unfahig war.

Lucy fragte sich nicht zum erstenmal, wie viele von Joe Pearsons Zensuren gelegentlich auf personlichen Motiven beruhten. Heute war Joe Pearson gegen Gil Bartlett ungehobelter vorgegangen, als sie es je bei einer Sterblichkeitskonferenz erlebt hatte, obwohl es sich weder um ein fahrlassiges Versehen handelte noch Bartlett haufig Irrtumer unterliefen. Er hatte am Three Counties Hospital manche gute Arbeit geleistet, besonders bei verschiedenen Krebsformen, die man noch vor kurzer Zeit fur unoperierbar hielt.

Pearson wu?te das naturlich auch. Warum also diese Feindschaft? War der Grund, da? Gil Bartlett in der Medizin etwas darstellte, worum Pearson ihn beneidete und was er nie erreicht hatte? Sie sah uber den Tisch zu Bartlett hinuber. Seine Zuge waren starr; er hatte seine Erregung noch nicht uberwunden. Im allgemeinen war er gelassen, umganglich, liebenswurdig, alles Eigenschaften, die man bei einem erfolgreichen Mann von Anfang Vierzig erwarten konnte. Gil Bartlett und seine Frau waren bekannte Erscheinungen in der Burlingtoner Gesellschaft. Lucy hatte erlebt, wie unbefangen er auf Cocktailpartys und in den Heimen seiner reichen Patienten auftrat. Seine Praxis ging sehr gut. Lucy vermutete, da? sein jahrliches Einkommen bei funfzigtausend Dollars lag.

War das der Punkt, der Joe Pearson stach? Jenen Joe Pearson, der nie neben dem Glanz eines Chirurgen standhalten konnte? Dessen Arbeit wichtig war, aber undramatisch verlief? Der einen Zweig der Medizin gewahlt hatte, der selten an das Licht der Offentlichkeit gelangt? Lucy selbst hatte Leute fragen horen: »Was macht ein Pathologe eigentlich?« Niemand fragte jemals: »Was macht ein Chirurg?« Sie wu?te, da? es Leute gab, die einen Pathologen fur eine Art medizinischen Assistenten hielten, die nicht wu?ten, da? ein Pathologe zunachst einmal ein Arzt mit einem vollen, abgeschlossenen medizinischen Studium sein mu?, ehe er die zusatzlichen Ausbildungsjahre auf sich nehmen kann, um ein hochqualifizierter Spezialist zu werden.

Auch das Geld war manchmal ein wunder Punkt. Im Stab des Three Counties Hospitals hatte Gil Bartlett die Stellung eines Belegarztes inne, der kein Gehalt von dem Krankenhaus erhielt, sondern von seinen Patienten bezahlt wurde. Lucy selbst und alle anderen Belegarzte waren auf der gleichen Basis Mitglieder des Krankenhausstabes. Aber im Gegensatz dazu war Joe Pearson Angestellter des Krankenhauses, der ein Jahresgehalt von funfundzwanzigtausend Dollars erhielt, ungefahr die Halfte dessen, was ein erfolgreicher Chirurg, der viele Jahre junger war als er, verdienen konnte. Lucy hatte einmal die etwas zynische Zusammenfassung des Unterschiedes zwischen einem Chirurgen und einem Pathologen gelesen:

»Ein Chirurg erhalt funfhundert Dollars dafur, da? er einen Tumor entfernt. Der Pathologe erhalt funf Dollars dafur, da? er den Tumor untersucht, die Diagnose stellt, die Weiterbehandlung empfiehlt und die Zukunft des Patienten voraussagt.«

Lucy selbst kannte in ihrer Zusammenarbeit mit Joe Pearson keine Schwierigkeiten. Aus Grunden, die sie selbst mit Sicherheit nicht nennen konnte, schien er sie zu mogen, und es gab Augenblicke, in denen sie ahnliches empfand und seine Sympathie erwiderte. Das erwies sich manchmal als Hilfe, wenn sie mit ihm uber eine Diagnose sprechen mu?te.

Nun wurde die Diskussion beendet. O'Donnell schlo? die Sitzung. Lucy wendete ihre Aufmerksamkeit wieder ihrer Umgebung zu. Sie hatte wahrend des letzten Falles ihre Gedanken abschweifen lassen. Das war nicht gut. Sie mu?te auf sich selbst aufpassen. Alle hatten sich von ihren Platzen erhoben. Joe Pearson hatte seine Papiere aufgenommen und schlurfte hinaus. O'Donnell hielt ihn an. Sie sah, wie der Chef der Chirurgie den alten Mann auf die Seite zog.

»Kommen Sie einen Augenblick mit hier hinein.« O'Donnell offnete die Tur zu einem kleinen Buro. Es grenzte an den Sitzungssaal und wurde manchmal fur Ausschu?sitzungen verwendet. Jetzt war es unbenutzt. Pearson folgte dem Chef der Chirurgie.

O'Donnell sprach vorsatzlich unbetont. »Joe, ich bin der Ansicht, Sie sollten die Kollegen bei diesen Sitzungen nicht in dieser Weise attackieren.«

»Warum?« Pearsons Frage war geradezu.

Nun gut, dachte O'Donnell, wenn Sie es so haben wollen. Laut sagte er: »Weil es zu nichts fuhrt.« Er gab seiner Stimme einen scharfen Ton. Im allgemeinen brachte er den Altersunterschied zum Ausdruck, wenn er mit dem alten Mann sprach, aber in diesem Augenblick mu?te er seine eigene Autoritat wahren. Wenn O'Donnell auch als Chef der Chirurgie keine unmittelbare Kontrolle uber Pearsons Tatigkeit ausubte, so besa? er doch gewisse Vorrechte, wenn sich die Arbeit der Pathologie auf seinen eigenen Bereich bezog.

