hinuber. Im Vorbeilaufen sehe ich, wie Hermann einen schonen Schlag auf der aufgerissenen Schnauze des zweiten Anfuhrers landet.»Los, Gotz«rufe ich.»Komm mit! Wir sind durch!«

Hermann dreht sich noch einmal. Sein loser Jackenarmel ?attert um ihn herum, mit dem Rest des Armstummels macht er wilde Bewegungen, um das Gleichgewicht zu halten, und mit Staunen und Grauen glotzen zwei Stiefeltrager, die im Wege stehen, ihn an. Einer bekommt einen Hieb gegen das Kinn, der andere, als er die schwarze kunstliche Hand auf sich zusausen sieht, kreischt voll Grauen auf, halt sich die Augen zu und rennt davon.

Wir erreichen das hubsche viereckige Sandsteingebaude und verschanzen uns an der Damenseite. Sie ist leichter zu verteidigen. Bei der Herrenseite kann man durchs Pissoir einsteigen und uns in den Rucken fallen – bei den Damen sind die Fenster klein und hoch.

Die Gegner sind uns gefolgt. Es mussen jetzt mindestens zwanzig sein; sie haben Zuzug von anderen Nazis bekommen. Ich sehe ein paar ihrer schei?farbenen Uniformen. Sie versuchen, auf der Seite, wo Kohler und ich stehen, durchzubrechen. Im Gedrange merke ich aber, da? Hilfe fur uns von hinten kommt. Eine Sekunde spater sehe ich, da? Riesenfeld mit zusammengelegter Aktentasche, in der, hoffe ich, Granitproben sind, auf jemand einschlagt, wahrend Renee de la Tour einen hochhackigen Schuh ausgezogen und an der Vorderseite ergriffen hat, um mit dem Hacken loszudreschen.

Wahrend ich das sehe, rennt mir jemand den Schadel in den Magen, da? mir die Luft mit einem Knall aus dem Munde springt. Ich schlage schwach, aber wild um mich und habe irgendwoher das sonderbare Gefuhl einer vertrauten Situation. Automatisch hebe ich ein Knie, weil ich erwarte, da? der Rammbock wiederkommt. Gleichzeitig sehe ich eines der schonsten Bilder, das ich mir in dieser Lage vorstellen kann: Lisa, die wie die Nike von Samothrake uber den Neumarkt heransturmt, neben ihr Bodo Ledderhose und hinter ihm sein Gesangverein. Im gleichen Augenblick spure ich den Rammbock aufs neue und sehe Riesenfelds Aktentasche wie eine gelbe Flagge niedergehen. Gleichzeitig macht Renee de la Tour eine blitzschnelle Bewegung nach unten, der ein Aufheulen des Rammbocks folgt. Renee schreit mit markiger Generalstimme:»Stillgestanden, Schweine!«Ein Teil der Angreifer fahrt unwillkurlich zusammen. Dann tritt der Gesangverein in Aktion, und wir sind frei.

Ich richte mich auf. Es ist plotzlich still. Die Angreifer sind ge?ohen. Sie schleppen ihre Verwundeten mit. Hermann Lotz kommt zuruck. Er ist dem ?iehenden Gegner wie ein Zentaur nachgesprengt und hat noch einem eine eiserne Ohrfeige verabreicht. Wir sind nicht schlecht weggekommen. Ich habe eine birnenartige Beule am Kopf und das Gefuhl, mein Arm sei gebrochen. Er ist es nicht. Au?erdem ist mir sehr ubel. Ich habe zuviel getrunken, um an Magensto?en Gefallen zu ?nden. Wieder qualt mich die sich nicht erinnernde Erinnerung. Was war das doch?»Ich wollte, ich hatte einen Schnaps«, sage ich.

»Den kriegst du«, erwidert Bodo Ledderhose.»Kommt jetzt, bevor die Polizei erscheint.«

In diesem Moment ertont ein scharfes Klatschen. Wir drehen uns uberrascht um. Lisa hat auf jemand eingeschlagen.»Du ver?uchter Saufbruder!«sagt sie ruhig.»So sorgst du fur Heim und Frau -«

»Du -«gurgelt die Gestalt.

Lisas Hand klatscht zum zweitenmal nieder. Und jetzt, plotzlich, lost sich mein Erinnerungsknoten. Watzek! Da steht er und halt sich merkwurdigerweise den Hintern fest.

»Mein Mann!«sagt Lisa ins allgemeine uber den Neumarkt hin.»Mit so was ist man nun verheiratet.«

Watzek antwortet nicht. Er blutet stark. Die alte Stirnwunde, die ich ihm geschlagen habe, ist wieder aufgegangen. Au?erdem rinnt Blut aus seinen Haaren.»Waren Sie das?«frage ich Riesenfeld leise.»Mit der Aktentasche?«

Er nickt und betrachtet Watzek aufmerksam.»Wie man sich manchmal so trifft«, sagt er.

