hilft ihr auf die Beine.

Chad blickt zu Boden. »Fuck it.« Er dreht sich um und geht davon.

Am nachsten Tag, unter einem eisigen, bewolkten Himmel, halten die restlichen Uberlebenden eine improvisierte Bestattungsfeier ab fur ihre gefallenen Freunde und Familienmitglieder.

Beinahe funfundsiebzig von ihnen stellen sich in einem gro?en Halbkreis um das Massengrab am ostlichen Rand des Lagers auf. Einige der Trauernden tragen flackernde Kerzen in den Handen, schutzen die Flammen vor dem bitterkalten Oktoberwind. Andere halten sich vor Trauer aneinander fest und schluchzen unkontrolliert vor sich hin. Der brennende Schmerz, der auf den Gesichtern klar zu erkennen ist – insbesondere auf denen der Eltern –, reflektiert die qualvolle Beliebigkeit dieser von der Plage heimgesuchten Welt. Ihre Kinder wurden mit der Willkurlichkeit und Plotzlichkeit eines Blitzschlags von ihnen genommen, ihr Gesichtsausdruck spiegelt ihre grenzenlose Trostlosigkeit wider, und ihre aufgequollenen Augen schimmern in der unnachgiebigen, silbernen Sonne.

Die Bewohner haben fur jedes Grab ein paar Steine in den Lehmboden gesteckt, und die Steinhaufchen erstrecken sich uber den langsam ansteigenden Zeltplatz bis hin zum Zaun. Zwischen einigen Steinen wurden ein paar wilde Blumen gesteckt. Josh Lee Hamilton hat extra darauf geachtet, dass Sarah Binghams Grab mit einem kleinen Bukett wunderschoner wei?er Rosen geschmuckt wurde, die an den Randern der Obsthaine wie Unkraut wachsen. Der gro?e Mann hatte die freche, schlagfertige Teenagerin in sein Herz geschlossen. Ihr Tod geht auch ihm sehr nahe.

»Herr, wir bitten dich, dass du unsere verlorenen Freunde und Nachbarn aufnimmst«, ertont jetzt Joshs Stimme vom Zaun her, und der Wind zerrt an seinem olivfarbenem Parka, der seine gewaltigen Schultern bedeckt. Sein tief eingeschnittenes Gesicht ist vor Tranen ganz feucht.

Josh ist baptistisch erzogen worden, und obwohl er mit den Jahren den Gro?teil seiner religiosen Erziehung hinter sich gelassen hat, wollte er diesen Morgen einige Worte sprechen, hat sogar die anderen darum gebeten. Baptisten geben nicht viel darauf, fur die Toten zu beten. Sie glauben, dass die Gerechten im Augenblick des Todes gen Himmel fahren, wahrend die Nichtglaubigen sofort in die Holle kommen. Und trotzdem wollte Josh das Wort ergreifen.

Noch am Morgen hat er Lilly getroffen, sie kurz in die Arme genommen und ihr etwas Besanftigendes zugeflustert. Aber er wusste, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas ging in ihr vor, das tiefer als nur Trauer sa?. Sie fuhlte sich leblos in seinen gigantischen Armen an. Ihr schlanker Korper erbebte immer wieder wie ein verletzter Vogel. Sie hat kaum etwas gesagt, nur darauf bestanden, dass sie allein sein wollte. Zur Beerdigung war sie nicht aufgetaucht.

»Wir bitten dich, bring sie an einen besseren Ort«, fahrt er fort, und sein tiefer Bariton uberschlagt sich beinahe vor Ergriffenheit. Die Aufraumarbeiten haben tiefe Spuren in ihm hinterlassen. Er versucht, sich zusammenzurei?en, aber seine Emotionen lassen seine Stimmbander erstarren. »Wir bitten dich, dass du … du …«

Er kann nicht weitermachen, dreht sich weg, lasst den Kopf hangen und seinen Tranen freien Lauf. Er kriegt keine Luft mehr, kann nicht an diesem Ort bleiben. Ohne wirklich zu wissen, was er tut, entfernt er sich von der Menge, weg von dem grasslichen, sanften Weinen und den vielen Sto?gebeten.

Heute hat ihm etwas gefehlt, selbst inmitten der Trauer der Beerdigung. Die Tatsache, dass Lilly Caul nicht dabei ist, tut ihm weh, aber er kann es kaum glauben, dass auch Chad Bingham weit und breit nicht zu sehen ist.

»Alles klar bei dir?« Lilly steht am Rand des Lagerplatzes und reibt sich nervos die Hande. Keine funf Meter hinter ihr ist Chad Bingham.

Der drahtige Mann mit der John-Deere-Kappe antwortet mit einem Schweigen. Er steht einfach nur da, an der Baumgrenze, den Kopf gesenkt mit dem Rucken zu ihr. Seine Schultern hangen herab, als ob das Gewicht der Welt auf ihnen ruhen wurde.

Kurz bevor die Beerdigung begann, uberraschte Chad Bingham Lilly, indem er bei ihr im Zelt auftauchte, um ein paar Worte mit ihr zu wechseln. Er meinte, dass er ein paar Sachen ins Lot rucken wolle. Beteuerte ihr, dass er sie nicht fur Sarahs Tod verantwortlich machte, und Lilly glaubte ihm, als sie den herzzerrei?enden Blick in seinen Augen sah.

