Sobald Beatrice den Raum verlassen hatte, uberschlug Spence in Gedanken noch mal ihre Angaben. Er kannte Miss Lippincott gut genug, um zu wissen, wie weit er ihrem Bericht Glauben schenken konnte. Ein gut Teil von dem, was sie gesagt hatte, musste man ihrer Erregung zuschreiben, als sie die Unterhaltung im Nebenzimmer mit angehort hatte. Ein weiterer Teil ging auf Konto der Tatsache, dass sich in Zimmer Nummer 5 ein Mord abgespielt hatte. Was ubrig blieb, war hasslich und bedeutungsvoll genug.
Inspektor Spence betrachtete die vor ihm auf dem Tisch ausgebreiteten Gegenstande. Eine Armbanduhr mit zerbrochenem Glas, ein goldenes Feuerzeug mit Initialen darauf, ein Lippenstift in goldfarbener Hulle und eine schwere Feuerzange, deren eiserner Knauf rostbraune Flecke aufwies.
Sergeant Graves meldete, dass Mr Rowley Cloade drau?en sei. Auf ein Nicken des Inspektors hin fuhrte er Rowley herein.
Ebenso wie Inspektor Spence mehr oder weniger alles uber Beatrice Lippincott wusste, war ihm auch Rowley Cloade sehr gut bekannt.
Wenn Rowley sich aufraffte, um der Polizei eine Mitteilung zu machen, so konnte man hundertprozentig sicher sein, dass es sich um etwas Ernstzunehmendes handelte. Abgesehen davon jedoch wurde es geraume Zeit in Anspruch nehmen, denn Leute vom Schlage Rowley Cloades zu drangen, hatte keinen Sinn. Sie brauchten ihre Zeit, und man fuhr am besten mit ihnen, lie? man sie auf ihre eigene Art erzahlen.
»Guten Morgen, Mr Cloade. Es freut mich, Sie zu sehen. Haben Sie uns irgendetwas mitzuteilen, was Licht auf diesen Mord im ›Hirschen‹ werfen konnte?«
Zu des Inspektors Uberraschung antwortete Rowley mit einer Gegenfrage.
»Haben Sie den Mann identifiziert?«, erkundigte er sich.
»Nein«, entgegnete Spence nachdenklich. »Er hat sich als Enoch Arden eingetragen, doch wir haben keinen Beweis gefunden, dass er Enoch Arden ist.«
Rowley runzelte die Stirn. »Ist das nicht sonderbar?«
Es war sonderbar, in der Tat, doch der Inspektor hatte nicht die Absicht, seine Gedanken daruber, wie au?erordentlich sonderbar dies sozusagen war, mit Rowley Cloade zu erortern. Ruhig meinte er stattdessen:
»Nun lassen Sie mich mal die Fragen stellen, Mr Cloade. Sie haben den Toten gestern aufgesucht. Warum?«
»Sie kennen doch Beatrice Lippincott vom ›Hirschen‹, Inspektor?«
»Naturlich kenne ich sie.« Und in der Hoffnung, auf diese Weise schneller zur Sache zu kommen, fugte er hinzu: »Ich habe schon mit ihr gesprochen. Ich kenne ihre Geschichte.«
Rowley sah erleichtert aus.
»Gott sei Dank. Ich hatte Angst, sie wurde vielleicht nicht hineingezogen werden wollen und darum lieber den Mund halten. Na, jedenfalls hat Beatrice mir auch mitgeteilt, was sie zufallig mit angehort hat, und auf mich machte das Ganze einen sehr bedenklichen Eindruck. Es ist nun einmal so, Inspektor, dass wir das sind, was man ›interessierte Partei‹ nennt.«
Wieder nickte der Inspektor zustimmend. Wie alle ubrigen Bewohner der Gegend hatte er lebhaftes Interesse an den Ereignissen in der Familie Cloade genommen, und seiner Meinung nach war der Familie durch Gordons Tod so kurz nach seiner Heirat ein schlimmer Streich gespielt worden. Er teilte die allgemeine Auffassung, dass die junge Mrs Gordon Cloade »keine Dame« war und ihr Bruder zu der Sorte skrupelloser Draufganger gehorte, die im Krieg unvergleichliche Dienste leisteten, in Friedenszeiten aber mit gro?ter Vorsicht zu betrachten waren.
