»Ja.«

Seine Augen uberflogen sie mit einem zugleich prufenden und anerkennenden Blick, und Lynn spurte, wie ihr die Rote in die Wangen stieg.

Tante Kathie tauchte plotzlich neben ihnen auf. Sie hatte eine Art, unvermittelt in Erscheinung zu treten, als materialisierte sie sich aus dem Nichts. Moglich, dass sie diesen Trick bei einer ihrer zahlreichen spiritistischen Seancen gelernt hatte.

»Abendbrot ist fertig«, verkundete sie in ihrer kurzatmigen, hektischen Art und setzte erklarend hinzu. »Ich finde es kluger, von einem Abendbrot zu reden, als gro?artig zu sagen: ›Es ist angerichtet.‹ Das wirkt so hochtrabend und erweckt gro?e Erwartungen. Dabei ist alles so schrecklich schwierig. Mary Lewis hat mir anvertraut, dass sie dem Fischverkaufer alle zwei Wochen zehn Shilling in die Hand druckt. Ich kann mir nicht helfen, ich finde das unmoralisch.«?

Man begab sich in das abgenutzte, hassliche Speisezimmer; Jeremy und Frances, Lionel und Katherine, Adela, Lynn und Rowley. Eine gemutliche Zusammenkunft der Familie Cloade – mit zwei Au?enseitern. Denn obwohl Rosaleen Cloade den gleichen Namen trug, war sie doch kein Mitglied der Familie geworden wie Frances oder Katherine.

Sie war eine Fremde, nervos, auf der Hut und fuhlte sich offensichtlich unbehaglich in dieser Umgebung.

David war mehr als ein Au?enseiter, er war fast ein Feind der Gesellschaft.

Eine bedruckende Spannung lag in der Luft. Unausgesprochen, unsichtbar war die Atmosphare von etwas Bosem erfullt. Was war es? Konnte es Hass sein?

Aber das habe ich seit meiner Ruckkehr uberall gefunden, auf Schritt und Tritt, dachte Lynn. Diese Spannung, diese innere Abwehr, dieses Misstrauen dem anderen gegenuber. In der Stra?enbahn, in der Eisenbahn, auf den Stra?en, in den Buros, zwischen Angestellten, zwischen Arbeitern, zwischen willkurlich zusammengewurfelten Passagieren eines Autobusses war es zu spuren. Abwehr, Neid, Missgunst. Aber hier kam noch etwas hinzu. Hier wirkte es bedrohlicher. Und erschrocken uber ihre eigene Schlussfolgerung fragte Lynn sich in Gedanken: Hassen wir sie denn so sehr? Diese Fremden, die genommen haben, was wir stets als unser Eigentum betrachteten?

Nein! Sie wies sich selbst zurecht. Abwehr ist da, aber nicht Hass. Noch nicht. Sie aber, sie hassen uns.

Die Erkenntnis uberwaltigte sie derma?en, dass sie stumm bei Tisch sa? und kein Wort an David Hunter richtete, der ihr Nachbar war.

Seine Stimme klang nett, immer ein wenig, als mache er sich uber das, was er sage, lustig. Lynn hatte ein schlechtes Gewissen. Womoglich dachte David, dass sie sich absichtlich ungezogen benahm.

»Entschuldigen Sie. Ich war geistesabwesend. Ich dachte eben uber den Zustand der Welt nach.«

»Au?erordentlich wenig originell«, erwiderte David kuhl.

»Leider haben Sie Recht. Jedermann bemuht sich heutzutage, ernst zu sein, und es scheint herzlich wenig Gutes dabei herauszukommen.«

»Im Allgemeinen erweist es sich als bedeutend produktiver, sich um die Dinge zu kummern, die Schaden anrichten, anstatt um solche, die die Welt verbessern. Wir haben die letzten Jahre dazu verwendet, einige wirksame Mechanismen oder Waffen, oder wie Sie es nennen wollen, zu erfinden, darunter unsere piece de resistance, die Atombombe. Ein nicht zu verachtender Erfolg.«

»Daruber habe ich ja gerade nachgedacht. Ach, nicht uber die Atombombe, aber uber dieses Das- Schlechte-Wollen, dieses krampfhafte Bemuhen, Boses anzurichten, Schaden zuzufugen.«

»Das hat es immer gegeben. Denken Sie ans Mittelalter und die schwarze Magie. An den bosen Blick, an die Amulette, an das heimtuckische Toten von des Nachbarn Vieh oder auch des Nachbarn selbst.« Er zuckte die Achseln. »Mit allem schlechten Willen der Welt, was konnen Sie schon gegen Rosaleen oder mich tun? Sie und Ihre Familie?«

Lynn richtete sich auf. Die Unterhaltung begann sie zu amusieren.

