Aber das halt Lilly nicht davon ab, den gro?en Mann kokett von der Seite anzulacheln, wenn er sie seine »Freundin« oder »Kleines« nennt … oder wenn er sich nachts, wahrend sie in ihren Schlafsack kriecht, darum bemuht, einen Blick von dem chinesischen Zeichen zu erhaschen, das sie als Tattoo uber ihrem Hintern tragt. Spielt sie mit ihm? Manipuliert sie ihn etwa, dass er sie weiterhin beschutzt? Die rhetorische Frage bleibt fur Lilly Caul unbeantwortet.

Die Glut der Furcht glimmt schon immer in Lilly. Sie ist es, die langsam aber sicher samtliche ethischen Gesichtspunkte sowie angemessenes soziales Verhalten stetig aushohlt wie der beruhmte Wassertropfen auf dem Stein. Es begann in der Highschool mit einem Magengeschwur, und wahrend ihres abgebrochenen Studiums am Georgia Institute of Technology musste sie sogar Medikamente gegen ihre Angstzustande nehmen. Mittlerweile ist die Furcht ihr immerwahrender Begleiter geworden. Sie vergiftet Lillys Schlaf, beeinflusst ihre Gedanken, macht sich in ihrem Herzen breit. Die Furcht bestimmt sie.

Sie greift so fest um den Stiel des Vorschlaghammers, dass die Venen in ihren Handgelenken zum Vorschein kommen.

»Das ist doch keine schwarze Magie, verdammt noch mal!«, bellt sie, hebt das schwere Werkzeug in die Hohe und haut den metallenen Pfahl voller Wut in den Boden. Sie schnappt sich einen neuen, geht zur gegenuberliegenden Ecke der Zeltplane und durchbohrt sie mit dem Metall, wahrend sie wild, beinahe verruckt zuschlagt und mindestens so oft danebenhaut, wie sie trifft. Der Schwei? steht ihr auf der Stirn und im Nacken. Sie versucht es immer wieder, nimmt ihr Umfeld fur einen Augenblick uberhaupt nicht mehr wahr.

»Okay … So geht es naturlich auch«, bemerkt Josh sanft und stellt sich wieder auf die Beine. Sein markantes braunes Gesicht lachelt verschmitzt, als er das halbe Dutzend Pfahle sieht, die dazu dienen sollen, die Zeltplane auf dem Boden zu befestigen. Lilly wurdigt ihn keiner Antwort.

Die Zombies, die sich noch immer unbemerkt durch die Walder nordlich von ihnen vorarbeiten, sind jetzt keine funf Minuten mehr vom Lager entfernt.

Kein Einziger der anderen Uberlebenden – es sind immerhin beinahe hundert an der Zahl, die sich mehr oder weniger widerwillig hier zusammengerauft haben und versuchen, eine Flickwerkgemeinschaft zu grunden – ist sich des fatalen Nachteils dieses landlichen Platzchens bewusst. Des Ortes, den sie nun mal zu ihrer provisorischen Heimat erkoren haben.

Auf den ersten Blick scheint die Gegend ideal: Sie sind achtzig Kilometer sudlich der Stadt mitten im Grunen – in einer Landschaft, die zu besseren Zeiten noch Millionen von Pfirsichen, Birnen und Apfel produziert hat. Die Lichtung selbst erstreckt sich uber ein naturliches Flussbecken, auf dessen ausgetrocknetem Boden durre Fingerhirse wachst. Es ist so gro? wie ein Fu?ballfeld und von den ehemaligen Besitzern brach liegen gelassen worden – ihnen haben wohl auch die benachbarten Obstplantagen gehort. Schotterwege erstrecken sich entlang der Grenzen, und neben den sich windenden Stra?en stehen uberwachsene Wande aus Kiefer und Eiche, Walder, die sich bis in die Berge erstrecken.

Am nordlichen Rand der Wiese ragt die verbrannte Ruine eines gro?en Landsitzes in die Hohe. Seine schwarze Silhouette hebt sich wie ein versteinertes Skelett gegen den Himmel ab, ein Tornado hat die Fenster aus den Angeln gerissen. Wahrend der letzten zwei Monate haben Feuer gro?e Teile der Vorstadte und so gut wie alle Bauernhofe sudlich von Atlanta vernichtet.

Die ersten Sichtungen der lebenden Toten im August haben im gesamten Suden eine Panikwelle ausgelost, so dass die bestehende Versorgungsinfrastruktur vollig uberfordert wurde. Krankenhauser waren anfangs uberbelegt, ehe sie die Turen fur immer schlossen und Feuerwehren landauf landab, machten dicht. Die Interstate 85 war mit Autowracks ubersat. Die Menschen hatten aufgegeben, Tankstellen mithilfe ihrer batteriebetriebenen Radios ausfindig zu machen, und konzentrierten sich stattdessen aufs Plundern und Rauben, schlossen Bundnisse, damit sie ihr Gut besser verteidigen konnten.

Die Leute, die sich hier auf diesem verlassenen Platz zusammengefunden haben, teilen eine gemeinsame Leidensgeschichte von den einzelnen Tabakfeldern und den menschenleeren Einkaufsstra?en in Pike, Lamar und Meriwether. Samtliche Altersklassen sind vertreten, unter ihnen auch uber ein Dutzend Familien mit Kleinkindern. Auf ihrer Suche nach einem passenden Platz wurde der Konvoi aus kaum noch fahrtuchtigen Autowracks stetig gro?er … bis die Not sie dazu trieb, eine behelfsma?ige Zuflucht zu suchen und sich auszuruhen.

