»Erpressung? Ich verstehe nicht, was Sie meinen, Inspektor.«
»Wirklich nicht? Nun, lassen wir das. Aber etwas anderes hatte ich gern gewusst – eine reine Formsache selbstverstandlich: Wo haben Sie sich gestern Abend zwischen sieben und elf Uhr aufgehalten?«
»Und wenn ich – eine reine Formsache selbstverstandlich – die Antwort auf diese Frage verweigere?«
»Ware das nicht etwas kindisch, Mr Hunter?«
»Dieser Meinung bin ich nicht. Ich hasse es und habe es von jeher gehasst, beaufsichtigt und kontrolliert zu werden.«
Der Inspektor zweifelte nicht an der Aufrichtigkeit dieser Behauptung.
Er hatte schon ofter mit Leuten vom Schlage dieses David Hunter zu tun gehabt. Sie waren imstande, aufsassig und widerspenstig zu sein, keineswegs, weil sie eine Schuld zu verbergen hatten, sondern weil diese Aufsassigkeit ihrem Charakter entsprach. Die Tatsache allein, dass sie uber ihr Kommen und Gehen Rechenschaft ablegen sollten, reizte sie zu Widerspruch und Auflehnung.
Der Inspektor blickte fragend zu Rosaleen Cloade hinuber, und sie reagierte unverzuglich auf die stumme Aufforderung.
»Warum sagst du es ihm nicht, David – «
»So ist’s recht, Mrs Cloade. Uns liegt doch einzig und allein daran, Licht in diese Sache zu bringen«, hakte Spence versohnlich ein.
»Lassen Sie meine Schwester in Ruhe«, fuhr David ihn an. »Was schert es Sie, ob ich gestern Abend hier, in Warmsley Vale oder in Honolulu war?«
»Man wird Sie als Zeugen vor Gericht zitieren, Mr Hunter, und dort werden Sie wohl oder ubel Auskunft erteilen mussen«, hielt der Inspektor ihm vor.
»Ich ziehe es vor zu warten, bis ich vor Gericht befragt werde. Und jetzt ware es mir angenehm, wenn Sie so schnell wie moglich von der Bildflache verschwanden.«
»Wie Sie wunschen.«
Der Inspektor lie? sich von dem hitzigen Ton des jungen Mannes nicht aus der Ruhe bringen.
»Bevor ich mich jedoch zuruckziehe, habe ich noch eine Frage an Mrs Cloade.«
»Ich wunsche nicht, dass meine Schwester belastigt wird«, brauste David von neuem auf.
»Verstandlich, aber ich muss Mrs Cloade bitten, sich den Toten anzuschauen, da sie ihn vielleicht identifizieren kann. Dem konnen Sie sich nicht widersetzen, Mr Hunter. Es ist lediglich eine Frage des Zeitpunkts, denn fruher oder spater muss Mrs Cloade den Mann personlich in Augenschein nehmen. Am besten ware es, sie kame gleich mit mir. Je eher man so eine unerfreuliche Sache hinter sich bringt, desto besser. Wir haben Zeugen dafur, dass Mr Arden sagte, er habe Mr Underhay gekannt. Nichts liegt naher, als dass er auch Mrs Underhay gekannt hat, und wenn er Mrs Underhay gekannt hat, ist es sehr wahrscheinlich, dass Mrs Underhay auch ihn kannte. Es ist eine ausgezeichnete Chance, den wirklichen Namen des Mannes, der sich Enoch Arden nannte, herauszufinden.«
Zu des Inspektors Erstaunen erhob sich Rosaleen sofort und erklarte:
»Ich komme, wann immer Sie wunschen.«
Spence erwartete einen neuen Ausbruch Davids, doch verbluffenderweise lachelte der junge Mann nur.
»Das ist recht, Rosaleen«, sagte er. »Ich muss gestehen: Ich bin selbst neugierig. Sehr gut moglich, dass du uns sofort verraten kannst, wer der Bursche in Wirklichkeit war.«
»Sie haben ihn in Warmsley Vale nicht getroffen?«, erkundigte sich Spence.
»Ich bin schon seit Sonnabend in London«, antwortete Rosaleen.
Der Inspektor nickte.
»Und Arden traf Freitag nacht in Warmsley Vale ein.«
»Mochten Sie, dass ich jetzt gleich mitkomme?«, vergewisserte sich Rosaleen im Ton eines folgsamen Kindes, das seinen Lehrern gefallen mochte. Wider Willen fuhlte sich Spence zu ihren Gunsten beeinflusst. Diese Bereitwilligkeit, ihn zu unterstutzen, hatte er nicht erwartet.