Deshalb ist sie ihm auch hierher gefolgt, an den nordlichen Rand des Camps, zu einer kleinen Lichtung inmitten der dichten Baume. Sie ist keine zwanzig Quadratmeter gro?, der Boden mit Kiefernnadeln ubersat. Um sie herum liegen mit Moos bewachsene Steine. Uber ihnen rauscht das Blattwerk, welches das graue Tageslicht in dicken Strahlen einlasst. Die kalte Luft riecht nach Zerfall und Tierkot.

Die Lichtung ist weit genug vom Lager entfernt, dass man sie nicht einsehen kann.

»Chad …« Lilly will etwas sagen, will ihm beichten, wie sehr es ihr leid tut. Es ist das erste Mal, seit sie ihn kennt, dass sie ihn als ganz normalen, zerbrechlichen Menschen sieht. Anfangs war sie wegen seiner Affare mit Megan entsetzt, insbesondere da er es ganz offen vor den Augen seiner Frau mit ihr getrieben hat. Jetzt aber zeigt er Schwache, Furcht, Emotionen, ist verwirrt und von dem Verlust seiner Tochter am Boden zerstort.

Mit anderen Worten: Er ist nicht mehr und nicht weniger als jeder andere auch, und Lilly verspurt eine Welle der Sympathie fur ihn. »Willst du daruber reden?«, fragt sie endlich.

»Yeah, vielleicht schon … vielleicht aber auch nicht … ich wei? nicht.« Er dreht ihr noch immer den Rucken zu. Seine Stimme entweicht ihm wie aus einem undichten Wasserhahn – sto?weise. Die Trauer, die auf seinen Schultern lastet, lasst ihn im Schatten der Kiefern erzittern.

»Es tut mir so leid, Chad.« Lilly nahert sich ihm, legt eine Hand vorsichtig auf seine Schulter. »Ich wei?, es gibt nichts, was man sagen kann … Vor allem jetzt.« Sie redet mit seinem Rucken. Auf dem Plastikstreifen seiner Kappe steht SPALDING. Das kleine Tattoo einer Schlange ragt aus seinem Hemdkragen. »Ich wei?, dass es nur bedingt ein Trost sein kann«, fugt Lilly hinzu, »aber Sarah ist wie eine Heldin gestorben. Sie hat das Leben ihrer Schwestern gerettet.«

»Hat sie das?« Seine Stimme ist kaum lauter als ein Flustern. »Sie war ein so gutes Madchen.«

»Das war sie … Sie war toll.«

»Findest du?« Er hat ihr noch immer den Rucken zugewandt, den Blick noch immer zu Boden gerichtet, die Schultern zucken noch immer.

»Ja, das tue ich, Chad. Sie war eine Heldin. Sie war einzigartig.«

»Ehrlich? Glaubst du das?«

»Ja, das glaube ich.«

»Warum hast du dann nicht Gott verdammt noch mal deine Schei?pflicht getan?« Chad dreht sich um und schlagt Lilly so hart mit dem Handrucken, dass sie sich in die Zunge bei?t. Ihr Kopf schnellt zuruck, und sie sieht Sternchen.

Chad schlagt erneut zu, und Lilly stolpert ruckwarts, fallt uber in die Luft ragende Wurzeln zu Boden. Chad baut sich uber ihr auf, die Hande zu Fausten geballt, seine Augen blitzen. »Du blode, nutzlose Kuh! Du hast nur auf meine Madchen aufpassen sollen, mehr nicht! Sogar ein verkackter Affe hatte das geschafft!«

Lilly versucht wegzurollen, aber Chad trifft sie mit der Stahlkappe seiner Arbeitsschuhe in die Hufte. Der Schmerz betaubt sie fast. Sie ringt nach Luft, und ihr Mund fullt sich mit Blut. »B… bitte, Cha…«

Er greift nach ihr, rei?t sie hoch, halt sie am Sweatshirt fest. Er faucht sie an, sein saurer Atem fuhlt sich hei? auf ihrem Gesicht an. »Glauben du und deine Schlampenfreundin etwa, dass das hier eine einzige, gro?e Party ist? Hast du gestern Gras geraucht? Ha? HA?«

Chad holt erneut aus und landet einen rechten Haken gegen Lillys Kiefer. Sie sackt zu Boden, landet wie ein Haufen Elend mit zwei angebrochenen Rippen und so viel Blut im Mund, dass sie nicht mehr atmen kann. Eine Eiseskalte ergreift von ihr Besitz, und alles um sie herum verschwimmt.

Sie kann Chad Binghams drahtige Gestalt kaum ausmachen wie er uber ihr steht, sich dann auf sie herabfallen lasst, sich mit gespreizten Beinen auf sie setzt. Aus seinem Mund flie?t der Speichel unkontrollierter Wut. »Antworte endlich! Hast du Gras geraucht, wahrend du auf meine Kinder aufpassen solltest?«

Lilly verspurt Chads eisernen Griff um ihren Hals. Er schlagt ihren Hinterkopf wiederholt auf den harten Boden. »ANTWORTE MIR, DU VERFICKTE …«

Ohne Vorwarnung erscheint eine dritte Figur hinter Chad Bingham und zieht ihn von Lilly herunter. Lilly ist dankbar, hat aber keine Ahnung, wer ihr Retter in der Not sein konnte.

Sie sieht lediglich eine verschwommene Gestalt – so gro?, dass sie sogar die Sonne verdunkelt.

Josh packt Chad Bingham an der Jeansjacke und zerrt ihn dann mit einem gewaltigen Ruck nach hinten.

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