»Der Tag ist schon ein bisschen zu weit vorgeschritten, um noch darauf einzugehen«, entgegnete sie lachelnd.

David Hunter lacht laut heraus. Auch er schien Gefallen an dem Gesprach zu finden.

»Sie meinen, wir haben unser Schafchen im Trockenen? Tja, fur uns lauft’s nicht schlecht.«

»Und es gefallt Ihnen gro?artig, wie?«

»Reich zu sein? Ich gestehe es ehrlich – jawohl.«

»Ich meinte nicht nur das Geld. Ich meinte, es gefallt Ihnen wohl gro?artig, sich uns gegenuber als der starke Mann aufspielen zu konnen.«

»Sie haben doch das Geld vom alten Gordon schon so gut wie in der eigenen Tasche gesehen, Sie alle«, stellte David amusiert fest. »Ware der lieben Familie nicht schlecht zupass gekommen, das Vermogen vom lieben Onkel Gordon.«

»Schlie?lich hat Onkel Gordon uns immer in Sicherheit gewiegt und uns stets in Erinnerung gebracht, dass wir auf ihn zahlen konnen. Er hat uns gelehrt, nicht zu sparen und uns keine Gedanken wegen der Zukunft zu machen; er hat uns ermutigt, alle moglichen Projekte in Angriff zu nehmen.«

Zum Beispiel Rowley mit seiner Farm, dachte Lynn, aber sie hutete sich, es auszusprechen.

»Nur eines hat er Sie nicht gelehrt«, bemerkte David lachend.

»Namlich?«

»Dass man sich auf niemanden verlassen sollte und dass nichts in dieser Welt wirklich sicher ist.«

Lynn versank in Nachdenken. Nein, in der Welt David Hunters war nichts sicher. Da konnte man sich auf nichts verlassen. Aber bei ihnen? Bei den Cloades?

»Stehen wir nun auf Kriegsfu? miteinander?«, drang Davids Stimme an ihr Ohr.

»Aber nein«, beeilte sie sich zu versichern.

»Nehmen Sie Rosaleen und mir unseren unehrenhaften Eintritt in die Welt des Reichtums noch immer ubel?«

»Das allerdings«, gab Lynn lachelnd zu.

»Sehr gut. Und was gedenken Sie dagegen zu tun?«

»Ich werde mir Zauberwachs kaufen und mich in schwarzer Magie uben.«

David lachte laut auf.

»Das traue ich Ihnen nicht zu. Sie gehoren nicht zu denen, die mit altertumlichen Mitteln kampfen. Sie gehen bestimmt mit hypermodernen und sehr wirksamen Waffen ans Werk. Aber gewinnen werden Sie nicht.«

»Wieso sind Sie so uberzeugt davon, dass es zu einem Kampf zwischen uns kommen wird? Haben wir uns nicht alle in das Unvermeidliche gefugt?«

»Sagen wir lieber: Sie benehmen sich alle betont hoflich. Es ist sehr amusant.«

Es entstand eine kleine Pause, bevor Lynn mit verhaltener Stimme fragte:

»Warum hassen Sie uns so?«

In David Hunters seltsamen dunklen Augen flackerte etwas auf.

»Ich glaube nicht, dass Sie das jemals verstehen konnten.«

»Ich glaube, Sie irren sich.«

David sah sie einen Augenblick stumm an, dann wechselte er den Ton und fragte obenhin:

»Wieso wollen Sie eigentlich Rowley Cloade heiraten? Er ist doch ein Einfaltspinsel.«

»Wie konnen Sie sich ein Urteil uber ihn erlauben«, fuhr Lynn auf. »Sie kennen ihn nicht und wissen nichts von ihm.«

Unberuhrt von dem argerlichen Vorwurf in ihrer Stimme fuhr er im gleichen Konversationston fort:

»Was halten Sie von Rosaleen?«

»Sie ist sehr hubsch.«

»Und abgesehen davon?«

»Sie scheint sich nicht wohl zu fuhlen in ihrer Haut.«

»Stimmt«, gab David zu. »Sie ist hubsch, aber nicht sehr gescheit. Und sehr angstlich. Sie lasst sich stets treiben und gerat auf diese Weise in Situationen, denen sie nicht gewachsen ist. Soll ich Ihnen ein bisschen von ihr erzahlen?«

»Gern«, erwiderte Lynn hoflich.

»Als junges Madchen wollte sie unbedingt zur Buhne, und sie setzte es auch irgendwie durch. Aber Sie konnen sich denken, dass sie kein besonderes Talent hatte. Sie landete in einer drittklassigen Truppe, mit der sie nach Sudafrika auf Tournee ging. Sie fand, Sudafrika hore sich so interessant an. In Kapstadt erlitt die Truppe

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