»Ich warte in der Halle auf Sie.«
Er zog sich zuruck.
Unten begab er sich abermals ins Buro, wo der General ihn bereits erwartete.
»Nun?«
»Beide Betten sind letzte Nacht benutzt worden, Inspektor. Auch die Badetucher waren nass, und um halb zehn heute fruh wurde Fruhstuck aufs Zimmer serviert.«
»Um welche Zeit Mr Hunter gestern Nacht heimkam, haben Sie nicht in Erfahrung bringen konnen?«
»Leider nicht, Inspektor.«
Der Inspektor hatte mit keiner besseren Auskunft gerechnet. Er war sich nicht im Klaren daruber, ob Davids kindisches Verhalten nur einem trotzigen Charakter entsprach oder ob sich mehr hinter der Widerspenstigkeit des jungen Mannes verbarg. Wie die Dinge lagen, konnte er sich eigentlich nicht verhehlen, dass er in Verdacht stand, einen Mord begangen zu haben. Je eher er mit der Wahrheit herausruckte, desto besser. Was fur einen Sinn sollte es haben, der Polizei zu trotzen? Aber gerade das bereitete Leuten wie David Hunter besonderes Vergnugen. Inspektor Spence wusste das nur zu gut.
Die Fahrt nach Warmsley Vale verlief au?erst schweigsam. Als die drei am Leichenschauhaus anlangten, war Rosaleen sehr blass. Ihre Hande zitterten. David redete trostend, so wie man einem verschuchterten Kind Mut zuspricht.
Auf ein Zeichen des Inspektors hin wurde das Leintuch von der leblosen Gestalt auf der Bahre gezogen. Stumm stand Rosaleen Cloade vor dem Toten, der sich Enoch Arden genannt hatte. Spence war einen Schritt zuruckgetreten, doch seine Augen hingen am Gesicht der jungen Witwe.
Sie schaute auf den Toten hinunter, ohne sich zu ruhren, ohne aufgeregt zu sein, es war fast ein Staunen in ihrem Blick, eine leichte Verwunderung. Und dann machte sie ruhig, beinahe sachlich, das Zeichen des Kreuzes uber ihm und sagte:
»Gott sei seiner armen Seele gnadig. Ich habe diesen Mann noch nie in meinem Leben gesehen. Ich habe keine Ahnung, wer er ist.«
Ihr Ton war so uberzeugend, dass es fur den Inspektor nur zwei Moglichkeiten gab: Entweder hatte Rosaleen Cloade die Wahrheit gesagt, oder sie war eine der besten Schauspielerinnen, die er je erlebt hatte.
Etwas spater rief Inspektor Spence Rowley Cloade an.
»Mrs Cloade hat den Toten gesehen«, sagte er. »Sie behauptet, ihn nicht zu kennen. Damit ist jeder Zweifel, ob es Robert Underhay war oder, nicht, ein fur alle Mal aus der Welt geschafft.«
Es entstand eine kleine Pause, bevor Rowley langsam entgegnete:
»Sind Sie fest uberzeugt davon?«
»Jede Geschworenenbank wurde Mrs Cloade Glauben schenken«, erwiderte der Inspektor. »Solange kein Beweis fur das Gegenteil vorliegt, selbstverstandlich.«
»Ja«, erwiderte Rowley zogernd.
Er hangte den Horer ein und langte nach dem Telefonbuch von London. Er schlug den Buchstaben P auf und fuhr mit dem Zeigefinger die Kolonnen entlang, bis er auf den gesuchten Namen stie?.
19
Hercule Poirot faltete die letzte der zahlreichen Zeitungen zusammen, nach denen er seinen Diener George geschickt hatte. Nur sehr wenig war deren Berichten zu entnehmen. Die Untersuchung des Gerichtsarztes hatte ergeben, dass der Mann durch mehrere kraftige Schlage auf den Kopf ermordet worden war. Dieser Mr Arden schien vor kurzem aus Kapstadt gekommen zu sein.
Poirot legte die letzte Zeitung auf einen sauberlich ausgerichteten Sto? bereits gelesener Blatter und uberlie? sich seinen Gedanken. Die Sache interessierte ihn. Ware nicht Mrs Lionel Cloades kurzlicher Besuch bei ihm gewesen, hatte er vielleicht die erste, knapp gefasste Notiz uber den Mord ubersehen. Doch da gab es noch eine andere Begebenheit in Zusammenhang mit dem Namen Cloade, der ihm im Gedachtnis haften geblieben war. Der langweilige Major Porter hatte an jenem nun schon einige Zeit zuruckliegenden Tag im Club prophezeit, es konnte