schon am Vormittag aufgefallen war, hob Rufus aus den umstehenden Kollegen heraus. »Ist Joe noch nicht hier?« ODonnell schien uberrascht, wahrend er seinen Blick durch den Raum schweifen lie?.

»Hat jemand Joe Pearson gesehen?« fragte er. Ein paar der Kollegen schuttelten den Kopf.

Einen Augenblick verzog O'Donnell mi?mutig sein Gesicht. Dann beherrschte er sich. Er ging auf die Tur zu. »Wir konnen die Konferenz nicht ohne den Pathologen beginnen. Ich werde nachsehen, was ihn abgehalten hat.« Aber ehe er die Tur erreichte, trat Pearson ein.

»Wir wollten gerade nach Ihnen suchen, Joe.« O'Donnells Ton war freundlich, und Lucy fragte sich, ob sie sich geirrt hatte, als sie eine kurze Gereiztheit an ihm zu bemerken glaubte.

»Hatte eine Obduktion. Dauerte langer, als ich dachte. Dann holte ich mir schnell noch ein Sandwich.« Pearsons Worte klangen undeutlich, hauptsachlich weil er zwischen den Worten kaute. Vermutlich das Sandwich, dachte Lucy. Dann sah sie, da? Pearson den Rest seines Sandwichs in eine Papierserviette gewickelt mit einem Sto? Papieren und Akten trug. Sie lachelte. Nur Joe Pearson konnte es sich erlauben, kauend zu einer Konferenz der Sterbefalle zu erscheinen.

O'Donnell stellte Hilton Pearson vor. Wahrend die beiden Manner sich die Hande schuttelten, entglitt Pearson einer seiner Aktendeckel - und ein Sto? Papiere verstreute sich uber den Boden. Grinsend sammelte Bill Rufus sie ein und schob den Aktendeckel Pearson wieder unter den Arm. Pearson nickte zum Dank und sagte dann unvermittelt zu Hilton: »Chirurg?«

»Ja, Sir«, antwortete Hilton hoflich. Ein guterzogener junger Mann, dachte Lucy. Er zeigt vor alteren Leuten Respekt.

»Neuer Nachschub fur die Knochenschlosser also«, sagte Pearson. Auf seine laut und scharf gesprochenen Worte legte sich eine plotzliche Stille uber den Raum. Im allgemeinen ware die Bemerkung als Scherz hingenommen worden, Pearsons Ton schien aber irgendwie eine Spitze, einen Anklang an Verachtung zu enthalten.

Hilton lachte. »So kann man es nennen«, antwortete er, aber Lucy erkannte, da? Pearsons Ton ihn uberraschte.

»Machen Sie sich nichts aus Joes Scherzen«, sagte O'Donnell gutmutig. »Er hat etwas gegen Chirurgen. Nun? Konnen wir jetzt beginnen?«

Sie traten an den langen Tisch, die alteren des Arztestabes nahmen automatisch die Stuhle an dem Tisch ein, die anderen setzten sich in die hintere Reihe. Lucy selbst sa? vorn. O'Donnell hatte den Platz am Kopfende des Tisches inne, Pearson mit seinen Papieren sa? links von ihm. Wahrend die anderen Platz nahmen, sah sie, wie Pearson wieder von seinem Sandwich abbi?. Er gab sich nicht die Muhe, es unauffallig zu tun.

Weiter unten am Tisch bemerkte sie Charlie Dornberger, einen der Geburtshelfer am Three Counties Hospital. Er stopfte sich andachtig und sorgfaltig seine Pfeife. Immer wenn Lucy Dr. Dornberger sah, schien er seine Pfeife entweder zu stopfen oder zu reinigen oder anzuzunden. Zu rauchen schien er sie selten. Dornberger gegenuber sa? Gil Bartlett und neben ihm Dingdong Bell von der Rontgenabteilung und John McEwan. McEwan mu?te heute an einem Fall interessiert sein, denn der Hals-, Nasen- und Ohrenspezialist nahm ublicherweise nicht an den chirurgischen Konferenzen teil.

»Wir wollen beginnen, meine Herren.« Wahrend O'Donnell den Tisch entlang sah, verstummten die letzten Unterhaltungen. Er blickte in seine Notizen. »Der erste Fall. Samuel Lobitz, wei?, mannlich, funfunddrei?ig Jahre alt. Dr. Bartlett, bitte.«

Gil Bartlett, wie immer untadelhaft gekleidet, schlug sein Notizbuch auf. Unwillkurlich fixierte Lucy den gestutzten Bart, wartete darauf, da? er sich in Bewegung setzen wurde. Fast sofort begann er auf- und abzuwippen. Mit ruhiger Stimme fing Bartlett an: »Der Patient wurde am 12. Mai an mich

uberwiesen.«

»Etwas lauter, Gil.« Die Bitte kam vom anderen Ende des Tisches.

Bartlett hob seine Stimme etwas. »Ich will es versuchen. Aber vielleicht gehen Sie nachher mal zu Dr. McEwan.« Ein Gelachter lief um den Tisch, dem sich der Hals-, Nasen- und Ohren-Mann anschlo?.

Lucy beneidete alle, die bei diesen Sitzungen unbefangen sein konnten. Sie war es nie, besonders dann nicht, wenn einer ihrer eigenen Falle besprochen wurde. Es war fur jeden eine Belastung, seine Diagnose darzulegen und die Behandlung eines Patienten zu schildern, der gestorben war, anschlie?end die Meinungen anderer und schlie?lich den Obduktionsbefund des Pathologen anzuhoren. Und Joe Pearson schonte niemals jemanden.