Jetzt haben sie sich uber die zwei Morgen gro?e Flache verlassenen Lands ausgebreitet, und der Anblick erinnert an die Elendsviertel der Gro?en Depression. Einige hausen in ihren Autos, wahrend andere ihre Zelte auf dem weicheren Gras aufgeschlagen haben. Ein paar wenige haben kurz nach dem Ankommen Notunterkunfte an den Randern des Grundstucks errichtet. Die Gruppe besitzt kaum Gewehre oder Pistolen und noch weniger Munition. Gartenwerkzeuge, Sportgerate, Kuchenausstattung – alles Mitbringsel aus der Zivilisation – dienen jetzt als Waffen. Dutzende Uberlebende hammern Pfahle in den kalten, vernarbten Grund, arbeiten unablassig gegen eine unsichtbare Uhr und wetteifern darum, ihre zusammengebastelten Zufluchtsorte aufzubauen – ein jeder blind gegenuber der Gefahr, die sich von Norden her durch die Kiefern nahert.

Einer der Bewohner, ein schlaksiger Mann Mitte drei?ig mit einem John-Deere-Kappi und einer Lederjacke, steht am Rand unter einer riesigen Zeltplane, die seine markanten Gesichtszuge verdeckt. Er uberwacht eine Schar murrischer Teenager und junger Erwachsener, die in der Mitte der Plane versammelt ist. »Jetzt aber los, Ladys! Gebt mal ein bisschen Gas!«, bellt er, und seine Stimme ertont uber dem metallenen Hammern, das rings um ihn herum zu horen ist.

Die Teenager machen sich an einem gro?en Balken zu schaffen, der als Mittelmast fur das gro?e Zirkuszelt dienen soll. Sie haben es auf der Interstate 85 gefunden. Es hat in einem Graben neben einem umgesturzten Tieflader gelegen, auf dessen Kuhler Uberreste eines bunt gemalten Clowns zu sehen waren. Mit uber hundert Meter Umfang schien dem John-Deere-Mann das ramponierte, nach Schimmel und Tieren stinkende Zelt ein idealer Versammlungsort, das auch gro? genug war, um Vorrate darin verstauen zu konnen. Es war ein Ort, an dem man Besprechungen halten konnte, ein Ort, der ihnen zumindest einen Anschein von Zivilisation bewahrte.

»Dude … der wird das Gewicht nicht aushalten«, beschwert sich einer der Teenager, ein Druckeberger in einem Parker namens Scott Moon. Seine langen blonden Haare hangen ihm ins Gesicht, und sein Atem wird sofort in der Luft sichtbar, wahrend er sich zusammen mit den tatowierten und gepiercten Goths aus seiner ehemaligen Highschool abrackert.

»Jetzt hort endlich auf zu meckern – der Stamm halt das schon aus«, grunzt der Mann mit dem Kappi. Er hei?t Chad Bingham und ist Vater von vier Madchen: eine siebenjahrige Tochter, neunjahrige Zwillinge und eine Teenagerin. Chad ist ein Disziplinfanatiker und unglucklich mit einer Frau aus Valdosta verheiratet. Genau wie sein Vater auch. Der allerdings hatte ausschlie?lich Jungen und musste sich nicht mit dem geballten Unsinn abmuhen, den Frauen standig anstellen. Au?erdem hatte Chads Vater sich nie mit verwesenden Eiterbeulen verfaulenden Fleisches beschaftigen mussen, die sich auf Lebende sturzen. Jetzt ist es an Chad Bingham, die Sache in die Hand zu nehmen, die Rolle des Alphatieres zu erfullen … Denn sein Vater hatte schon immer gesagt: Irgendjemand muss es ja tun! Er starrt finster auf die Schar in der Zeltmitte: »Jetzt nicht wackeln!«

»Hoher kriegen wir ihn nicht«, presste einer der Jungen durch die zusammengebissenen Zahne.

»Hoch, hoher, high«, witzelt Scott Moon und unterdruckt ein Kichern.

»Schon ruhig, Jungs!«, befiehlt Chad.

»Was?«

»Ich habe gesagt, dass ihr nicht wackeln durft!« Chad geht zu ihnen und steckt eine Kurbel in das Loch im Balken. Die Seiten der riesigen Plane flattern und schlagen heftig im Wind. Eine weitere Horde Teenager tut ihr Bestes, sie mithilfe von kleineren Tragern zu stabilisieren.

Das Zelt nimmt langsam feste Formen an, und Chad starrt aus einem gro?en Spalt auf die Lichtung. Er lasst den Blick uber die Wiese wandern, vorbei an den Autos mit geoffneten Motorhauben, vorbei an den Muttern mit ihren Kindern, die einige wenige Beeren und sonstige Lebensmittel aus irgendwelchen Verkaufsautomaten aufteilen, vorbei an einem halben Dutzend Trucks, die vollgeladen sind mit samtlichen Habseligkeiten.

Dann kommt ihm der gro?e schwarze Typ in drei?ig Metern Entfernung ins Blickfeld, der in der nordlichen Ecke des Grundstucks vor Lilly Caul steht – wie ein gigantischer Tursteher vor einem Nachtclub. Chad kennt lediglich Lillys Namen, aber das war es auch schon. Au?er dass sie eine »Tussenfreundin von Megan« ist, wei? er nichts uber das Madchen. Von dem gro?en Typen ganz zu schweigen. Chad und der Typ waren die letzten Wochen zwar zusammen im Konvoi gereist, aber er kann sich trotzdem nicht an seinen Namen erinnern. Wie hie? er noch mal, Jim? John? Jack? Eigentlich kennt Chad keinen Einzigen von allen diesen Leuten hier. Er wei? nur, dass sie verzweifelt und verangstigt sind und sich nach Ordnung sehnen.

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