Gro?mama?»

«Ich furchte, du hast Recht», sagte meine Gro?mutter. «Es konnte dir vielleicht auffallen, dass sie ein wenig humpelt, aber nur, wenn du ganz genau darauf achtest.»

«Und das sind die einzigen Unterschiede, Gro?mama?»

«Es gibt noch einen», sagte meine Gro?mutter. «Noch einen einzigen.»

«Was ist das denn, Gro?mama?»

«Ihre Spucke ist blau.»

«Blau!», schrie ich. «Doch nicht blau! Ihre Spucke kann doch nicht blau sein!»

«So blau wie Blaubeeren», wiederholte sie.

«Das ist nicht dein Ernst, Gro?mama! Keiner kann blaue Spucke haben!»

«Hexen wohl», erwiderte sie.

«So wie Tinte?», fragte ich.

«Ganz genau», sagte sie. «Sie pflegen sie sogar zum Schreiben zu benutzen. Sie verwenden diese altmodischen Federhalter mit Stahlfedern, die vorne an der Spitze eine kleine Kuhle haben. Und diese Spitze lecken sie einfach an.»

«Kann man die blaue Spucke erkennen, Gro?mama? Wenn sich eine Hexe zum Beispiel mit mir unterhalt, konnte ich sie dann erkennen?»

«Nur wenn du ganz genau hinschaust», antwortete meine Gro?mutter. «Wenn du namlich ganz genau hinschaust, dann konntest du vielleicht sehen, dass sie einen blaulichen Belag auf den Zahnen haben. Aber sehr auffallig ist das nicht.»

«Nur wenn sie ausspucken», bemerkte ich.

«Hexen spucken nie», erwiderte meine Gro?mutter. «Das wagen sie gar nicht.»

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass mich meine Gro?mutter anschwindelte. Sie ging jeden Morgen in die Kirche, und sie sprach vor jeder Mahlzeit ein Gebet, und jemand, der sich so benimmt, wurde doch wohl nicht lugen. Ich war also so weit, ihr jedes Wort zu glauben, das aus ihrem Munde kam.

«Das war's also», sagte meine Gro?mutter. «Das ist alles, was ich dir berichten kann. Keine gro?e Hilfe fur dich. Du kannst immer noch nicht mit Sicherheit sagen, ob die Frau, die du vor dir hast, eine Hexe ist oder nicht. Aber wenn sie Handschuhe tragt, wenn sie gro?e Nasenlocher und solche komischen Augen hat, wenn ihre Frisur so aussieht, als ob es eine Perucke sein konnte, und wenn sie einen blaulichen Belag auf den Zahnen hat - und wenn das alles auf einmal zutrifft, dann nimm die Beine unter die Arme und lauf.»

«Gro?mama», sagte ich, «hast du einmal eine Hexe getroffen, als du ein kleines Madchen warst?»

«Einmal», antwortete meine Gro?mutter, «nur ein einziges Mal.»

«Und was ist da passiert?»

«Das werd ich dir nicht erzahlen», sagte sie. «Du wurdest den Schreck deines Lebens kriegen und Alptraume bekommen.»

«Ach bitte, erzahl's mir doch», bettelte ich.

«Nein» erwiderte sie. «Gewisse Dinge sind so furchterlich, dass man nicht uber sie sprechen kann.»

«Hat es etwas mit deinem fehlenden Daumen zu tun?», fragte ich.

Ihre alten runzligen Lippen pressten sich plotzlich fest zusammen, und die Hand, mit der sie die Zigarre hielt (und an der kein Daumen mehr sa?), begann ein wenig zu beben.

Ich wartete. Sie schaute mich nicht an. Sie sagte kein Wort. Sie hatte sich ganz in sich selbst zuruckgezogen. Das Gesprach war zu Ende.

«Gute Nacht, Gro?mama», sagte ich, stand vom Boden auf und kusste sie auf die Wange.

Sie regte sich nicht. Ich schlich aus dem Zimmer und ging ins Bett.

Die Hoch- und Gro?meister-Hexe

Am nachsten Tag hatten wir den Besuch von einem Mann im schwarzen Anzug. Er trug eine Aktentasche, und er hatte mit meiner Gro?mutter im Wohnzimmer eine lange Unterredung. Wahrend seines Besuches wurde ich nicht hereingelassen, aber als er schlie?lich wieder gegangen war, kam meine Gro?mutter zu mir. Sie machte ganz langsame Schritte und sah ganz niedergeschlagen aus.

