den Schadel, so da? sie sich uber den oberen Teil des Gesichtes legte und die Augen bedeckte. Damit war der ganze Schadel freigelegt, und McNeil griff nach einer kleinen Motorsage, deren Kabel bereits angeschlossen war. Ehe er den Strom einschaltete, blickte er kurz zu den Lernschwestern hinuber und bemerkte, da? sie ihn mit einer Mischung von unglaubigem Staunen und Entsetzen beobachteten. Immer mit der Ruhe, Kinderchen, dachte er, gleich werdet ihr alles sehen.

Pearson hob behutsam das Herz und die Lungen aus der Brusthohle, wahrend McNeil die Sage an dem Schadel ansetzte. Das metallische Knirschen, mit dem sich die Stahlzahne des rotierenden Sageblatts durch den Knochen fra?en, schnitt grausig durch den stillen Raum. Als er aufblickte, sah er, wie das Madchen mit dem Taschentuch zusammenzuckte. Wenn sie sich ubergeben mu?, tut sie es hoffentlich nicht hier drin, dachte er. Er schnitt mit der Sage weiter, bis die Schadeldecke ringsum durchtrennt war, legte sie dann fort. George Rinne wurde spater das Instrument saubern und das Blut davon abwaschen. Jetzt hob McNeil vorsichtig das Schadeldach ab und legte die weiche Hirnhaut frei, die das darunterliegende Gehirn bedeckte. Wieder sah er zu den Schwestern hinuber. Sie hielten tapfer stand. Wenn sie diesen Anblick ertrugen, konnten sie alles ertragen. Nachdem der knochige Teil des Kopfes entfernt war, nahm er eine scharfe Schere und offnete die gro?e Vene - den Sinus sagittalis superior -, die in der Mitte der Membrane von vorn nach hinten verlief. Das Blut scho? heraus, ergo? sich uber die Schere und seine Hand. Es war flussiges Blut, bemerkte er, zeigte kein Anzeichen einer Thrombose. Sorgfaltig prufte er die Hirnhaut, durchschnitt sie dann und loste sie ab, um die darunterliegende Gehirnmasse freizulegen. Mit einem Messer trennte er das Gehirn sorgfaltig vom Ruckenmark ab und hob es heraus. Seddons trat zu ihm, hielt ihm ein mit Formalin halb gefulltes Glasgefa? hin, und behutsam lie? McNeil das Gehirn hineingleiten.

Wahrend Seddons McNeil und seinen sicheren und geschickten Handen zusah, uberraschte er sich bei der Frage, was im Kopf des Assistenzarztes vorgehen mochte. Er kannte McNeil seit zwei Jahren, zunachst als Kollegen, Assistenzarzt wie er selbst, wenn er auch im hierarchischen System des Krankenhauses dienstalter war, und lernte ihn spater wahrend der wenigen Monate, die er in der Pathologie arbeitete, naher kennen. Seddons interessierte sich fur Pathologie. Trotzdem war er froh, da? er sie nicht als sein Spezialgebiet gewahlt hatte. An seiner Entscheidung fur die Chirurgie war ihm nie ein Zweifel gekommen, und er wurde froh sein, wenn er in ein paar Wochen dorthin zuruckkehrte. Im Gegensatz zu diesem Reich der Toten gehorte der Operationsraum zum Gebiet der Lebenden. Dort pulsierte das Leben, dort wurde jede Bewegung von einem Geist, einem Sinn fur das Ziel, bestimmt, den er hier niemals finden konnte. Jedem das Seine, dachte er, und die Pathologie den Pathologen.

