von Schnupftabak uber der Lippe und die drahtigen Arme voller Tattoos. Lilly war entsetzt, als ihre Freundin inmitten dieses wachen Albtraums zu flirten anfing, und es dauerte nicht lange, ehe Megan und Chad sich zusammen verkrochen, um »sich etwas Erleichterung zu verschaffen«. Die Kluft, die Lilly und Megan voneinander trennte, wurde immer tiefer.

Es passierte ungefahr zur gleichen Zeit, dass Josh Lee Hamilton in Erscheinung trat. Eines Tages, es war gegen Sonnenuntergang, wurde die Karawane von einer Horde Untoter in einem Kmart-Parkplatz umzingelt, und der kolossale Afroamerikaner tauchte aus dem Schatten der Laderampen auf, um sie zu befreien. Er kam wie ein Gladiator auf sie zu, schwang zwei Hacken durch die Luft, an denen noch die Preisschilder hingen. Im Handumdrehen erledigte er ein halbes Dutzend Zombies, und die Mitglieder der Karawane verdankten ihm ihr Leben. Dann fuhrte er sie in das Geschaft und zeigte ihnen ein paar brandneue Gewehre und die Abteilung mit der Campingausrustung.

Josh besa? ein Motorrad, und nachdem er ihnen mit dem Aufladen von Proviant und Gutern geholfen hatte, entschied er sich, bei ihnen zu bleiben, und fuhr neben der Karawane her, die langsam durch die Landschaft in Richtung der verlassenen Obsthainen von Meriwether County rollte.

Lilly bereute den Tag, an dem sie sich entschied, als Sozius auf der gro?en Suzuki mitzufahren. War ihre Anhanglichkeit an den gro?en Mann lediglich eine Projektion ihrer Trauer? Schlie?lich hatte sie erst vor Kurzem ihren Vater verloren. Oder handelte es sich vielleicht um einen verzweifelten Manipulationsversuch inmitten dieses nicht enden wollenden Horrors? Ist sie vielleicht genauso billig und durchsichtig wie Megans sexuelle Freizugigkeit?

Lilly uberlegt, ob ihre Feigheit – mit der sie Josh auf dem Schlachtfeld gestern im Stich gelassen hat – Teil einer dunklen, unbewussten, selbsterfullenden Prophezeiung ist.

»Niemand hat gesagt, dass du ein Stuck Schei?e bist, Megan«, verkundet sie schlie?lich. Ihre Stimme klingt nicht besonders uberzeugend.

»Rede lieber nicht weiter.« Megan klopft verargert ihre Pfeife am Ofen aus und rappelt sich auf die Beine. »Du hast auch so schon genug gesagt.«

Lilly folgt ihrem Beispiel und steht ebenfalls auf. Sie hat sich langst an die plotzlichen Stimmungsschwankungen ihrer Freundin gewohnt. »Hast du etwa ein Problem?«

»Du … Du bist mein Problem.«

»Was zum Teufel soll denn das jetzt?«

»Vergiss es, das ist mir jetzt alles zu viel«, antwortet Megan. Die Trubseligkeit in ihrer Stimme wird vom Marihuana-Rausch ubertont. »Ich wunsche dir viel Gluck, Girlie-Girl … Du wirst es brauchen.«

Damit verschwindet sie hinter einer Reihe Autos am ostlichen Rand des Zeltplatzes.

Lilly sieht ihr nach. Es sieht so aus, als ob Megan in einen kleinen Wohnwagen voller Kartons fluchtet. Die anderen Uberlebenden scheinen den Streit der beiden kaum wahrzunehmen. Einige drehen den Kopf, andere flustern einander zu, aber die meisten gehen weiter ihrer Beschaftigung nach, sammeln und organisieren Proviant und Vorrate – ihr nuchterner Gesichtsausdruck gepragt von nervoser Anspannung. Der Wind tragt den Geruch von Metall und Eisregen mit sich – die Anzeichen einer drohenden Kaltfront.

Lilly lasst den Blick uber die Lichtung streifen und ist fur einen Augenblick von der regen Betriebsamkeit in den Bann gezogen. Es kommt ihr wie ein Flohmarkt vor, auf dem es von Verkaufern und Kaufern nur so wimmelt. Die Leute tauschen Waren, stapeln Brennholz und plappern schier unentwegt miteinander. Am Rande der Lichtung stehen mindestens zwanzig kleinere Zelte. Hie und da sind Wascheleinen zwischen Baumen gespannt, an denen die mit Blut bespritzten Kleider der Untoten hangen. Nichts wird vergeudet, insbesondere nicht in Zeiten des nahenden Winters. Lilly sieht Kinder neben einem Pritschenwagen seilspringen; einige spielen Fu?ball. In einem Erdloch brennt ein Feuer, und der Rauch zieht uber die Dacher der geparkten Autos. Der Geruch von gebratenem Speck und gegrilltem Fleisch liegt in der Luft – Dufte, die einen eher an faule Sommertage, Parkplatzpartys, Sportveranstaltungen oder Familienfeste erinnern mogen.

Eine schwarze Flut von Entsetzen ergreift von Lilly Besitz, als sie uber den geschaftigen Platz schaut. Sie sieht Kinder spielen … Eltern, die ihr Bestes tun, um alles am Laufen zu halten … Allesamt Zombie-Futter … Plotzlich verspurt Lilly etwas wie eine Erkenntnis … Einen Sto? zuruck in die Realitat.

