Er schob die Schnur beiseite, vermutlich um sie spater noch zu untersuchen, wickelte das Papier vom Stein ab und strich es dann auf der Tischflache glatt.

»Sieht aus wie eine Warnung«, sagte er zu Crowe und begann laut vorzulesen.

Wir haben euren Jungen. Hort auf, uns zu nachzustellen, und versucht nicht, uns weiter zu verfolgen. Wenn ihr uns in Ruhe lasst, bekommt ihr ihn zuruck – in einem Stuck und unversehrt. Tut ihr’s nicht, kriegt ihr ihn mehrere Wochen lang in Einzelteilen wieder. Ihr seid gewarnt.

Crowe hielt Virginia in den Armen. »Offensichtlich denken sie, dass Matty mein Sohn ist«, sagte er. »Vermutlich weil sie ihn gemeinsam mit Ginny auf dem Pferd gesehen haben. Aber sie werden ihren Irrtum bemerken, sobald sie ihn sprechen horen.«

»Nicht unbedingt«, widersprach Mycroft. »Schlie?lich wissen sie nicht, wie lange Sie schon hier in England sind. Und vermutlich sind sie sich noch nicht einmal daruber im Klaren, dass Sie Amerikaner sind. Ich glaube vielmehr, dass unser junger Matty im Moment eher weniger zu befurchten hat. Aber zuruck zur Nachricht. Lassen sich daraus irgendwelche Hinweise entnehmen?«

»Vergesst doch die blode Nachricht! Wir mussen hinter ihnen her!«, schrie Sherlock.

»Der Junge hat recht«, brummte Crowe. »Es gibt Zeiten fur Analysen und Zeiten fur Taten. Dies ist eindeutig eine fur Taten.« Er schob Virginia sanft von sich. »Du bleibst hier. Ich werde sie verfolgen.«

»Und ich komme mit«, verkundete Sherlock entschlossen. Als Crowe den Mund aufmachte, um zu protestieren, fugte er hinzu: »Matty ist mein Freund, und ich habe ihm die ganze Sache eingebrockt. Und au?erdem konnen wir zu zweit ein viel gro?eres Gebiet absuchen.«

Crowe blickte zu Mycroft hinuber, der durch ein unmerkliches Nicken zu verstehen gegeben haben musste, dass er einverstanden war. Denn gleich darauf fuhr der Amerikaner fort: »Okay, junger Mann. Dann mal auf die Pferde. Wir reiten gleich los.«

Crowe steuerte auf die Hintertur zu, und Sherlock folgte.

Als sie nach drau?en kamen, sah Sherlock zwei Pferde im Hof. Mit ihrem Halfter an einem Holzpfosten festgebunden, warteten sie geduldig vor einem kleinen Stall. Eines davon war fertig gesattelt. Sherlock erkannte das Tier. Es war Crowes Pferd. Das andere, eine schone braune Fuchsstute, hatte er jedoch noch nie gesehen.

Crowe wies nickend auf die Stute, als er Sherlocks fragenden Blick bemerkte. »Die Fuchsstute gehort eigentlich unserem Vermieter. Virginia und ich haben sie in Pflege genommen und versprochen, sie von Zeit zu Zeit zu bewegen. Du kannst sie nehmen. Im Stall findest du einen Sattel.«

Ohne ein weiteres Wort machte Crowe sich daran, sein Pferd loszubinden, und Sherlock holte rasch den Sattel. Als er schlie?lich auf seinem Pferd sa?, war der ungeduldige Crowe schon um die Ecke des Hauses galoppiert.

Sherlock druckte dem Pferd die Fersen in die Flanken und folgte seinem Lehrer in raschem Galopp.

Hinter einem zarten Wolkenschleier neigte sich die gluhend rote Sonne bereits dem Horizont entgegen. Vor ihm preschte Crowe auf seinem Pferd dahin, und Sherlock gab sich gro?e Muhe, ihn einzuholen. Das Trommeln der auf die Stra?e donnernden Hufe fuhr ihm bis in den Rucken hinauf und erzeugte eine Vibration im Korper, die es ihm schwermachte, richtig Luft zu holen.

Er fragte sich, woher Crowe wohl wusste, in welche Richtung sie mussten. Vermutlich hatte er rasch ein paar Uberlegungen daruber angestellt, auf welcher Stra?e die Manner Farnham am wahrscheinlichsten verlassen wurden, wenn sie auf dem Weg zur Kuste waren. Wollten sie sich nach Amerika einschiffen, wurden sie das am ehesten in Southampton machen. Andererseits konnte Crowe sich durchaus geirrt haben. Denn vielleicht hatten die Manner ja auch vor, mit dem Zug nach Liverpool zu fahren und dort unerkannt im Hafen an Bord zu gehen. Was bedeutete, dass sie Farnham in einer vollig anderen Richtung verlassen wurden. Zum ersten Mal wurde Sherlock so richtig klar, dass man mit Logik manchmal nur bedingt weiterkam und dass sie selten eine einzige Antwort lieferte. Meistens ergaben sich mehrere Moglichkeiten, und man musste mit einer anderen Methode versuchen, die richtige zu finden. Man konnte das Intuition nennen oder Spekulation, auf jeden Fall aber war es keine Logik.

Rechts und links flogen Cottages und Hauser so rasch vorbei, dass sie fur Sherlock kaum voneinander zu unterscheiden waren. Doch in der Ferne konnte er einen gro?en Steinbau ausmachen, der auf einem Hugel thronte und bei dem es sich wohl um die Burg von Farnham handelte.