Es war noch etwas anderes an der Pathologie. Man konnte bei ihr den Sinn fur die Wirklichkeit verlieren, das Bewu?tsein, da? Medizin die Menschen betraf und ihnen diente. Und jetzt dieses Gehirn hier. Seddons wurde sich plotzlich deutlich bewu?t, da? es vor wenigen Stunden noch das Gedankenzentrum eines Mannes gewesen war, der Koordinator seiner Sinne - des Fuhlens, Riechens, Sehens, Schmeckens. Es hatte Gedanken entwickelt, Liebe gekannt, Angst und Triumphe. Gestern, vielleicht heute noch, hatte es den Augen befehlen konnen, zu weinen, dem Mund, zu schwatzen. Der Tote war Ingenieur gewesen, hatte er aus den Krankenpapieren ersehen. Dies war also ein Gehirn, das sich der Mathematik bedient hatte, das Spannungen und Drucke verstand, Konstruktionsmethoden erdachte, vielleicht Hauser gebaut hatte, eine Stra?e, ein Wasserwerk, eine Kathedrale - das Erbe dieses Gehirn fur andere Menschen, die damit leben und es benutzen wurden. Aber was war das Gehirn jetzt? Nicht mehr als eine Gewebemasse, die sterilisiert wurde und nur noch bestimmt war, zerschnitten, untersucht und dann verbrannt zu werden.

Seddons glaubte nicht an Gott, und es war ihm schwer begreiflich, da? gebildete Menschen es konnten. Wissen, Wissenschaft, Denken - je weiter sie fortschritten, desto unglaubwurdiger wurde jede Religion. Er glaubte aber an etwas, das er, weil ihm bessere Worte fehlten, als >den Funken der Menschlichkeit, das Credo des Individuums < bezeichnete. Als Chirurg wurde er es naturlich nicht immer mit Individuen zu tun haben. Er wurde seine Patienten auch nicht immer kennen. Und selbst wenn, wurde es seinem Bewu?tsein entschwinden, wenn er sich auf die technischen Probleme seiner Arbeit konzentrierte. Aber schon vor langem hatte er sich vorgenommen, nie zu vergessen, da? hinter allem ein Patient, ein Individuum stand. Wahrend seiner Studienzeit hatte Seddons beobachtet, wie sich bei anderen eine isolierende Schicht bildete, eine Schutzwand gegen den zu engen Kontakt mit dem einzelnen Patienten. Manchmal geschah es zur Abwehr, war es eine vorsatzliche Isolierung gegen personliche Empfindungen und personliche Anteilnahme. Indessen fuhlte er sich stark genug, um ohne diese Isolierung auszukommen. Au?erdem zwang er sich manchmal, uber das, was er gerade tat, nachzudenken und Selbstgesprache zu fuhren, um sich zu vergewissern, da? die Isolierschicht nicht wuchs. Vielleicht hatte es einige seiner Freunde, die Mike Seddons nur als einen ungehemmten Extrovertierten kannten, uberrascht, wenn sie manche seiner innersten Gedanken erfahren hatten - vielleicht aber auch nicht. Der Verstand, das Gehirn - oder wie man es sonst nennen wollte - ist eine unvorausberechenbare Maschine.

Wie war das bei McNeil? Empfand er etwas? Oder hatte sich auch um den Assistenzarzt der Pathologie eine Schale gebildet? Seddons wu?te es nicht; er nahm es aber an. Und Pearson? Hier hatte er keinen Zweifel. Joe Pearson war durch und durch kalt und klinisch. Trotz seiner gro?en Szene war er wahrend der Jahre in der Pathologie ausgegluht. Seddons sah den alten Mann an. Er hatte das Herz aus der Leiche herausgenommen und untersuchte es sorgfaltig. Jetzt wendete er sich an die Lernschwestern:

»Die Krankengeschichte dieses Mannes zeigt, da? er vor drei Jahren einen ersten Herzanfall erlitt und einen zweiten zu Beginn dieser Woche. Darum wollen wir als erstes die Herzkranzgefa?e untersuchen.« Wahrend die Schwestern gespannt zusahen, offnete Pearson behutsam die Blutgefa?e des Herzmuskels.

