»Ich musste dich sprechen.«

»Ja…«

»Lynn, ich glaube, es ist besser, ich mache mich aus dem Staub…«

»Was meinst du damit?«

»Ich verlasse England. Es hat ja doch alles keinen Sinn, Lynn. Du und ich – wir passen nicht zueinander. Du bist ein lieber Kerl, Lynn, du verdienst etwas Besseres als mich. Ich kann’s nicht andern, ich war immer so – Verantwortungsgefuhl liegt mir nicht. Und ich furchte, so werde ich mein Leben lang bleiben. Ich wurde mir steif und fest vornehmen, mich zu bessern, solide und ehrenhaft zu werden – und das Ende vom Lied ware, dass du unglucklich bist und ich der gleiche unstete Geselle geblieben bin, der ich war. Nein, Lynn, heirate Rowley. Bei ihm wirst du nie eine Stunde der Angst oder Unruhe kennen lernen, wahrend dein Leben an meiner Seite die Holle ware.«

Lynn stand da, den Horer am Ohr. Sie gab keinen Ton von sich.

»Lynn! Bist du noch da?«

»Ja, ich bin da.«

»Du sagst ja gar nichts.«

»Was ist da zu sagen?«

»Lynn…?«

»Ja.«

Sonderbar, wie sie trotz der Entfernung seine Erregung verspurte, die Spannung, in der er sich befand.

David sagte mit unterdruckter Stimme: »Ach, hol doch alles der Teufel!«, und warf den Horer auf die Gabel.

In diesem Augenblick kam Mrs Marchmont aus dem Wohnzimmer und fragte: »War das –?«

»Eine falsche Nummer«, wehrte Lynn alle weiteren Fragen ab und lief rasch hinauf in ihr Zimmer.

16

Im »Hirschen« war es ublich, die Gaste zu der von ihnen gewunschten Stunde zu wecken, indem man mit der Faust an die betreffende Tur hammerte und mit erhobener Stimme mitteilte, dass es halb acht Uhr, oder acht Uhr oder wie spat es eben gerade war, sei. Wunschten die Gaste vor dem Aufstehen eine Tasse Tee, so wurde ein Tablett mit viel Geklirr und Gepolter auf die Matte vor der Tur gestellt.

An jenem bestimmten Mittwoch hammerte Gladys, das Stubenmadchen, an die Tur von Nummer 5, trompetete, dass es acht Uhr funfzehn sei, und knallte das Tablett mit dem Tee mit solcher Wucht auf die Matte, dass die Milch uberschwappte und um das Milchkannchen einen kleinen See bildete. Gladys lie? sich davon nicht aus der Ruhe bringen, weckte weitere Gaste und ging dann ihren sonstigen Morgenarbeiten nach.

Gegen zehn Uhr fiel ihr auf, dass Nummer 5 das Teetablett noch nicht hereingeholt hatte. Sie klopfte mehrmals kraftig an die Tur, wartete ein paar Sekunden und trat, als keine Antwort zu horen war, kurzerhand ein.

Nummer 5 gehorte nicht zu der Sorte Leute, die sich verschliefen, und ihr war gerade eingefallen, dass sich vor dem Fenster dieses Zimmers ein bequemes Flachdach befand. Wer wei?, vielleicht hatte sich der Gast mit einem eleganten Sprung aus dem Staub gemacht, ohne seine Rechnung zu bezahlen.

Doch der Mann, der sich Enoch Arden nannte, hatte keinen Sprung uber das Flachdach gemacht. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden in der Mitte des Zimmers, und selbst ohne die geringsten medizinischen Kenntnisse zu besitzen sah Gladys, dass der Mann tot war.

Sie stie? einen schrillen Schrei aus, rannte auf den Korridor hinaus und rief aus Leibeskraften:

»Miss Lippincott… Miss Lippincott… oooh…«

Beatrice Lippincott sa? in ihrem Privatzimmer und hielt Dr. Lionel Cloade ihre verletzte Hand hin – sie hatte sich geschnitten –, die der Arzt eben verband.

Gladys riss die Tur auf.

»O Miss Lippincott…«

»Was ist denn passiert?«, fuhr der Arzt sie an.

»Was gibt’s denn, Gladys?«, erkundigte sich Beatrice.

»Der Herr von Nummer 5, Miss… Er liegt in der Mitte vom Zimmer… tot!«

Dr. Cloade starrte erst Gladys an und dann Miss Lippincott. Miss Lippincott starrte ihrerseits zuerst Gladys an und dann Dr. Cloade.

Schlie?lich stie? Dr. Cloade brummig aus: »Unsinn!«

»Tot wie eine Maus, die im Wasser schwimmt«, beharrte Gladys, und mit einer gewissen Genugtuung uber den ihr noch verbliebenen Trumpf fugte sie hinzu:

»Er is’ ubern Kopf geschlagen worden.«

Der Arzt meinte: »Vielleicht ware es besser, wenn ich…«

»Ja, bitte, Dr. Cloade, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wie das moglich sein sollte«, entgegnete Beatrice fassungslos.

Zu dritt machten sie sich auf den Weg, voran Gladys. Dr. Cloade betrat das Zimmer, warf einen Blick auf den am Boden liegenden Mann und kniete dann neben der gekrummten Gestalt nieder.

Als er sich wieder erhob, schien er wie verwandelt.

»Benachrichtigen Sie die Polizei«, befahl er mit fester Stimme. Beatrice Lippincott verlie? stumm das Zimmer. Gladys folgte ihr auf dem Fu?.

»Glauben Sie, dass er ermordet worden ist, Miss?«, flusterte sie mit beinahe erloschener Stimme.

»Halten Sie den Mund, Gladys«, wies Beatrice sie zurecht und nestelte erregt an ihrem Haarknoten herum. »Etwas als Mord zu bezeichnen, bevor man sicher ist, dass es sich wirklich um Mord handelt, ist Verleumdung, und man kann Sie fur solch dummes Gerede vor Gericht bringen.« Etwas milder setzte sie hinzu: »Gehen Sie in die Kuche, und starken Sie sich mit einer Tasse Tee.«

»O ja, Miss, ich kann’s gebrauchen. Mir ist ganz ubel von dem Anblick. Ich bring Ihnen auch eine Tasse.«

Ein Angebot, das Beatrice Lippincott nicht ablehnte. 

17

Inspektor Spence warf Beatrice Lippincott, die mit fest zusammengepressten Lippen am anderen Ende des Tisches sa?, einen prufenden Blick zu.

»Vielen Dank, Miss Lippincott. Ich werde das Protokoll abschreiben lassen. Dann sind Sie bitte so freundlich, es zu unterzeichnen.«

»Ach, du meine Gute, ich werde doch nicht etwa vor Gericht aussagen mussen?«, fragte Beatrice entsetzt.

»Hoffen wir, dass es nicht dazu kommt«, war des Inspektors wenig beruhigende Antwort.

»Es konnte doch Selbstmord sein«, mutma?te Beatrice.

Inspektor Spence verzichtete auf den Hinweis, dass Selbstmorder andere Methoden zu wahlen pflegten, als sich den Hinterkopf mit einer eisernen Feuerzange einzuschlagen. Stattdessen erwiderte er im gleichen unverbindlich freundlichen Ton:

»Es hat keinen Sinn, Mutma?ungen anzustelllen. Jedenfalls danke ich Ihnen, Miss Lippincott, dass Sie uns so prompt Ihre Beobachtungen mitgeteilt haben.«

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