»Nein. Wie kommst du nur darauf? Hast du meine Sachen auch ausgepackt?«

»Wir haben alles ausgepackt«, erklarte O’Connor freundlich, »aber wir haben nichts gefunden. Jetzt packen wir alles wieder in die Koffer. Mochten Sie nicht eine Tasse Tee oder vielleicht einen Kognak trinken, Mrs Sutcliffe?«

»Einen starken Tee, bitte.«

»Ich habe furchtbar viel gegessen, Mum. Butterbrote und Marmelade und Kuchen und Sandwiches. Es war himmlisch.«

O’Connor ging zum Telefon und bestellte den Tee, dann half er Mrs Sutcliffe weiter beim Packen.

Er packte so ordentlich und geschickt, dass sie ihre Bewunderung nicht verhehlen konnte.

»Ihre Mutter hat Recht, Sie sind wirklich sehr tuchtig.«

O’Connor lachelte.

Seine Mutter war schon lange tot, und das Packen hatte er von Colonel Pikeaway gelernt.

»Nun noch etwas, Mrs Sutcliffe – ich mochte Sie bitten, sehr, sehr vorsichtig zu sein.«

»Vorsichtig? Inwiefern?«

»Die Folgen einer Revolution sind oft unabsehbar und erstrecken sich weit uber den Schauplatz des Aufstandes hinaus«, erwiderte er etwas vage. »Bleiben Sie langer in London?«

»Nein, morgen holt uns mein Mann mit dem Wagen ab, und wir fahren aufs Land.«

»Das ist gut. Aber ich bitte Sie noch einmal dringend, vorsichtig zu sein. Falls sich irgendetwas ereignen sollte, das Ihnen merkwurdig erscheint, mussen Sie umgehend 999 wahlen.«

»Au fein, ich wollte schon immer mal bei der Polizei anrufen«, erklarte Jennifer begeistert.

»Sei nicht so albern, Jennifer«, wies ihre Mutter sie zurecht.

Auszug aus einer Regionalzeitung:

Gestern wurde in die Villa von Mr Henry Sutcliffe eingebrochen. Der Dieb war in das Schlafzimmer von Mrs Sutcliffe eingedrungen, als die Familie dem Sonntagsgottesdienst in der Dorfkirche beiwohnte. Das Kuchenpersonal, das das Mittagessen vorbereitete, hatte nichts gehort. Der Mann wurde von der Polizei verhaftet, als er sich aus dem Haus schlich. Er muss gestort worden sein, denn er machte sich davon, ohne etwas gestohlen zu haben; er hinterlie? nur eine wuste Unordnung in Mrs Sutcliffes Zimmer.

Er sagte aus, er hei?e Andrew Ball, und behauptete, keine feste Adresse zu haben. Er sei arbeitslos und habe Geld gesucht. Mrs Sutcliffes Schmuck wird im Tresor einer Bank aufbewahrt, mit Ausnahme einiger weniger Stucke, die sie taglich tragt.

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