»Irgendwo hier sollten wir das Gebiet der Thrombose finden. Ja, da ist es.« Mit der Spitze einer Metallsonde deutete er darauf. Im Hauptzweig der linken koronaren Arterie, einen Zoll vor ihrem Anfang entfernt, hatte er ein halb Zoll gro?es Gerinnsel blo?gelegt. Er hielt das Herz hoch, damit die Madchen es sehen konnten.

»Jetzt wollen wir das Herz selbst untersuchen.« Pearson legte das Organ auf ein Sektionsbrett und schnitt es in der Mitte der Lange nach auf. Er klappte die beiden Halften nebeneinander auf, betrachtete sie und winkte dann die Lernschwestern naher heran. Zogernd traten sie naher.

»Sehen Sie dieses vernarbte Gebiet in dem Muskel?« Pearson deutete auf einige Streifen wei?lichen, faserigen Gewebes in dem Herz, und die Schwestern reckten die Halse uber die klaffende, rote Korperhohle, um besser zu sehen. »Das sind die Folgen des Herzanfalles von vor drei Jahren; ein alter Infarkt, der ausgeheilt ist.«

Nach einer Pause fuhr Pearson fort: »Die Anzeichen fur den letzten Anfall haben wir hier in der linken Herzkammer. Beachten Sie das zentrale blasse Gebiet, das von einer stark durchbluteten Zone umgeben ist.« Er deutete auf einen kleinen, dunkelroten Fleck mit einem hellen Mittelpunkt, der sich von dem rotbraunen Gewebe des ubrigen Herzmuskels abhob.

Pearson wandte sich an den chirurgischen Assistenten: »Stimmen Sie mit mir uberein, Dr. Seddons, da? die Diagnose >Tod infolge Herzthrombose< damit glaubwurdig bestatigt ist?«

»Gewi?«, antwortete Seddons hoflich. Daran besteht kein Zweifel, dachte er. Ein winziges Blutgerinnsel, nicht viel dicker als ein Stuckchen Spaghetti. Das genugte fur das Ende. Er beobachtete, wie der alte Pathologe das Herz beiseite legte.

Vivian war jetzt gefa?ter. Sie glaubte, sich fest in der Hand zu haben. Am Anfang, als sie sah, wie die Sage in den Schadel des toten Mannes schnitt, hatte sie bemerkt, wie ihr das Blut aus dem Kopf wich, wie ihr Bewu?tsein verschwamm. Sie spurte, da? sie dicht vor einer Ohnmacht stand, war aber fest entschlossen, nicht schwach zu werden. Ohne jeden Grund erinnerte sie sich plotzlich an ein Erlebnis aus ihrer Kindheit. In den Ferien war ihr Vater tief in den Waldern Oregons in ein offenes Jagdmesser gefallen und hatte sich am Bein schwer verletzt. Uberraschenderweise erlitt der kraftige Mann bei dem Anblick seines eigenen, hervorquellenden Blutes einen Schwacheanfall, und ihre Mutter, die sich in ihrem Wohnzimmer im allgemeinen sicherer und heimischer fuhlte als im Wald, zeigte plotzlich eine unerwartete Starke. Sie hatte am Bein abgebunden, den Blutstrom gestillt und Vivian schnell fortgeschickt, um Hilfe zu holen. Wahrend Vivians Vater dann auf einer improvisierten Bahre aus Zweigen durch den Wald getragen wurde, lockerte sie alle halbe Stunde die Bandage, um die Durchblutung des Beines im Gang zu halten, zog sie dann wieder fest an, um die Blutung zu stillen. Spater hatten die Arzte gesagt, dadurch habe sie das Bein vor der Amputation gerettet. Vivian hatte dieses Erlebnis langst vergessen, aber als sie sich jetzt daran erinnerte, empfand sie neue Kraft. Nun war sie sicher, da? es fur sie kein Problem mehr sei, bei einer Obduktion zuzusehen.

»Irgendeine Frage?« kam es von Dr. Pearson.

Vivian hatte eine. »Die Organe, die Sie aus dem Korper entfernen, was geschieht spater mit ihnen,

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