Augen sah. Sollte er trotz allem etwas Warme, etwas Menschlichkeit besitzen?

»Wenn Sie Argumente benotigen«, fuhr Pearson fort, »um jemand von der Notwendigkeit einer Obduktion zu uberzeugen, dann werden Sie sich hoffentlich daran erinnern, was Sie heute hier gesehen haben, und es als Beispiel anfuhren.«

Wahrend er sprach, hatte er seine Zigarre angezundet und deutete mit ihr auf den Tisch. »Dieser Mann litt seit vielen Monaten an Tuberkulose. Es besteht die Moglichkeit, da? er andere in seiner Umgebung angesteckt hat - seine Familie, die Menschen, mit denen er arbeitete, selbst jemanden in diesem Krankenhaus. Ohne diese Obduktion bliebe vielleicht unbekannt, ob nicht auch einige dieser Menschen an Tuberkulose erkrankt sind, und ihr Leiden wurde nicht entdeckt, wie bei dem Toten hier, bis es zu spat ist.«

Zwei der Lernschwestern zogen sich instinktiv vom Tisch zuruck.

Pearson schuttelte den Kopf. »Innerhalb vernunftiger Grenzen besteht hier keine Infektionsgefahr. Tuberkulose ist eine Erkrankung der Atmungsorgane. Aber auf Grund dessen, was wir heute gefunden haben, werden die Leute, die mit diesem Mann in enger Beruhrung standen, genau untersucht und mehrere Jahre lang in regelma?igen Abstanden streng kontrolliert werden.«

Zu seiner eigenen Uberraschung entdeckte Seddons, da? Pearsons Worte ihn bewegten. Das hat er gut gesagt, dachte er. Und was mehr ist, er glaubt selbst an seine Worte. In diesem Augenblick fand er, da? er den alten Mann leiden konnte.

Als ob Pearson Seddons Gedanken erraten hatte, sah er zu dem Chirurgen hinuber. Mit einem spottischen Lacheln fugte er hinzu: »Auch die Pathologie kennt ihre Siege, Dr. Seddons.«

Er nickte den Schwestern zu. Dann war er verschwunden und lie? eine Wolke Zigarrenrauch hinter sich zuruck.

IV

Die monatliche Konferenz uber die chirurgischen Sterbefalle war fur zwei Uhr drei?ig angesetzt. Drei Minuten vor der Zeit trat Dr. Lucy Grainger, etwas verhetzt, als ob die Zeit gegen sie arbeite, in den Vorraum der Verwaltungsabteilung. »Komme ich zu spat?« fragte sie die Sekretarin am Empfangstisch.

»Es hat, glaube ich, noch nicht angefangen, Dr. Grainger. Sie sind gerade erst in den Sitzungssaal gegangen.« Das Madchen wies auf eine eichene Doppeltur an der anderen Seite des Raumes, und als Lucy auf die Tur zuging, vernahm sie gemurmelte Unterhaltung dahinter.

Als sie den gro?en Raum mit dem dicken Teppich, dem langen Nu?baumtisch und den geschnitzten Stuhlen betrat, fand sie sich neben Kent O'Donnell und einem jungeren Mann, den sie nicht kannte. Ringsherum erklang das Stimmengewirr von Gesprachen, und die Luft war dick von Tabakrauch. Die Teilnahme an der monatlichen Konferenz der Sterbefalle galt im allgemeinen als Pflicht, und die meisten der uber vierzig Chirurgen des Krankenhauses waren bereits anwesend, ebenso die festangestellten Assistenzarzte und Praktikanten.

»Lucy.« Sie lachelte zwei Kollegen gru?end zu und wandte sich nach O'Donnell um, der sie angerufen hatte. Er brachte den jungeren Mann mit sich.

»Lucy, ich mochte Sie mit Dr. Roger Hilton bekannt machen. Er ist gerade bei uns eingetreten. Sie erinnern sich vielleicht, seinen Namen schon gehort zu haben.«

»Ja, ich erinnere mich.« Sie lachelte Hilton zu.

»Dies ist Dr. Grainger.« O'Donnell legte immer Wert darauf, neue Mitglieder des Arztestabes bekannt zu machen. Er fugte hinzu: »Lucy ist orthopadische Chirurgin bei uns.«

Sie reichte Hilton ihre Hand, und er ergriff sie. Sein Handedruck war fest, sein Lacheln jungenhaft. Sie schatzte ihn auf siebenund zwanzig. »Falls Sie es nicht schon zu oft gehort haben«, sagte sie, »herzlich willkommen.«

»Offen gesagt, ich hore es gern.« Hilton sah sich um, als ob es ihm hier gefiele.

»Ist das Ihre erste Stellung an einem Krankenhaus?«

Hilton nickte. »Ja. Ich war vorher chirurgischer Assistent im Michael Reese.«

Jetzt erinnerte sich Lucy genauer. Hilton war ein Mann, um den O'Donnell sich sehr bemuht hatte, ihn nach Burlington zu bekommen, und das bedeutete zweifellos, da? Hilton hohe Qualifikationen besa?.

»Kommen Sie einen Moment mit mir, Lucy.« Kent O'Donnell war unmittelbar hinter sie getreten und winkte ihr.

Sie entschuldigte sich bei Hilton und folgte dem Chef der Chirurgie zu einem der Fenster des Konferenzsaales, wo sie nicht unmittelbar neben anderen standen.