»Ich brauche Ihnen doch sicher kaum zu erklaren, was es fur uns alle bedeuten wurde, stellte sich heraus, dass Mrs Gordon Cloades erster Mann noch lebt«, sagte Rowley. »Beatrices Erzahlung von dem, was zwischen dem Fremden und David Hunter besprochen worden war, brachte die erste Andeutung einer solchen Moglichkeit. Ich ware nie auf den Gedanken gekommen; ich war uberzeugt, sie sei Witwe gewesen. Ich muss sagen, die Neuigkeit setzte mir zu, wenn es auch ein Weilchen dauerte, bis ich mir klarmachte,
»Und haben Sie diesen Plan ausgefuhrt?«
»Ja, ich ging geradewegs zum ›Hirschen‹ – «
»Wie spat war es da?«
»Lassen Sie mich mal nachdenken… Zu meinem Onkel muss ich so ungefahr zwanzig Minuten nach acht Uhr gegangen sein. Dann hab ich dort ein Weilchen gewartet… Ich wurde sagen, es war kurz nach halb neun, so etwa zwanzig Minuten vor neun. Ich wusste, wo der Bursche zu finden war. Bee hatte mir die Zimmernummer genannt. Also ging ich gleich die Treppe hinauf und klopfte an die Tur.«
Rowley schaltete eine Pause ein.
»Ich glaube, ich habe die Sache nicht sehr geschickt angepackt. Als auf mein Klopfen jemand ›herein‹ sagte, trat ich ins Zimmer. Ich hatte gemeint, ich wurde der Uberlegene bei der Unterhaltung sein, aber dem Burschen war ich nicht gewachsen. Er war ein schlauer Fuchs. Ich machte so eine Andeutung, mir ware was von Erpressung zu Ohren gekommen. Ich dachte, er wurde es daraufhin mit der Angst zu tun kriegen, aber es schien ihn nur zu amusieren. Er fragte mich ohne alle Umschweife, ob ich etwa auch als ›Kaufer‹ in Frage kame. ›Bei mir konnen Sie mit Ihren schmutzigen Geschaften nichts ausrichten‹, fuhr ich ihn an, worauf er mir in ziemlich frechem Ton antwortete: ›Ich hab was zu verkaufen, und mich interessiert, ob Sie oder die Familie Cloade was anzulegen gewillt sind fur den positiven Beweis, dass Robert Underhay, der angeblich in Afrika begraben liegt, lebt.‹ Ich fragte, wieso wir uberhaupt etwas dafur zahlen sollten. Darauf lachte der Kerl mir ins Gesicht und sagte: ›Weil ich heute Abend einen Besucher erwarte, der mir von Herzen gern eine runde Summe hinlegt fur den Beweis, dass Robert Underhay tot ist.‹ Und da ging mein Temperament mit mir durch, und ich erklarte ihm, dass meine Familie sich auf schmutzige Dinge prinzipiell nicht einlasse. Wenn Underhay wirklich noch am Leben sei, so lie?e sich das ohne gro?e Schwierigkeiten sicher feststellen. Ich machte kehrt und war eben im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als er mir mit einem schmierigen Unterton nachrief: ›Ohne meine Mithilfe werden Sie kaum jemals einen Beweis liefern konnen.‹ In einem komischen Ton sagte er das.«
»Und dann?«
»Dann… offen gestanden: Ich ging heim. Ich merkte, dass ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, und machte mir schon Vorwurfe, es nicht Onkel Jeremy uberlassen zu haben, mit dem Kerl zu reden. So ein Rechtsanwalt ist’s eher gewohnt, mit solchen Typen zu verhandeln.«
»Um wie viel Uhr verlie?en Sie den ›Hirschen‹?«
»Keine Ahnung. Oder doch… warten Sie, es muss gerade neun Uhr gewesen sein, denn wie ich drau?en am Fenster vorbeiging, horte ich gerade das Zeichen zum Nachrichtenbeginn im Radio.«
»Machte Arden eine Andeutung uber den ›Klienten‹, den er erwartete?«
»Ich nahm stillschweigend an, es konnte nur David Hunter sein. Wer sollte sonst in Frage kommen?«
»Er machte nicht den Eindruck, als beunruhige ihn dieser bevorstehende Besuch?«
»Im Gegenteil. Er machte einen absolut selbstsicheren Eindruck und tat, als halte er alle Trumpfe in der Hand.«
Spence deutete mit einer leichten Bewegung auf die Feuerzange auf dem Tisch.
»Haben Sie diese Feuerzange beim Kamin hangen oder liegen gesehen, Mr Cloade?«
»Nicht, dass ich mich erinnere. Es war kein Feuer im Kamin.« Rowley versuchte, sich das Hotelzimmer ins Gedachtnis zu rufen, wie er es an jenem Abend wahrgenommen hatte. »Ich erinnere mich vage, etwas Eisernes liegen gesehen zu haben, aber ob es diese Feuerzange war oder nicht, das konnte ich nicht sagen. Ist er mit diesem Ding –?«
»Die Untersuchung hat ergeben, dass er von hinten erschlagen wurde und dass die todlichen Schlage mit dem Knauf dieser Feuerzange, und zwar von oben nach unten, ausgefuhrt wurden«, erklarte der Inspektor sachlich.
»Er war seiner Sache sehr sicher, aber trotzdem…« Rowley brutete einen Moment vor sich hin. »Wer wird einem Menschen den Rucken zuwenden, den man zu erpressen im Begriff steht? Er scheint nicht sehr vorsichtig gewesen zu sein, dieser Arden.«