Auf dem gegenuberliegenden Bahnsteig warteten mehrere Golfspieler auf den Gegenzug. Der hoch gewachsene, bartige Mann mit dem Rucksack gab seine Fahrkarte ab und trat auf den Platz vor dem Bahnhof. Ein paar Minuten stand er unschlussig da, dann fiel sein Blick auf das Schild mit dem Hinweis: »Fu?weg nach Warmsley Vale«, und er machte sich auf den Weg.
In Long Willows hatte Rowley sich eben eine Tasse Tee gebraut, als ein Schatten uber den Kuchentisch fiel und ihn veranlasste, aufzublicken.
Falls er erwartet hatte, das Madchen vor der Tur sei Lynn, so dauerte seine Enttauschung nur den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie Erstaunen Platz machte, denn die weibliche Gestalt war Rosaleen Cloade.
Sie trug ein Kleid aus gestreiftem, grob gewebtem Leinen, eines dieser einfach aussehenden Stucke, die mehr kosten, als Rowley sich jemals hatte traumen lassen.
Bisher hatte er Rosaleen nur in eleganten Modellen gesehen, die sie trug wie ein etwas unsicheres Mannequin. Das grun und orange gestreifte Leinenkleid verwandelte sie zu ihrem Vorteil. Es unterstrich ihre blauen Augen und die dunklen Haare. Selbst ihre Stimme schien von der Verwandlung angesteckt und naturlicher zu sein als sonst.
»Es ist solch ein herrlicher Nachmittag«, erklarte sie. »Da habe ich einen Spaziergang gemacht. David ist in London«, fugte sie hinzu.
Sie sagte es beinahe schuldbewusst. Dann nahm sie eine Zigarette aus ihrer Tasche und bot auch Rowley eine an. Er nahm ihr das kostbar aussehende goldene Feuerzeug aus der Hand und brachte es mit einer Bewegung zum Brennen. Als Rosaleen sich uber die Flamme beugte, fielen ihm ihre langen, seidigen Wimpern auf, und er dachte: Gordon wusste, was er tat…
»Ein hubsches Kalbchen haben Sie da auf Ihrer Wiese«, sagte Rosaleen. Erstaunt uber ihr Interesse an landlichen Dingen, begann Rowley uber die Farm zu erzahlen. Ihr Interesse war nicht geheuchelt. Rowley fand bald heraus, dass sie vom Farmwesen allerhand verstand. Melken und Buttern waren ihr vertraute Begriffe.
»Sie gaben ja eine prachtige Farmersfrau ab, Rosaleen«, erklarte er lachend.
»Wir hatten eine Farm… in Irland… bevor ich hierher kam.«
Ihr Gesicht uberschattete sich.
»Bevor Sie zur Buhne gingen?«
»Es ist noch nicht lange her«, meinte Rosaleen. »Ich erinnere mich noch an alles. Wenn es sein musste, konnte ich jetzt, auf der Stelle, Ihre Kuhe melken, Rowley.«
Das war eine neue Rosaleen. Ob David Hunter wohl mit der Offenbarung der landlichen Vergangenheit seiner Schwester einverstanden gewesen ware? Rowley bezweifelte das. Irischer Landadel, das war der Eindruck, den David zu erwecken wunschte. Rosaleens Version kam der Wahrheit naher, davon war er uberzeugt. Hartes Bauernleben, dann die Versuchung des Theaters, die Tournee nach Sudafrika, Heirat, darauf Trennung, dann ein Weilchen zielloses Umherirren und endlich neuerliche Heirat mit einem Millionar in New York…
»Wurde Ihnen ein Rundgang uber die Farm Freude machen?«, fragte Rowley.
»O ja!« Ihre Augen leuchteten richtig auf.
Amusiert von ihrem eifrigen Interesse fuhrte Rowley sie herum. Doch als er schlie?lich vorschlug, nun fur sie beide Tee zu machen, sah sie plotzlich schuldbewusst drein und meinte, es sei hochste Zeit fur sie, heimzukehren. Sie schaute auf ihre Uhr und rief entsetzt:
»Mein Gott, wie spat es schon ist! David kommt mit dem 5-Uhr-20-Zug zuruck. Er wird sich wundern, wo ich stecke.«
Und schuchtern fugte sie hinzu: »Es war ein schoner Nachmittag, Rowley.«
Rowley sah ihr nach, wie sie eilig den Weg nach Hause einschlug. Sie hatte wirklich einen schonen Nachmittag verbracht. Ausnahmsweise hatte sie sein durfen, wie sie war, ungekunstelt und naturlich, ein einfaches, hubsches Madchen aus landlicher Umgebung. Sie hatte Angst vor David, daran war nicht zu zweifeln. David regierte in dieser Gemeinschaft. Und heute war er fort, und sie hatte ihre Freiheit genossen wie ein Dienstbote, der einmal in der Woche Ausgang hat. Die reiche Mrs Gordon Cloade!
