Gewichten, die an langen Stricken hingen, selber einen uberaus kunstreichen Turoffner, und bald war auch jede Tur im ganzen Hause damit ausgerustet. Ich brauchte nur mit den Vorderpfoten auf ein kleines Holzbrett zu tippen, und -schwups - schon zog sich eine Feder, ein Gewicht wurde ausgelost, und die Tur schwang auf.

Als Nachstes entwickelte sie ein sinnreiches System, mittels dessen ich uberall das Licht anknipsen konnte, wenn ich nachts ein Zimmer betrat. Ich kann nicht erklaren, wie es funktionierte, weil ich nichts von Elektrizitat verstehe, aber in jedem Zimmer des Hauses war neben der Tur ein kleiner Knopf in den Fu?boden eingelassen, und wenn ich meine Pfote auch nur leicht auf den Knopf legte, ging das Licht an.

Wenn ich noch einmal druckte, ging das Licht wieder aus. Meine Gro?mutter machte mir eine winzige Zahnburste. Sie benutzte ein Streichholz als Griff, und da hinein bohrte sie kleine Borstenstucke, die sie von einer ihrer Haarbursten abschnippelte. «Du darfst keine Locher in den Zahnen bekommen», sagte sie. «Ich kann doch eine Maus nicht zum Zahnarzt bringen! Er wurde mich fur verruckt erklaren!»

«Komisch», sagte ich, «aber seit ich eine Maus bin, ist mir der Geschmack von Su?igkeiten und Schokolade zuwider. Deshalb glaub ich, dass ich gar keine Locher kriege.»

«Trotzdem, nach jeder Mahlzeit werden die Zahne geputzt!», befahl meine Gro?mutter, und ich gehorchte ihr. Als Badewanne gab sie mir eine silberne Zuckerschale, und darin badete ich mich jeden Abend, bevor ich zu Bett ging. Sie wollte niemanden mehr im Hause haben, nicht einmal eine Bedienerin oder einen Koch. Wir lebten ganz zuruckgezogen, und einer war mit der Gesellschaft des anderen sehr glucklich und zufrieden. Als ich eines Abends vorm Kaminfeuer auf dem Scho? meiner Gro?mutter lag, sagte sie zu mir: «Ich mochte wirklich wissen, was mit dem kleinen Bruno passiert ist.»

«Es wurde mich nicht wundern, wenn ihn sein Vater dem Portier in die Hand gedruckt hatte, damit er ihn im Loscheimer ertrankt», antwortete ich.

«Ich furchte, du konntest Recht haben», seufzte meine Gro?mutter. «Das arme kleine Ding.»

Wir versanken fur eine Weile in Schweigen, wahrend meine Gro?mutter ihre schwarze Zigarre paffte und ich gemutlich in der Warme vor mich hin doste.

«Kann ich dich etwas fragen, Gro?mama?», sagte ich endlich.

«Du kannst mich alles fragen, was du willst, mein Schatzelchen.»

«Wie lange lebt eine Maus?»

«Aha», erwiderte sie. «Auf diese Frage habe ich schon gewartet.» Wieder herrschte Schweigen. Sie sa? da und rauchte und schaute ins Feuer.

«Na gut», fing ich an. «Wie lange leben wir, wir Mause?»

«Ich habe mich uber Mause informiert», erwiderte sie. «Ich habe versucht, alles uber sie herauszufinden, was es uberhaupt von ihnen zu wissen gibt.»

«Schie? los, Gro?mama. Warum sagst du's mir denn nicht?»

«Wenn du's wirklich wissen willst», sagte sie, «so muss ich dir leider gestehen, dass Mause nicht sehr lange leben.»

«Wie lange?», fragte ich.

«Tja, eine gewohnliche Maus lebt nur ungefahr drei Jahre», erwiderte sie. «Aber du bist keine gewohnliche Maus. Du bist ein Mausemensch, und das ist ganz etwas anderes.»

«Wie anders denn?», fragte ich. «Wie lange lebt ein Mausemensch, Gro?mama?»

«Langer», antwortete sie. «Viel langer.»

«Wie viel langer?», fragte ich.

«Ein Mausemensch wird mit gro?ter Wahrscheinlichkeit dreimal so alt wie eine gewohnliche Maus», sagte meine Gro?mutter. «Ungefahr neun Jahre.»

«Gut!», rief ich. «Das ist gro?artig! Das ist die beste Nachricht, die ich jemals gehort habe.»

«Warum sagst du das?», fragte sie verblufft.

