Die Witterung verleiht der Situation einen noch dramatischeren Touch. Josh zurrt die Taschen fest und wirft einen Blick uber die Schulter auf Lilly, die drei Meter entfernt von ihm am Stra?enrand steht und einen uberquellenden Rucksack aufsetzt. Sie zuckt vor Schmerz zusammen, als sie an den Riemen zieht.
Im Zeltlager stehen drei Manner und eine Frau mittleren Alters, die selbst ernannten Anfuhrer, und schauen zu. Josh will ihnen etwas Sarkastisches, Vernichtendes zurufen, halt sich aber zuruck. Stattdessen wendet er sich Lilly zu und fragt: »Bist du so weit?«
Ehe Lilly antworten kann, ertont eine Stimme von der ostlichen Abgrenzung des Zeltlagers.
»Nicht so eilig, Leute!«
Bob Stookey erscheint hinter seinem Zelt. Er tragt eine gro?e Tasche auf dem Rucken. Man kann horen, wie Flaschen aneinander schlagen – wohl sein privater Vorrat an »Medizin«. Er hat einen merkwurdigen Gesichtsausdruck – eine Mischung aus Erwartung und Verlegenheit und geht ruhigen Schrittes auf sie zu. »Ehe ihr in Richtung Sonnenuntergang fahrt, mochte ich euch noch eine Frage stellen.«
Josh blickt ihn fragend an. »Bob, was soll das? Was geht hier vor sich?«
»Ich will nur eins von dir wissen«, erwidert der alte Sani. »Hast du eine Erste-Hilfe-Ausbildung gemacht?«
Lilly gesellt sich jetzt zu den beiden Mannern, die Stirn vor Verwirrung gerunzelt. »Bob, was konnen wir fur dich tun?«
»Eine einfach Frage, Lilly – hat auch nur einer von euch beiden Haudegen einen medizinischen Hintergrund?«
Josh und Lilly tauschen Blicke aus. Josh gibt einen Seufzer von sich. »Nicht dass ich wusste, Bob.«
»Dann will ich noch eine Frage stellen. Wer in Gottes Namen soll sich um Lillys Auge kummern, falls es zu einer Infektion kommt?« Er deutet auf Lillys blutiges Sehorgan. »Oder ihre Rippen uberprufen?«
Josh schaut Bob in die Augen. »Was willst da damit sagen, Bob?«
Der alte Mann deutet mit einem Daumen auf seinen Truck, der hinter ihm auf dem Schotterweg steht. »Wenn ihr schon in die gro?e, weite Welt hinauswollt, dann wurde ich euch raten, einen von der US-Armee qualifizierten Sanitater mit dabeizuhaben.«
Sie laden ihr Zeug in Bobs Truck um. Der alte Dodge ist ein Monster – voller Rostnarben und Beulen. Er besitzt einen Camper-Aufsatz auf der langen Ladeflache, dessen Fenster so zerkratzt sind, dass sie wie Milchglas aussehen. Lillys Rucksack und Joshs Seitentaschen passen durch die Hintertur und landen auf diversen Haufen alter, dreckiger Kleidung und halb leeren Flaschen mit billigem Whiskey. Der Aufsatz ist mit zwei klapprigen Kojen, einem gro?en Kuhlschrank, drei mitgenommenen Erste-Hilfe-Kasten, einem zerfledderten Koffer, zwei Gasflaschen, einer alten Arzttasche aus Leder, die aussieht, als ob sie aus einem Pfandleihgeschaft stammt, und einer Reihe von Gartenwerkzeugen ausgestattet, die gegen die Wand zur Fahrerkabine gelehnt sind – darunter Schaufeln, eine Hacke, einige Axte und eine furchterregend aussehende Heugabel. Die gewolbte Decke ist hoch genug, dass man im gebuckten Gang darin gehen kann.
Als er seine Taschen verstaut, sieht Josh Teile eines gro?kalibrigen Gewehres herumliegen, aber keine Munition. Bob tragt eine .38er mit kurzem Lauf bei sich, aber mit der ein ruhendes Ziel in zehn Metern Entfernung bei Windstille zu treffen ware ein Kunststuck – selbst in nuchternem Zustand, welches bei Bob nicht allzu oft der Fall ist. Josh macht sich nichts vor, er wei?, dass sie Waffen und Munition brauchen, wenn sie nicht als Zombie- Futter enden wollen.
Er tritt aus dem Camper-Aufsatz und schlie?t die Tur hinter sich. Plotzlich verspurt er ein Brennen im Nacken, als ob ihn jemand beobachten wurde.
»Hey, Lil!«
Die Stimme kommt ihm bekannt vor, und als er sich umdreht, sieht er Megan Lafferty, das Madchen mit den dicken braunen Locken und der freizugigen Libido. Sie steht keine zwei Wagenlangen entfernt neben dem Schotterweg. Sie halt Handchen mit dem Pot-Raucher – wie hei?t er noch mal? –, der mit den strahnigen blonden Haaren im Gesicht und dem verdreckten Pullover. Steve? Shawn? Josh kann sich nicht erinnern. Das Einzige, was er noch wei?, ist, dass er den ganzen Weg von Peachtree City Megans Herumhuren dulden musste.