«Dieser Mann hat mir den letzten Willen deines Vaters vorgelesen», sagte sie.

«Was ist ein letzter Wille?», fragte ich sie.

«Das ist etwas, was man vor seinem Tode aufschreibt», erklarte sie. «Darin legt man fest, wer das Geld erben soll und den Besitz. Aber das Wichtigste ist, darin sagt man auch, wer sich um das Kind kummern soll, wenn beide Eltern sterben.»

Eine wilde Angst ergriff Besitz von mir. «Das sollst doch sicher du sein, Gro?mama!», rief ich. «Ich muss doch nicht zu jemand anders, oder?»

«Nein», erwiderte sie. «Das hatte dir dein Vater niemals angetan. Er hat mich gebeten, die Sorge fur dich zu ubernehmen, solange ich lebe, aber er hat mich auch gebeten, dich in euer Haus in England zuruckzubringen. Er mochte, dass wir dort wohnen.»

«Aber warum denn?», fragte ich. «Warum konnen wir denn nicht in Norwegen bleiben? Du wirst doch nirgendwo anders leben wollen! Das hast du mir doch selber gesagt!»

«Ich wei?», antwortete sie. «Aber da gibt es lauter Schwierigkeiten mit dem Geld und mit dem Haus, die du noch nicht verstehen wurdest. Und dann hei?t es noch in dem letzten Willen, obgleich alle in unserer Familie Norweger sind, bist du in England geboren und eingeschult worden, und dein Vater mochte gern, dass du weiterhin in englische Schulen gehst.»

«Oh, Gro?mama!», rief ich aus. «Aber du willst das doch nicht, und du willst auch nicht in unserem englischen Haus wohnen, das wei? ich doch ganz genau.»

«Naturlich behagt mir das nicht», antwortete sie. «Aber ich furchte, ich muss es doch tun. Im letzten Willen steht, dass deine Mutter genauso daruber denkt, und es ist nun einmal wichtig, den Wunschen der Eltern zu folgen.»

Es gab keinen Ausweg. Wir mussten nach England, und meine Gro?mutter fing auf der Stelle an, Vorbereitungen zu treffen. «Die Schule beginnt in ein paar Tagen», sagte sie. «Deshalb konnen wir nicht mehr lange herumtrodeln.»

Am Abend, bevor wir nach England abreisten, kam meine Gro?mutter wieder auf ihr Lieblingsthema zu sprechen. «In England gibt es nicht so viele Hexen wie in Norwegen», sagte sie.

«Dann werd ich sicher keine treffen», entgegnete ich.

«Das kann ich in deinem Interesse nur hoffen», sagte sie. «Denn die englischen Hexen sind angeblich die heimtuckischsten auf der ganzen Welt.»

Wahrend sie dasa? und beim Reden ihre stinkende Zigarre paffte, musste ich immer auf ihre Hand mit dem fehlenden Daumen blicken. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Dieser Anblick zog mich magisch an, und ich zerbrach mir immer wieder den Kopf, was damals, als sie die Hexe getroffen hatte, fur eine schreckliche Geschichte passiert sein mochte. Es musste etwas unvorstellbar Grauenhaftes und Furchterliches gewesen sein, sonst hatte sie mir langst davon erzahlt. Vielleicht war ihr der Daumen abgedreht worden. Oder sie war gezwungen worden, den Daumen so lange in die Tulle eines Kessels mit kochendem Wasser zu stecken, bis er abgesotten war. Oder hatte ihn jemand - wie einen Backenzahn - aus der Hand gezogen? Es half alles nichts, ich musste mir immer neue Moglichkeiten ausdenken.

«Erzahl mir doch, was diese englischen Hexen anstellen, Gro?mama», bat ich.

«Na gut», sagte sie und nahm wieder einen Zug von ihrer stinkenden Zigarre. «Ihr Lieblingsscherz besteht darin, ein Pulver zurechtzumixen, mit dem man ein Kind in ein Wesen verwandeln kann, das die Erwachsenen nicht ausstehen konnen.»

«Was fur ein Wesen, Gro?mama?»

«Ziemlich haufig ist es eine Nacktschnecke», antwortete sie. «Nacktschnecken haben sie besonders gern. Die werden immer von den Erwachsenen breit getreten, und keiner wei?, dass es ein Kind gewesen ist.»

Вы читаете Hexen hexen
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату
×