Es gab ehrliche Fehler, die jedem Mediziner unterlaufen konnten - selbst wenn es mitunter Fehler waren, die dem Patienten das Leben kosteten. Nur wenige Arzte konnten im Laufe ihrer Tatigkeit diesen Fehlern vollig entgehen. Das wichtigste war, daraus zu lernen und den gleichen Fehler nicht zu wiederholen. Das war der Grund, weshalb diese Konferenzen uber die Sterbefalle abgehalten wurden: damit jeder, der daran teilnahm, daraus lernte.

Gelegentlich waren die Fehler unentschuldbar, und man konnte es immer spuren, wenn ein derartiger Fall bei den monatlichen Zusammenkunften zur Sprache kam. Dann herrschte ein unbehagliches Schweigen, und man vermied, einander anzusehen. Selten kam es zu offener Kritik, weil sie uberflussig war, und ferner, weil keiner wissen konnte, wann er selbst ihr einmal unterworfen werden wurde.

Lucy erinnerte sich an einen Vorfall, der einen angesehenen Chirurgen an einem anderen Krankenhaus betraf, in dem sie fruher tatig gewesen war. Der Chirurg operierte einen Patienten im Unterleib, weil er den Verdacht auf Krebs an den Verdauungsorganen hegte. Als er das erkrankte Gebiet erreichte, kam er zu der Ansicht, da? der Fall nicht mehr zu operieren sei, und statt zu versuchen, die Geschwulst zu entfernen, stellte er eine neue Verbindung des Dunndarms zum Dickdarm her, um die Geschwulst zu umgehen. Drei Tage spater war der Patient tot, und bei der Obduktion zeigte sich, da? uberhaupt kein Krebs vorlag. Der Blinddarmfortsatz des Patienten war durchgebrochen und hatte einen Absze? verursacht. Der Chirurg hatte das nicht erkannt und dadurch den Mann zum Tode verurteilt. Lucy wurde nie die entsetzte Totenstille vergessen, mit der der Bericht des Pathologen aufgenommen worden war.

Uber Falle dieser Art dringt naturlich nie etwas an die Offentlichkeit. Das sind Augenblicke, in denen sich die Mediziner fest zusammenschlie?en. Aber in guten Krankenhausern ist es damit nicht getan. Im Three Counties Hospital fuhrte O'Donnell jetzt mit jedem, der sich derartiges zuschulden kommen lie?, ein Gesprach unter vier Augen, und wenn es ein boser Fall war, wurde der Schuldige fur einige Zeit streng kontrolliert. Lucy selbst hatte nie ein derartiges Gesprach fuhren mussen, aber sie hatte gehort, da? der Chef der Chirurgie hinter verschlossenen Turen au?erordentlich scharf werden konnte.

Gil Bartlett berichtete weiter: »Der Fall wurde mir von Dr. Cymbalist uberwiesen.« Lucy wu?te, da? Cymbalist ein praktischer Arzt in Burlington war, der selbst nicht zum Three Counties Hospital gehorte. Auch ihr selbst waren von ihm schon Patienten uberwiesen worden.

»Dr. Cymbalist rief mich zu Hause an«, sagte Bartlett, »und teilte mir mit, er vermute ein durchgebrochenes Magengeschwur. Die von ihm beschriebenen Symptome schienen seine Diagnose zu bestatigen. Inzwischen befand sich der Patient in einem Krankenwagen auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich rief den diensthabenden Assistenzarzt in der Chirurgie an und benachrichtigte ihn von dem Eintreffen des Patienten.«

Dr. Bartlett sah in seine Notizen. »Ich selbst sah den Patienten ungefahr eine halbe Stunde spater. Er hatte starke Schmerzen im Oberbauch und befand sich im Schockzustand. Sein Blutdruck war siebzig uber vierzig. Er war aschgrau und von kaltem Schwei? bedeckt. Ich verordnete eine Transfusion, um dem Schock entgegenzuwirken, und Morphium. Bei der Untersuchung erwies sich der Leib als hart und als schmerzempfindlich bei Druck.«

Bill Rufus fragte: »Haben Sie eine Durchleuchtung des Brustkorbes vorgenommen?«

»Nein. Der Patient erschien mir zu krank, um ihn erst noch in die Rontgenabteilung zu schaffen. Ich stimmte mit Dr. Cymbalists Diagnose auf ein durchgebrochenes Magengeschwur uberein und entschlo? mich, sofort zu operieren.«

»Uberhaupt keine Zweifel, Doktor?« Diesmal kam die Zwischenfrage von Pearson. Bisher hatte der Pathologe in seine Papiere gesehen. Jetzt wandte er sein Gesicht Bartlett zu.

Einen Augenblick zogerte Bartlett, und Lucy dachte: Etwas ist hier falsch. Die Diagnose war ein Irrtum, und Joe Pearson wartet darauf, eine Falle zuschlagen zu lassen. Dann fiel ihr ein, da? alles, was Pearson wu?te, inzwischen auch Bartlett wissen mu?te, es ihn also nicht mehr uberraschen konnte. Auf jeden Fall hatte Bartlett vermutlich der Obduktion beigewohnt. Das taten die meisten gewissenhaften Chirurgen, wenn einer ihrer Patienten starb. Nach der kurzen Pause fuhr der Chirurg unbeirrt fort:

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