Dann hatten auch Sherlock, Crowe und Virginia die Krummung erreicht. In rasendem Galopp legten sich ihre Pferde in die Kurve, so dass die Hufe trotz der enormen Geschwindigkeit ihren Halt auf dem Untergrund nicht verloren. Als sie wieder aus der Kurve kamen, sah Sherlock plotzlich einen Lastkarren vor sich, der der Kutsche auf der Stra?e entgegenkam und uber und uber mit Bundeln frisch gemahten Grases beladen war. Wild gestikulierend, versuchte der Fahrer die Kutsche zum Ausweichen zu bewegen. Aber schnell schien ihm klargeworden zu sein, dass es bereits zu spat war. Denn im nachsten Moment lenkte er den Karren seitwarts von der Stra?e herunter, wo er schlie?lich in einem Graben landete. In der nachsten Sekunde donnerte die Kutsche an ihm vorbei und verfehlte die Ruckseite des Lastkarrens nur um wenige Zentimeter. Augenblicke spater galoppierten auch Sherlock, Crowe und Virginia voruber. Sherlock warf einen raschen Blick zur Seite, um zu sehen, ob dem Fahrer etwas passiert war. Der stand wild gestikulierend vor dem Karren. Doch dann waren sie auch schon vorbei, und der Mann verschwand hinter ihnen in der Ferne wie eine fluchtige Erinnerung.

Eine Bewegung seitlich an der Kutsche weckte Sherlocks Aufmerksamkeit. Ein Mann lehnte sich mit einer Art Stock in den Handen aus der Kabine. Der Mann richtete den Stock die Stra?e entlang in ihre Richtung, und plotzlich sah Sherlock eine Flamme an dessen Ende aufblitzen. Der Mann hatte ein Gewehr!

Sherlock konnte nicht sagen, wohin die Kugel geflogen war. Die Kutsche hupfte so heftig auf und ab, wahrend sie durch die Dammerung preschte, dass der Schutze sein Ziel unmoglich genau ins Visier nehmen konnte. Aber das bedeutete naturlich nicht, dass nicht einer von ihnen oder eines der Pferde durch Zufall getroffen werden konnte.

Erneut gab der Mann einen Schuss ab, und diesmal glaubte Sherlock, die Kugel sogar horen zu konnen, als sie an ihm vorbeiflog: ein klingendes, sirrendes Gerausch, das an eine wutende Wespe erinnerte.

Crowe spornte sein Pferd zu noch gro?erer Anstrengung an, und einen Moment lang schien es so, als ob er der Kutsche naher kame. Er hielt die Zugel in einer Hand, wahrend er mit der anderen an seinen Gurtel griff. Er zog einen Revolver hervor und richtete ihn auf den Mann, der sich aus der Kutsche herauslehnte. Crowe gab einen Schuss ab. Der Rucksto? riss ihm die Hand nach hinten und versetzte seinen Oberkorper in eine leichte Seitwartsdrehung.

Der Mann mit dem Gewehr hatte sich blitzartig in das Innere der Kutsche zuruckgezogen. Allerdings lie? sich von Sherlocks Position aus nicht feststellen, ob er rechtzeitig reagiert hatte oder verwundet worden war.

Einen Augenblick spater fuhrte sie die wilde Verfolgungsjagd an einem Flussufer entlang, auf dessen Oberflache silberne Funken im letzten Licht der untergehenden Sonne glitzerten.

Plotzlich tauchte der Mann mit dem Gewehr wieder auf. Er lehnte sich auf der gleichen Seite aus der Kutsche wie zuvor, doch dieses Mal wandte er das Gesicht nach vorne. Er richtete die Waffe in Fahrtrichtung und druckte auf den Abzug. Aus der Mundung schoss erneut ein Flammenblitz hervor, der sich im Dammerlicht wie eine exotische Blume entfaltete.

Verwirrt dachte Sherlock einen Moment lang, dass er auf die Pferde schie?en wurde, die die Kutsche zogen. Aber dann wurde ihm klar, dass der Mann uber die Kopfe der Tiere hinweggeschossen hatte, und er begriff: Der Schutze versuchte, sie zu erschrecken, um sie zu noch schnellerem Tempo anzutreiben, und wie es aussah, funktionierte das auch. Der Abstand vergro?erte sich rasch, wahrend die Kutsche mit vollem Tempo auf der Stra?e dahindonnerte. Sherlock war klar, dass sich diese Geschwindigkeit nicht lange aufrechterhalten lie?, denn ihre Pferde wurden rasch erschopft sein. Aber offensichtlich hatten die Manner etwas anderes im Sinn.

Der Schutze verschwand wieder im Kutscheninneren, jedoch nur einen Moment lang. Dann sprang plotzlich die Tur auf, und der Mann hechtete nach drau?en. Sein Sprung war perfekt geplant, und er landete mitten in der weichen Schilfzone, die das Flussufer saumte. Er war zunachst verschwunden, doch die lange Schneise umgeknickter Schilfrohre, die seinen Sturz gebremst hatten, war gut zu verfolgen.

Unsicher, was er nun tun sollte, zugelte Crowe sein Pferd. Doch dann trieb er es wieder an und eilte der Kutsche hinterher, anstatt sich um den Mann zu kummern. Gleich darauf beobachtete Sherlock, wie dieser plotzlich wieder aus dem Schilf auftauchte. Er war triefend nass, und sein Gesicht wies an den Stellen, wo ihm das Schilf beim Sturz die Haut aufgeritzt hatte, Schnittwunden auf.

Er hielt ein Gewehr in den Handen. Er hob es, als Crowe sich naherte, nahm entlang des langen Laufes sorgfaltig Ziel und feuerte.

In dem Moment, als das Mundungsfeuer aufblitzte, warf Crowe die Arme hoch und fiel ruckwarts aus dem Sattel. Er landete mit der rechten Schulter auf der Stra?e und rollte, sich unzahlige Male uberschlagend, durch den Staub, bis er wie ein gefallter Baumstamm reglos liegenblieb. Sein Pferd galoppierte zunachst noch etwas weiter, aber ohne seinen Reiter, der es antrieb, wurde es langsamer und ging allmahlich in den Trab uber. Schlie?lich blieb es stehen und blickte der in der Ferne verschwindenden Kutsche nach, als ob es sich fragen wurde, wozu der ganze Aufruhr eigentlich veranstaltet worden war.

»Vater!«, schrie Virginia. Sie zugelte ihr Pferd so scharf, dass es mit schlitternden Hufen zum Halten kam, und sprang vom Sattel. Ohne auf den Mann mit der Waffe zu achten, der sie beobachtete, rannte sie die Stra?e entlang auf ihren Vater zu.

Dann hob der Mann sein Gewehr.

Die englische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel ›Young Sherlock Holmes – Red Leech‹ bei Macmillan Children’s Books, London, England

Copyright © Andrew Lane 2010

Fur die deutschsprachige Ausgabe:

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012

ISBN 978-3-596-19301-1

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