«Weil ich keinen Tag langer leben will als du», entgegnete ich. «Ich konnte es nicht ertragen, wenn sich jemand anders um mich kummerte.»

Danach schwiegen wir wieder eine Weile. Sie hatte eine kostliche Art, mich mit der einen Fingerspitze hinter den Ohren zu kraulen. Man fuhlte sich himmlisch dabei.

«Wie alt bist du, Gro?mama?», fragte ich.

«Ich bin sechsundachtzig», antwortete sie.

«Wirst du noch acht oder neun Jahre leben?» «Das konnte schon sein», erwiderte sie. «Mit ein bisschen Gluck.»

«Das musst du haben», sagte ich. «Denn bis dahin werde ich eine uralte Maus sein, und du wirst eine uralte Gro?mutter sein, und dann konnen wir beide miteinander sterben.» «Das ware ideal», sagte sie.

Danach machte ich ein kleines Nickerchen. Ich schloss nur die Augen und dachte an gar nichts und fuhlte mich im Einklang mit der ganzen Welt.

«Soll ich dir noch etwas von dir erzahlen, etwas sehr Interessantes?», fragte meine Gro?mutter.

«O ja, bitte, Gro?mama», erwiderte ich, ohne die Augen zu offnen.

«Zuerst konnte ich es gar nicht glauben, aber offensichtlich ist es vollkommen wahr», begann sie.

«Was denn?», fragte ich.

«Das Herz einer Maus», sagte sie, «und das bedeutet: Dein Herz schlagt funfhundertmal in der Minute. Ist das nicht fabelhaft?»

«Das ist gar nicht moglich», antwortete ich und riss meine Augen weit auf.

«Es ist so wahr, wie ich hier sitze», sagte sie. «Es ist eine Art von Wunder.»

«Das sind ja fast neun Schlage pro Sekunde», rief ich, nachdem ich es im Kopf ausgerechnet hatte.

«Richtig», antwortete sie. «Dein Herz schlagt so schnell, dass man die einzelnen Schlage unmoglich horen kann. Was man hort, ist ein sanftes Summen.»

Sie trug ein Spitzenkleid, und die Spitze kitzelte mich in der Nase. Ich musste meinen Kopf auf meine Vorderpfoten legen.

«Hast du mein Herz schon mal summen gehort?», fragte ich sie.

«Oft», erwiderte sie. «Ich hore es immer, wenn du nachts dicht neben mir auf dem Kopfkissen liegst.»

Danach blieben wir beide lange Zeit schweigend vorm Feuer sitzen und dachten uber diese wunderbaren Dinge nach.

«Mein Schatzelchen», sagte sie schlie?lich. «Bist du auch ganz bestimmt nicht traurig, dass du fur den Rest deines Lebens eine Maus bleiben musst?»

«Das ist mir ganz egal», antwortete ich. «Es spielt gar keine Rolle, wer man ist oder wie man aussieht, solange einen nur jemand liebt.»

Wir gehen wieder an die Arbeit

An diesem Abend a? meine Gro?mutter ein einfaches Omelette mit einer Scheibe Brot. Ich bekam ein Stuck von diesem braunen norwegischen Ziegenmilchkase, den man Gjetost nennt und den ich schon gerne gegessen hatte, als ich noch ein Junge war. Wir a?en vorm Kaminfeuer, meine Gro?mutter in ihrem Sessel und ich auf dem Tisch, der Kase auf einem kleinen Teller vor mir.

«Gro?mama», sagte ich. «Jetzt haben wir doch die Hoch-und Gro?meister-Hexe erledigt - werden da die anderen Hexen auf der Welt allmahlich verschwinden?»

«Nein, das werden sie ganz bestimmt nicht tun», antwortete sie.

Ich horte auf zu kauen und starrte sie an. «Aber das mussen sie doch!», rief ich. «Das mussen sie sicher!» «Ich furchte nein», wiederholte sie.

«Aber wenn sie nicht mehr da ist, woher kriegen sie denn das viele Geld, das sie brauchen? Und wer gibt ihnen jetzt die Befehle und treibt sie zum Jahrestreffen zusammen und erfindet ihnen ihre Zaubermittel?»

«Wenn eine Bienenkonigin stirbt, gibt es immer eine zweite Biene im Stock, die dazu geschaffen ist, ihren Platz einzunehmen», erklarte meine Gro?mutter. «Mit den Hexen ist es genauso. In dem gro?en Hauptquartier, wo

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