die Zelte zieht. Die zunehmende Kalte spiegelt Lillys dunkle Vorahnung wider. Irgendetwas Furchterliches liegt in der Luft.

Eines Abends, kurz bevor Lilly Caul sich in ihr Zelt legt, holte sie einen kleinen, in Leder gebundenen Kalender aus ihrem Rucksack. Seit Anfang der Plage, die immerhin schon mehrere Wochen anhalt, haben die meisten elektronischen Gerate aufgehort zu funktionieren. Das Stromnetz existiert nicht mehr, Batterien sind leer, Dienstanbieter von mobilen Netzwerken oder Internet sind von der Erdoberflache verschwunden, so dass die Welt sich wieder auf Ziegelsteine, Mortel, Papier, Feuer, Fleisch, Blut, Schwei? und, wenn moglich, den Verbrennungsmotor beschrankt. Lilly ist nie im digitalen Zeitalter angekommen – ihre Wohnung in Marietta ist mit Schallplatten, Transistorradios, mechanischen Uhren und Erstauflagen vollgestopft –, so dass sie keinerlei Probleme hat, jetzt die Plage und ihren Lauf in ihrem kleinen, schwarzen Buchlein mit einem verblichenen, goldfarbenen Versicherungslogo auf Papier festzuhalten.

In dieser Nacht versieht sie Donnerstag, den ersten November, mit einem gro?en X.

Der nachste Tag, der zweite November, wird ihr Schicksal, wie das von so vielen anderen auch, fur immer verandern.

Am Freitagmorgen ist es klar und bitterkalt. Lilly wacht kurz nach Sonnenaufgang auf, zittert in ihrem Schlafsack. Ihre Nase ist so eisig, dass sie sie kaum spuren kann. All ihre Gelenke schmerzen, wahrend sie sich rasch weitere Klamotten uberstulpt, ehe sie aus dem Zelt klettert, sich die Jacke zumacht und in Richtung Joshs Zelt blickt.

Der Riese ist bereits wach, steht neben seinem Zelt und reckt und streckt sich. Eingepackt in seinen Norwegerpullover und seine zerfledderte Weste bemerkt er Lilly und meint: »Ist dir auch kalt genug?«

»Hast du noch so eine dumme Frage auf Lager?«, begru?t sie ihn, geht zu ihm hin und streckt den Arm nach der Thermoskanne voll dampfendem Pulverkaffee aus, die er in seinen behandschuhten Handen halt.

»Das Wetter macht die Leute verruckt«, sagt er leise und reicht ihr die Kanne. Dann blickt er zu drei Trucks, die mit laufenden Motoren auf der Stra?e hinter der Lichtung stehen. Sein Atem ist mit jedem Wort sichtbar. »Wir wollen in den Wald, um so viel Brennholz wie moglich zu sammeln.«

»Ich komme mit.«

Josh schuttelt den Kopf. »Habe mich gerade mit Chad unterhalten. Hat sich so angehort, als ob er mochte, dass du auf die Kinder aufpasst.«

»Okay, geht klar.«

»Kannst du behalten«, verkundet Josh und deutet auf die Thermoskanne. Dann schnappt er sich die Axt, die gegen sein Zelt lehnt, und lachelt Lilly an. »Wir sollten bis Mittag zuruck sein.«

»Josh«, bittet sie ihn und packt ihn beim Arm, ehe er sich umdrehen kann. »Sei bitte vorsichtig im Wald.«

Sein Grinsen breitet sich uber sein ganzes Gesicht aus. »Immer, Puppchen … Immer.«

Dann wendet er sich ab und geht zu der Abgaswolke der drei Trucks, die auf dem Schotterweg warten.

Lilly schaut zu, wie die Manner in die Wagen steigen und auf die Ladeflachen klettern. Lilly kriegt gar nicht mit, wie laut sie sind. Es entsteht ein Hollenaufruhr, als alle drei Trucks auf einmal losfahren – die Stimmen, die einander zurufen, die Turen, die ins Schloss geworfen werden, die Wolken von Kohlenmonoxid, die in die Luft steigen.

In der Aufregung bemerkt weder Lilly noch der Rest des Camps, wie weit der Larm durch die kalte Morgenluft uber die Baumwipfel getragen wird.

Lilly wittert die Gefahr als Erste.

Die Binghams haben sie im Zirkuszelt gelassen, so dass sie auf die vier Madchen aufpassen kann, die frohlich zwischen den vielen Tischen, Stuhlen, Obstkasten und Gasflaschen spielen. Das Innere des Zelts wird von provisorischen Fenstern erhellt – Laschen von Zeltplanen, die umgeklappt wurden, um so Tageslicht in den Raum stromen zu lassen. Die Luft riecht nach Moder und schimmligem Heu – Geruche, welche die Plane uber Jahrzehnte hinweg in sich aufgesogen haben. Die Madchen spielen Reise nach Jerusalem mit drei kaputten Gartenstuhlen, die sie auf dem eisigen Boden aufgebaut haben.

Lilly macht die Musik.

»Duh-do-do-do … duh-da-da-da«, singt sie halbherzig einen alten Hit von Police. Ihre Stimme ist schwach und leise, was die Kinder aber nicht davon abhalt, voller Elan um die Stuhle zu tanzen. Lilly ist nicht ganz bei der Sache. Immer wieder blickt sie durch das gro?e Loch in der Zeltplane hinaus auf den Zeltplatz, der im grauen Tageslicht liegt. Es ist kaum jemand zu sehen – diejenigen, die nicht zum Holzsammeln gefahren sind, hocken in ihren Zelten.