Trotz der Hitze, die die Erde wahrend des Tages aufgenommen hatte und die nun wieder vom Boden abstrahlte, lie? ihm der an den Ohren vorbeirauschende Wind frosteln. Plotzlich meinte er, die Hufschlage seines eigenen Pferdes noch einmal als Echo zu horen, obwohl es in der Umgebung eigentlich nichts gab, an dem ein Echo hatte zuruckgeworfen werden konnen. Er blickte uber die Schulter und war ganz verblufft, Virginia zu sehen, die, dicht an den Hals ihres Pferdes geschmiegt, hinter ihm hergaloppierte. Sie warf ihm ein breites Grinsen zu, und er grinste zuruck. Eigentlich hatte er wissen mussen, dass nichts und niemand Virginia von so einem Abenteuer abhalten konnte. Sie hatte wirklich absolut gar nichts mit den Madchen gemeinsam, die Sherlock bisher kennengelernt hatte.

Sie galoppierten durch ein kleines Dorfchen.

Vor ihnen auf der Stra?e sprangen einige Dorfbewohner erschrocken auseinander, und Sherlock konnte hinter sich wutende Rufe horen, als sie weiterritten. Dann hatten sie die Siedlung hinter sich gelassen.

Wie lange wurde Crowe wohl noch einfach so weiterreiten, bevor er sich eingestand, dass sie womoglich den falschen Weg eingeschlagen hatten?

Virginia war nun auf gleicher Hohe mit Sherlock. Mit leuchtenden Augen warf sie ihm einen Blick von der Seite zu. Sherlock vermutete, dass sie – ungeachtet der Dringlichkeit ihrer Mission – die Aktion in vollen Zugen genoss. Schlie?lich ritt sie fur ihr Leben gern, und dies war die Chance, zu reiten, wie sie es wohl noch niemals zuvor getan hatte.

Sherlock blickte wieder geradeaus und stutzte. Da weiter vorne, hinter Amyus Crowes gedrungenem Korper und seinem gro?en wei?en Hut, der trotz des rasenden Ritts wundersamerweise irgendwie auf seinem Kopf blieb, nahm er einen Gegenstand wahr, der sich anscheinend bewegte. Sherlock sah genauer hin und erkannte, dass es sich um eine Kutsche handelte. Heftig schaukelte sie hin und her, wahrend sie auf der Stra?e entlangjagte. Im nachsten Augenblick fuhr sie schon so schnell in die Kurve, dass es sekundenlang so aussah, als wurde sie umkippen. Uber der Kutsche glaubte Sherlock die dunne Linie einer Peitsche zu erkennen, die vor- und zuruckzuckte, als der Kutscher die Pferde zu immer gro?eren Anstrengungen trieb. War Matty etwa in der Kutsche? Der Kutscher unternahm offensichtlich alles, was in seiner Macht stand, um das Gefahrt noch schneller uber die Stra?e dahinfliegen zu lassen. Es musste schon ein gro?er Zufall sein, falls es nicht die Amerikaner waren, die sich dort vor ihnen befanden. Denn wer sonst sollte so verzweifelt versuchen, aus Farnham fortzukommen, dass er dabei in Kauf nahm, sich den Hals zu brechen?

Sherlock trieb sein Pferd zu noch gro?erem Tempo an, und das Tier gehorchte. Der Abstand zwischen ihm und Crowe verringerte sich, und er bekam einen besseren Blick auf die Kutsche.

Es handelte sich um ein vierradriges Gefahrt, das von zwei Pferden gezogen wurde. Heftig tanzten die Dampfungsfedern auf und ab, wahrend die Rader uber die unzahligen Furchen, Locher und Bodenwellen ratterten, die die Stra?e bedeckten.

Virginia zog langsam an Sherlocks linker Schulter vorbei. Wieder warf er einen Blick zu ihr hinuber. Sie hatte ihre Zahne entblo?t, was fast wie ein Grinsen aussah, Sherlocks Vermutung nach aber tatsachlich wohl eher so etwas wie ein wutendes Zahnefletschen war.

Sherlock wandte den Blick nach rechts zu Crowe hinuber, den er nun eingeholt hatte. Seine Augen waren auf die Kutsche vor ihm fixiert und verspruhten solch eine vulkanische Glut und Entschlossenheit, dass Sherlock es einen Augenblick lang mit der Angst zu tun bekam. Er hatte Crowe bisher immer als absoluten Gentleman erlebt, fur den die Logik und das Sammeln von Fakten uber allem standen. Aber Virginia hatte Sherlock einmal erzahlt, dass Crowe in Amerika einst eine Art Menschenjager gewesen war. Ein Jager, der seine Beute oft auch tot zuruckbrachte. Jetzt, da er Crowe so vor sich sah, konnte Sherlock sich das zum ersten Mal wirklich vorstellen. Keine Macht der Erde wurde einen Mann mit solch einem Ausdruck in den Augen aufhalten.

Crowe trieb sein Pferd so heftig an, dass diesem mittlerweile Schaum vorm Maul stand, der in winzigen Flocken vom Wind fortgerissen wurde.

Vor ihnen krummte sich die Stra?e in einem Bogen nach rechts, und die Kutsche fuhr in die Kurve, ohne an Geschwindigkeit zu verlieren. Die beiden linken Rader losten sich kurz von der Stra?e, und fast schien es, als wurde die Kutsche jeden Augenblick umsturzen und von den Pferden auf der Seite weitergeschleift werden. Aber die Insassen mussten sich mit ihrem Gewicht nach links geworfen haben, denn plotzlich kippte die Kutsche wieder zuruck, und die Rader krachten auf den Boden.

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