Er lachelte grimmig, als er ihr nachsah. Kurz bevor Rosaleen den Zaun auf halber Hohe des Hugels erreichte, kletterte ein Mann daruber. Im ersten Augenblick meinte Rowley, David zu sehen, doch dann erkannte er, dass der Mann gro?er und starker war. Rosaleen trat zuruck, um den Mann vorbeizulassen, dann sprang sie uber den Zaun und rannte den Rest der Strecke.
Rowley stand noch eine Weile in Gedanken versunken da. Eine fremde Stimme riss ihn aus seinen Traumen.
Ein hoch gewachsener Mann mit einem Filzhut auf dem Kopf und einem lassig uber die Schulter geworfenen Rucksack stand auf dem Fu?weg jenseits des Gatters.
»Ist dies der Weg nach Warmsley Vale?«, erkundigte sich der Fremde.
»Ja, halten Sie sich nur immer an den Pfad. Quer uber dieses Feld dort, dann kommen Sie zur Landstra?e. Da wenden Sie sich nach rechts, und in ein paar Minuten sind Sie mitten im Dorf.«
Hunderte von Malen hatte er die gleiche Auskunft erteilt.
Die nachste Frage war nicht so ublich, doch beantwortete Rowley sie, ohne ihr weitere Beachtung zu schenken.
»Im ›Hirschen‹ oder im ›Glockenhof‹. Sie sind beide gleich gut – oder gleich schlecht, wie man’s nimmt. In einem von beiden Hotels kriegen Sie sicher ein Zimmer fur die Nacht.«
Rowley betrachtete sich den Fragesteller genauer. Der Mann war auffallend gro?, hatte blaue Augen, ein von der Sonne gebrauntes Gesicht und einen Bart. Er sah nicht schlecht aus, wenn auch etwas derb und draufgangerisch. Er gehorte jedenfalls nicht zu den Menschen, die gleich auf den ersten Blick vorbehaltlos Sympathien erwecken.
Wahrscheinlich kommt er von Ubersee, dachte Rowley. Ihm schien, als sprache der Fremde mit einem Akzent, der ein wenig an die Kolonien erinnerte. Sonderbar, aber das Gesicht kam ihm nicht vollig fremd vor.
»Konnen Sie mir sagen, ob es hier in der Nahe ein Haus namens Furrowbank gibt?«
»Ja, dort oben auf dem Hugel«, erwiderte Rowley. »Sie mussen daran vorbeigekommen sein, wenn Sie zu Fu? vom Bahnhof hergegangen sind.«
»Das gro?e, neu aussehende Haus auf dem Hugel? Das ist es also.«
Der Mann wandte sich um und schaute zu Furrowbank hinauf.
»Es muss eine Menge kosten, so ein Anwesen zu unterhalten.«
Allerdings, dachte Rowley, und es ist unser Geld! Arger uberflutete ihn einen Moment und lie? ihn vergessen, dass er sich in
Gesellschaft eines Fremden befand. Als er sich wieder zusammenriss, fiel ihm der sonderbare Ausdruck in den Augen des Mannes auf, der immer noch das Haus auf dem Hugel anstarrte.
»Wohnt dort nicht eine gewisse Mrs Cloade?«, fragte er.
»Stimmt«, bestatigte Rowley. »Mrs Gordon Cloade.«
Die Brauen des Fremden zogen sich erstaunt in die Hohe. Ein amusiertes Lacheln umspielte seinen Mund.
»Ach, Mrs Gordon Cloade. Da hat sie ja Gluck gehabt.« Er nickte Rowley zu. »Danke fur die Auskunft«, und den Rucksack zurechtschiebend, setzte er seinen Weg nach Warmsley Vale fort.
Rowley wandte sich langsam wieder seinem Haus zu. Wo hatte er dieses Gesicht nur schon gesehen? Der Gedanke lie? ihn nicht los.
Gegen halb zehn Uhr am Abend des gleichen Tages erhob sich Rowley vom Tisch, der von einer Unzahl Formulare bedeckt war, warf einen Blick auf Lynns Bild auf dem Kamin und verlie? dann nachdenklich das Haus.
Zehn Minuten spater stie? er die Tur zur Wirtsstube des Hotels »Zum Hirschen«, auf. Beatrice Lippincott nickte ihm hinter der Theke zu. Bei einem Glas Bier tauschte Rowley die ublichen Bemerkungen uber das Wetter, die Fehler der augenblicklichen Regierung und die Ernte aus. Nach einem Weilchen gelang es ihm, sich naher an Beatrice heranzupirschen und sie leise zu fragen:
»Ist heute nicht ein Fremder angekommen? Gro?er Mann. Verbeulter Hut.«
»So gegen sechs Uhr ist ein Gast gekommen. Der konnte es sein, Mr Rowley.«
»Den meine ich. Er kam bei mir vorbei und fragte nach dem Weg.«
»Er scheint hier in der Gegend nicht bekannt zu sein«, bemerkte Beatrice.
»Ich war neugierig, wer es wohl sein konnte.«