Sie wei?, dass jeder hier dem Tod geweiht ist. Dieser fantastische Plan, eine Zeltstadt in Georgia zu bauen, ist zum Scheitern verurteilt.

Zwei

Am nachsten Tag, unter zinnfarbenem Himmel, spielt Lilly mit den Bingham-Madchen vor dem Zelt von Chad und Donna Bingham, als schwach hallendes Poltern und Rumpeln uber den Baumwipfeln zu ihnen dringt. Ein Gro?teil der Uberlebenden erstarrt, als sie die Gerausche horen. Sie recken die Halse in die Richtung, aus welcher der Larm immer naher kommt. Dann ist ihnen klar, worum es sich handeln muss: Es ist ein Motor.

Niemand hat eine Ahnung, wer es sein konnte. Geruchte von Dieben machen die Runde, es soll richtige Banden geben, die bewaffnet bis an die Zahne anderen Uberlebenden alles klauen bis aufs letzte Hemd. Die Siedler haben immer ein paar Autos als Spaher ausgeschickt, man kann ja schlie?lich nie wissen.

Lilly schaut vom Hickelkasten auf – die Kinder haben die Quadrate mit einem Stock in den roten Lehmboden gekratzt –, und die Bingham-Madchen erstarren mitten im Hupfen. Die Alteste, Sarah, wirft einen Blick auf die Stra?e. Das dunne, jungenhafte Madchen mit den neugierigen, gro?en blauen Augen ist funfzehn Jahre alt und die Anfuhrerin der vier Bingham-Madchen. Mit leiser Stimme haucht sie: »Ist das etwa …«

»Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Lilly sie. »Ich bin mir sicher, dass das einer von uns ist.«

Die drei jungeren Madchen strecken die Halse empor, suchen nach ihrer Mutter.

Aber Donna Bingham ist nirgends zu sehen. Sie wascht Kleider in einer verzinkten Tonne, die hinter dem gro?en Familienzelt steht. Chad Bingham hat es bereits vor vier Tagen sorgsam aufgestellt und mit Metallliegen, einer Reihe Kuhlboxen, Abluftkaminen und einem batteriebetriebenen DVD-Spieler mit einer Reihe von Kinder-DVDs wie Die kleine Meerjungfrau oder Toy Story 2 ausgestattet. Plotzlich ertonen Schritte – es ist Donna Bingham, die jetzt um das Zelt kommt. Lilly ist bereits damit beschaftigt, die Kinder um sich zu scharen.

»Sarah, hol Ruthie«, bittet Lilly die Alteste in ruhigem, aber bestimmtem Ton. Das Motorgerausch kommt immer naher, und eine dunkle Wolke von Abgasen taucht uber dem Wald auf. Lilly gesellt sich rasch zu den eineiigen Zwillingen. Die neunjahrigen Mary und Lydia haben die gleichen Zopfe, tragen sogar dieselben Jacken. Lilly treibt sie zum Zelteingang, wahrend Sarah die siebenjahrige Ruthie in die Arme nimmt – ein niedliches, kleines Ding mit Shirley-Temple-Locken, die uber den Kragen ihrer winzigen Skijacke fallen.

Donna Bingham erscheint im Blickfeld, als Lilly die Zwillinge ins Zelt fuhrt. »Was ist denn los?«, will die Mutter der Kinder wissen. Sie hat ein blasses, farbloses Gesicht und erweckt den Eindruck, als ob bereits ein Windsto? reichen wurde, um sie umzuhauen. »Wer ist es? Eine Bande? Ein Fremder?«

»Nichts Schlimmes«, versucht Lilly sie zu beruhigen und halt den Eingang zum Zelt offen, so dass die vier Madchen ins Dunkle huschen konnen. Wahrend der funf Tage, seitdem sie sich hier niedergelassen haben, ist Lilly zur Babysitterin geworden, betreut diese oder jene Gruppe Kinder, wahrend die Erwachsenen sich um Brennholz oder Proviant kummern oder nur etwas Zeit allein haben wollen. Sie freut sich uber die Ablenkung, die ihr diese Tatigkeit bietet – insbesondere jetzt, da Babysitten bedeutet, dass sie jeglichen Kontakt mit Josh Lee Hamilton vermeiden kann. »Bleib einfach im Zelt mit den Kindern, bis wir wissen, mit wem wir es zu tun haben.«

Donna Bingham schlie?t die Zeltplane dankbar hinter sich und ihren Tochtern.

Lilly dreht sich rasch zur Stra?e um und sieht einen ihr bekannten Kuhler von einem Mahdrescher mit funfzehn Gangen, der sich plotzlich aus dem Dunst erhebt und durch den Nebel immer naher kommt. Sie stohnt erleichtert auf. Trotz ihrer angegriffenen Nerven kann sie sich ein Lacheln nicht verkneifen und macht sich zur westlichen Grenze des Zeltplatzes auf, die als Ladeplatz dient. Der verrostete Mahdrescher prescht uber das Gras und halt dann plotzlich, so dass die drei Teenager, die hinten aufsitzen, mitsamt den behelfsma?ig festgemachten Kisten nach vorne gegen das mitgenommene Fahrerhauschen rutschen.

»Lilly-Lili Marleen!«, ruft der Fahrer, als Lilly vor ihm erscheint. Bob Stookey umklammert mit seinen gro?en, schmierigen Handen – die Hande eines Arbeiters – das Steuerrad.

»Und was steht heute auf dem Speisemenu, Bob?«, fragt Lilly mit einem muden Lacheln. »Mehr Kekse?«

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