»Was hat er am Hintern?«frage ich.»Weshalb halt er den fest?«

»Ein Wespenstich«, erwidert Renee de la Tour und befestigt eine lange Hutnadel wieder in einem eisblauen Samtkappchen auf ihren Locken.

»Meine Hochachtung!«Ich verneige mich vor ihr und trete auf Watzek zu.»So«, sage ich,»jetzt wei? ich, wer mir seinen Schadel in den Bauch gerannt hat! Ist das der Dank fur meinen Unterricht in besserer Lebensart?«

Watzek starrt mich an.»Sie? Ich habe Sie nicht erkannt! Mein Gott!«

»Er erkennt nie jemanden«, erklart Lisa sarkastisch.

Watzek bietet einen betrublichen Anblick. Dabei bemerke ich, da? er meinen Ratschlagen tatsachlich gefolgt ist. Er hat sich seine Mahne kurz schneiden lassen – mit dem Erfolg, da? Riesenfeld ihm einen harteren Schlag versetzen konnte -, er tragt sogar ein wei?es, neues Hemd – aber alles, was er damit erreicht hat, ist, da? sich das Blut nur noch deutlicher darauf abzeichnet als auf einem anderen. Er ist ein Unglucksrabe!

»Nach Hause! Du Saufaus und Raufbold!«sagt Lisa und geht. Watzek folgt ihr gehorsam. Sie wandern uber den Neumarkt, ein einsames Paar. Niemand folgt ihnen. Georg hilft Lotz, seinen kunstlichen Arm wieder halbwegs zurechtzubiegen.

»Kommt«, sagt Ledderhose.»In meinem Lokal konnen wir noch trinken. Geschlossene Gesellschaft!«

Wir sitzen eine Zeitlang mit Bodo und seinem Verein. Dann gehen wir nach Hause. Der Morgen schleicht grau herauf. Ein Zeitungsjunge kommt vorbei. Riesenfeld winkt ihm zu und kauft ein Blatt. Mit gro?en Lettern steht auf der Vorderseite:

Ende der In?ation! Eine Billion ist eine Mark!

»Nun?«sagt Riesenfeld zu mir.

Ich nicke.

»Kinder, es kann tatsachlich sein, da? ich pleite bin«, erklart Willy.»Ich habe noch auf Baisse spekuliert.«Er sieht betrubt auf seinen grauen Anzug und dann auf Renee.»Na, wie gewonnen, so zerronnen – was ist schon Geld, wie?«

»Geld ist sehr wichtig«, erwidert Renee kuhl.»Besonders, wenn man es nicht hat.«

Georg und ich gehen die Marienstra?e entlang.»Sonderbar, da? Watzek von mir und Riesenfeld Prugel bekommen hat«, sage ich.»Nicht von dir. Es ware doch naturlicher gewesen, wenn du und er gekampft hatten.«

»Naturlicher schon; aber nicht gerechter.«

»Gerechter?«frage ich.

»In einem verzwickten Sinne. Ich bin jetzt zu mude, es herauszu?nden. Manner mit kahlen Kopfen sollten sich nicht mehr schlagen. Sie sollten philosophieren.«

»Da wirst du ein sehr einsames Leben vor dir haben. Die Zeit sieht nach Schlagen aus.«

»Ich glaube nicht. Irgendein scheu?licher Karneval ist zu Ende gegangen. Sieht es heute nicht nach einem kosmischen Aschermittwoch aus? Eine machtige Seifenblase ist geplatzt.«

»Und?«sage ich.

»Und?«erwidert er.

»Irgend jemand wird eine neue, machtigere blasen.«

»Vielleicht.«

Wir stehen im Garten. Grau rinnt der milchige Morgen um die Kreuze. Die jungste Knopf-Tochter erscheint, halb ausgeschlafen. Sie hat auf uns gewartet.»Vater sagt, fur zwolf Billionen konnen Sie den Grabstein zuruckkaufen.«

»Sagen Sie ihm, wir bieten acht Mark. Und auch das nur bis heute mittag. Geld wird sehr knapp werden.«

»Was?«fragt Knopf aus seinem Schlafzimmer heraus. Er hat gelauscht.

»Acht Mark, Herr Knopf. Und heute nachmittag nur noch sechs. Das Geld geht herunter. Wer hatte das je gedacht, was? Anstatt herauf.«

»Lieber behalte ich ihn in alle Ewigkeit, ihr ver?uchten Leichenrauber!«krachzt Knopf und schlagt das Fenster zu.

XXV

Der Werdenbrucker Dichterklub gibt mir in der altdeutschen Stube der»Walhalla«einen Abschiedsabend. Die

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