Lilly schluckt ihre Furcht hinunter. Die kalte Sonne steigt uber die Baumwipfel, und der eisige Wind weht in das riesige Zirkuszelt. Auf dem Hugel tanzen Schatten in dem blassen Licht. Lilly glaubt, ein auffalliges Schlurfen zu horen – vielleicht kommt es aus dem Wald, aber sie kann sich nicht sicher sein. Vielleicht stellt sie sich alles nur vor. Vielleicht sind es ja nur die Gerausche vom flatternden Zelt, und sie stellt sich alles nur vor.

Sie wendet sich von dem gro?en Eingang ab und schaut sich nach Waffen um. Eine Schaufel ist an eine Schubkarre gelehnt, die bis zum Anschlag mit Erde gefullt ist. Daneben stehen ein paar Gartengerate und ein dreckiger Eimer. Aus einem Plastikmulleimer quellen die Uberreste von Fruhstucks–Papiertellern, an denen noch Bohnen und Eier kleben. Daneben eine Burrito-Verpackung und leere Getrankekartons zusammen mit einem Behalter aus Plastik voll dreckigem Besteck. Es stammt aus einem nachgerusteten Campervan, und Lilly sieht inmitten der vielen mit Essensresten beklebten Plastikloffel ein paar scharfe Plastikmesser. Was wurde wohl so ein Loffel bei einem geifernden, hungrigen, monstrosen Untoten anrichten?

Insgeheim verflucht sie die Anfuhrer, dass sie alle Feuerwaffen mitgenommen haben.

Ein paar altere Mitbewohner sind noch im Lager, unter anderem Mr. Rhimes, ein paar alte Jungfern aus Stockbridge, ein achtzigjahriger ehemaliger Lehrer namens O’Toole und zwei greise Bruder aus einem Altersheim in Macon. Der Rest: Frauen. Ein paar kummern sich um die Wasche und unterhalten sich, wahrend sie am Zaun Wache halten.

Ansonsten gibt es nur noch die Kinder – zehn Geschwisterpaare. Manche haben sich in ihren eigenen Zelten gegen die Kalte verkrochen, andere spielen unter Aufsicht einer Erwachsenen Fu?ball vor dem verlassenen Bauernhof.

Lilly schaut aus dem Hinterausgang und erspaht Megan Lafferty in der Ferne, die auf der Veranda eines ausgebrannten Hauses sitzt und so tut, als wurde sie Babysitten, anstatt Gras zu rauchen. Lilly schuttelt den Kopf. Megan soll auf die Hennessy-Kinder aufpassen. Jerry Hennessy, ein Versicherungsmakler aus Augusta, treibt es jetzt schon seit Tagen mit Megan – und zwar so, dass es jeder mitkriegt. Die Hennessy-Kinder sind mit acht, neun und zehn die zweitjungsten im Camp. Die jungsten sind die Bingham-Zwillinge und Ruthie, die gerade erwartungsvoll zu ihrer nervosen Babysitterin aufblicken.

»Nun mach schon, Lilly«, ruft Sarah Bingham, die Hande gegen die Huften gestemmt. Sie steht neben ein paar Obstkisten und schnappt nach Luft. Die Teenagerin tragt einen hubschen, modischen Pullover aus Angora- Imitat, der Lilly beinahe das Herz bricht. »Sing weiter!«

Lilly dreht sich wieder zu den Kindern um. »Es tut mir leid, aber ich wollte nur …«

Lilly halt inne. Sie hort ein Gerausch von drau?en, vom Wald. Es klingt wie ein knarzender, altersschwacher Schiffsrumpf … oder wie das Knarzen in einem spukenden Haus … oder, und das ist wesentlich wahrscheinlicher, wie ein Zombie, der durch umgefallene Baume stolpert.

»Madchen, ich …«

Wieder ein Gerausch, diesmal unterbricht es Lilly. Sie schaut zum gro?en Eingang hinaus. Der Larm kommt von Osten und lasst Lilly aus einer Entfernung von hundert Metern verstummen. Er stammt wohl aus dem Dickicht von wilden Rosen und Dornstrauchern.

Eine Schar Felsentauben erhebt sich plotzlich aus dem Wald mit der Schnelle eines Feuerwerks. Lilly starrt wie gelahmt auf das Spektakel. Auf einmal ist der Himmel voller grauschwarzer Punkte.

Wie regelma?ig ausgefuhrte Explosionen fliegen zwei weitere Vogelscharen in der Nahe des Zauns auf. Wahre Hundertschaften von wild flatternden Vogeln fliegen umher, ehe sie sich wie einzelne Tintenkleckse zu einem gro?en Fleck formieren.

In der Gegend hier gibt es Scharen von Felsentauben – »Luftratten«, wie die Einheimischen sie nennen, obwohl sie die Vogel gerne braten und essen. Manche reden sogar von einer Delikatesse. Aber wahrend der letzten Wochen hie? ihr plotzliches Erscheinen immer, dass etwas Dusteres, Furchterliches bevorstand, das wenig mit einem Festmahl gemein hatte.

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