Jetzt stehen die beiden Druckeberger vor ihm und starren ihn wie Raubvogel an.
»Hey, Meg«, beginnt Lilly sanft und etwas skeptisch, als sie um den Truck herum kommt und sich neben Josh stellt. In der unbehaglichen Stille kann man Bob horen, wie er unter der Motorhaube werkelt.
Megan und der Pot-Raucher kommen vorsichtig naher. Megan wahlt ihre Worte gut, als sie Lilly anspricht: »Dude, ich habe gehort, ihr sucht euer Gluck woanders.«
Der Pot-Raucher neben Megan fangt zu kichern an. »Gluckssucher, hehe …«
Josh wirft dem Jungen einen Blick zu. »Und was konnen wir fur euch gute, junge Menschen tun?«
Megan starrt weiterhin Lilly an. »Lil, ich wollte nur sagen … Ah … Ich hoffe, du bist nicht sauer auf mich oder so.«
»Warum sollte ich denn auf
Megan senkt den Blick. »Mir sind da ein paar Sachen uber die Lippen gekommen … Ich habe nicht gewusst, was sich sage … Ich wollte nur … Ach, keine Ahnung. Ich wollte mich nur bei dir entschuldigen.«
Josh mustert Lilly, und in dem kurzen Augenblick, ehe sie Megan antwortet, sieht er in ihr den Kern, der Lilly Caul ausmacht: Ihr verprugeltes Gesicht nimmt einen weichen Ausdruck an, ihre Augen fullen sich mit Vergebung. »Du musst dich fur nichts entschuldigen, Meg«, beruhigt Lilly ihre Freundin. »Wir versuchen doch alle nur, das Beste draus zu machen.«
»Der hat dir wirklich eins gewischt – verdammt!«, staunt Megan, als sie Lillys kaputtes Gesicht aus der Nahe sieht.
»Lilly, wir mussen uns auf die Socken machen«, meldet sich Josh zu Wort. »Es wird bald dunkel.«
Dann beugt sich der Pot-Raucher zu Megan und flustert: »Hey, willst du sie jetzt fragen oder nicht?«
»Was willst du denn fragen, Meg?«, will Lilly wissen.
Megan fahrt sich mit der Zunge uber die Lippen und wendet sich dann an Josh. »Das ist totale Schei?e, wie die dich behandeln,
Josh nickt ihr kurz angebunden zu. »Danke, Megan, aber wir mussen jetzt los.«
»Nehmt uns mit.«
Josh wirft Lilly einen Blick zu, aber sie starrt ihre Freundin an. Endlich meint sie: »Ah, du musst verstehen, die Sache ist so …«
»Je mehr wir sind, desto sicherer ist es,
Megan hebt plotzlich die Hand. »Scott, wenn du mal nur
Josh verschrankt die Arme und erwidert ihren Blick. »Du bist an alldem nicht ganz unschuldig.«
»Josh …« Lilly mochte auch etwas dazu sagen.
Megan senkt den Kopf und steht da wie ein begossener Pudel. »Nein, lass sein, Lilly. Es stimmt ja alles. Das habe ich mir schon selbst eingehandelt. Vielleicht habe ich einfach … einfach die Regel vergessen.«
In der darauffolgenden Stille – man kann lediglich den Wind in den Baumen rauschen und Bob unter der Motorhaube fummeln horen – rollt Josh die Augen. Er kann es selbst kaum fassen, was er jetzt sagen will. »Dann holt mal eure Siebensachen – und macht schnell!«
Megan und Scott sitzen hinten in dem Camper-Aufsatz. Bob fahrt. Josh ist auf dem Beifahrersitz, wahrend Lilly in dem kleinen Raum hinter den beiden kauert. Der Truck hat hinter den beiden vorderen Sitzen eine schmale, herunterklappbare Koje, die gleichzeitig als Sitz dienen kann. Lilly hat es sich dort mehr schlecht als recht bequem gemacht und halt sich an dem Gelander fest. Mit jedem Schlagloch oder jeder Kurve fahrt es ihr in die Rippen, dass sie am liebsten laut aufschreien wurde.
Sie sieht, wie die Baume an beiden Seiten des Stra?enrands immer dunkler werden, wahrend sie die kurvenreiche Stra?e durch die Obsthaine entlangfahren. Die Schatten des Spatnachmittags werden immer langer, und die Temperaturen fallen schlagartig. Die Heizung des klapprigen Trucks kampft hoffnungslos gegen die eindringende Kalte an, und die Luft in der kleinen Fahrerkabine stinkt nach altem Schnaps, Rauch und Schwei?. Durch die Luftung dringen die fur den Herbst in Georgia so typischen Geruche von Tabakfeldern und vermoderndem