»Hier ist es etwas besser. Zumindest kann man sich verstandlich machen.« O'Donnell lachelte. »Wie geht es Ihnen, Lucy? Au?er im Dienst habe ich Sie schon lange nicht mehr gesehen.«

Sie schien zu uberlegen. »Nun, mein Puls ist normal, die Temperatur um 36,9, den Blutdruck habe ich in der letzten Zeit nicht gemessen.«

»Warum lassen Sie mich das nicht tun?« fragte O'Donnell. »Bei einem Abendessen zum Beispiel.«

»Halten Sie das fur klug? Womoglich lassen Sie den Blutdruckmesser in die Suppe fallen.«

»Begnugen wir uns also mit dem Essen und lassen das andere.«

»Herzlich gern, Kent«, antwortete Lucy. »Aber ich mu? erst in meinem Terminkalender nachsehen.«

»Tun Sie das. Ich rufe Sie an. Versuchen wir, es irgendwann nachste Woche zu schaffen.« O'Donnell legte seine Hand leicht auf ihre Schulter, ehe er sich abwendete. »Es wird wohl Zeit, mit der Vorstellung zu beginnen.«

Wahrend Lucy ihm nachsah, wie er sich durch die Gruppen der Arzte zu dem Mitteltisch drangte, dachte sie nicht zum erstenmal daran, wie sehr sie Kent O'Donnell bewunderte, als Kollegen sowohl wie als Mann. Die Einladung zum Abendessen war keine Uberraschung. Sie hatten fruher schon manchmal einen Abend zusammen verbracht, und eine Zeitlang hatte sie sich gefragt, ob sich daraus vielleicht stillschweigend ein Verhaltnis entwickeln wurde. Beide waren unverheiratet, und Lucy war mit ihren funfunddrei?ig sieben Jahre junger als der Chef der Chirurgie. Aber O'Donnell hatte durch sein Verhalten nicht erkennen lassen, da? er in ihr mehr als eine angenehme Gesellschafterin sah.

Lucy selbst hatte das Gefuhl, da? aus ihrer Bewunderung fur O'Donnell etwas Tieferes und Personlicheres erwachsen konne, wenn sie es zulie?e. Sie hatte aber nicht versucht, die Entwicklung voranzutreiben, weil sie es fur richtiger hielt, den Dingen so, wie sie kamen, ihren Lauf zu lassen, und falls sich nichts ergab - nun, dann war auch nichts verloren.

Das war zumindest einer der Vorzuge der Reife gegenuber dem ersten Uberschwang der Jugend. Man lernte, nichts erzwingen zu wollen, und entdeckte, da? das Ende des Regenbogens viel weiter entfernt als nur hinter der nachsten Stra?enkreuzung liegt.

»Wollen wir beginnen, meine Herren?« O'Donnell hatte das Kopfende des Tisches erreicht und erhob seine Stimme uber das Geplauder der Anwesenden. Auch er freute sich uber den kurzen Wortwechsel mit Lucy und fand den Gedanken, da? er bald wieder mit ihr zusammen sein sollte, angenehm. Tatsachlich hatte er sie gern schon langst angerufen, aber sein Zogern hatte einen Grund. Die Wahrheit war, da? sich Kent O'Donnell mehr und mehr von Lucy angezogen fuhlte, sich aber nicht vollig sicher war, ob das fur beide gut sei.

Mit den Jahren hatte seine Lebensweise ein ziemlich festes Schema angenommen. Mit der Zeit gewohnt man sich daran, allein zu leben und unabhangig zu sein, und manchmal bezweifelte er, ob er sich noch in etwas anderes einfugen konne. Er vermutete, da? fur Lucy ahnliches zutreffe, und auch aus ihrer gleichartigen Berufstatigkeit mochten sich Probleme ergeben. Nichtsdestoweniger fuhlte er sich in ihrer Gegenwart wohler als in der irgendeiner anderen Frau, die er kannte. Sie besa? eine gro?e seelische Warme - in seinen Gedanken hatte er sie einmal als Herzensgute bezeichnet -, die gleichzeitig entspannend und anregend wirkte. Und er wu?te, da? es andere Menschen gab, insbesondere Lucys Patienten, auf die sie die gleiche Wirkung ausubte.

Dabei war Lucy eine charmante Frau. Sie besa? eine echte, reife Schonheit, die sehr anziehend war. Als er sie jetzt beobachtete - sie war stehengeblieben, um mit einem der Assistenten zu sprechen -, sah er, wie sie die Hand hob und ihr Haar aus ihrem Gesicht schob. Sie trug es kurz; in weichen Wellen umrahmte es ihr Gesicht und war fast golden. Er bemerkte allerdings auch ein paar ergrauende Strahnen. Nun, das schien die Medizin beinahe jedem anzutun. Aber es erinnerte ihn daran, da? die Jahre vergingen. War es falsch von ihm, diese Angelegenheit nicht energischer zu betreiben? Hatte er lange genug gewartet? Nun, er wollte sehen, wie das Abendessen mit ihr in der nachsten Woche verlief.

Das Geplauder war nicht verstummt, und dieses Mal wiederholte er seine Aufforderung, mit der Sitzung zu beginnen, lauter.

Bill Rums rief ihm zu: »Ich glaube nicht, da? Joe Pearson schon hier ist.« Die grelle Krawatte, die O'Donnell

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