»Ich habe eine falsche Diagnose klargestellt. Das ist alles.« Jetzt war Pearson selbst aggressiv. »Wollen Sie sagen, da? wir uber derartige Dinge schweigen sollen?«

»Sie wissen selbst, wie unsinnig diese Frage ist.« O'Donnells Antwort klang scharf, er bemuhte sich diesmal nicht, die harte Kalte in seiner Stimme zu mildern. Er sah, wie Pearson zogerte, und nahm an, da? der alte Mann erkannte, er sei zu weit gegangen.

Knurrend raumte Pearson ein: »So habe ich es auch nicht gemeint.«

Gegen seinen Willen lachelte Kent O'Donnell. Sich zu entschuldigen fiel Joe Pearson nicht leicht. Diese Au?erung mu?te ihn einiges gekostet haben. Etwas ruhiger fuhr O'Donnell fort: »Ich meine, da? es bessere Methoden gibt, Joe. Wenn Sie damit einverstanden sind, bin ich dafur, da? Sie bei den Konferenzen den Obduktionsbefund bekanntgeben und es mir uberlassen, die anschlie?ende Diskussion zu leiten. Ich glaube, wir konnen dann diskutieren, ohne da? jemand herausgefordert wird.«

»Ich sehe nicht ein, warum sich jemand herausgefordert sah.«

Pearson knurrte immer noch, aber O'Donnell bemerkte, da? er nachgab.

»Wie dem auch sei, Joe. Ich mochte die Sitzungen auf meine Weise leiten.« Ich will ihm nicht zu hart zusetzen, dachte O'Donnell, aber diesmal mu? ich ihm die Lage eindeutig klarmachen.

Pearson hob die Schultern. »Wenn Sie es unbedingt wollen.«

»Danke, Joe.« O'Donnell erkannte, da? er gewonnen hatte. Es war leichter gegangen, als er erwartet hatte. Vielleicht war das eine gunstige Gelegenheit, eine andere Frage aufzuwerfen. »Da wir schon zusammen sind, Joe, ich habe noch etwas.«

»Ich habe viel zu tun. Hat das nicht Zeit?« Als Pearson antwortete, konnte O'Donnell fast seine Gedanken lesen. Der Pathologe brachte klar zum Ausdruck, da? er seine Unabhangigkeit nicht aufgegeben hatte, weil er in diesem einen Punkt nachgab.

»Meiner Ansicht nach nicht. Es handelt sich um die pathologischen Befunde.«

»Was ist damit?« Pearsons Reaktion war aggressive Abwehr.

Kuhl fuhr O'Donnell fort: »Ich habe Beschwerden erhalten. Es dauert bei manchen Berichten zu lange, bis sie von der Pathologie heraufkommen.«

»Rufus wahrscheinlich.« Pearson war unverkennbar verbittert. Man konnte ihn fast denken horen: Noch so ein Chirurg, der Schwierigkeiten macht.

O'Donnell war entschlossen, sich nicht provozieren zu lassen. Ruhig erwiderte er: »Bill Rufus auch. Aber es waren noch andere. Das wissen Sie, Joe.«

Einen Augenblick antwortete Pearson nicht, und ODonnell ging es durch den Kopf, da? ihm der alte Mann in gewisser Weise leid tue. Die Jahre verstrichen. Pearson war jetzt Sechsundsechzig. Im gunstigsten Falle standen ihm noch funf oder sechs aktive Jahre bevor. Manche Menschen unterwerfen sich unvermeidlichen Veranderungen, finden sich damit ab, da? Jungere aufsteigen und die Fuhrung ubernehmen. Aber nicht Pearson, und er gab seinen Widerstand klar zu erkennen. O'Donnell fragte sich, was hinter dieser Haltung stehe. Fuhlte er, da? er nachlie?, da? er nicht in der Lage war, mit den jungsten Entwicklungen in der Medizin Schritt zu halten? Falls das zutraf, war er nicht der erste. Und trotzdem sprach bei all seiner Kratzburstigkeit vieles fur Joe Pearson. Das war einer der Grunde fur O'Donnells behutsames Vorgehen.

»Ja, ich wei? es.« Pearsons Antwort hatte einen resignierten Unterton. Mit der Tatsache hatte er sich also abgefunden. Das ist fur ihn typisch, dachte O'Donnell. Von Anfang an hatte er im Three Counties Hospital Pearsons Gradheit geschatzt und sie mitunter benutzt, um den Standard der Chirurgie zu heben.

O'Donnell erinnerte sich, da? zu den Problemen, denen er in der Anfangszeit an dem Krankenhaus gegenuberstand, gehorte, unnotige Operationen auszuschalten. Unter diese Bezeichnung fiel eine unnaturlich gro?e Zahl von Hysterectomien. Und in zu vielen Fallen waren von den Chirurgen des Krankenhauses eine gesunde, normale Gebarmutter entfernt worden. Das geschah durch Arzte, die im Operieren eine bequeme und gewinnbringende Methode sahen, weibliche Beschwerden aller Art zu heilen, selbst in Fallen, die durch Medikamente behandelt werden konnten. In diesen Fallen griff man zu beschonigenden Diagnosen, wie >chronische Myometritis< oder >Fibrose des Uterusc, und benutzte sie als Nebelwand, um den Befund der

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