jetzt merkt Philip zum ersten Mal, dass ihm dieser Taugenichts von Bruder offenbar helfen und auch seinen Mann stehen will. Brian hingegen genie?t Philips Anerkennung sichtlich.

Nick ist noch immer nicht uberzeugt. »Und fur wie lange? Ich komme mir hier wie ein Lockvogel vor.«

»Wir wissen doch gar nicht, was hier vor sich geht«, sagt Brian. Seine Stimme klingt heiser und irgendwie manisch. »Wir haben noch immer keine keine Ahnung, was das hier ausgelost hat und wie lange es dauern wird … Vielleicht wird ja bald herausgefunden, wie man es bekampfen kann, oder man entdeckt ein Gegenmittel oder so … Die konnten Chemikalien aus Spruhflugzeugen spritzen, oder die Gesundheitsbehorde bekommt alles unter Kontrolle … Kann doch sein. Ich glaube, Philip hat recht. Wir sollten hier ein wenig entspannen und Kraft tanken.«

»Verdammt richtig«, stimmt Philip mit einem Lacheln ein, die muskulosen Arme noch immer verschrankt. Er zwinkert seinem Bruder zu.

Brian zwinkert zufrieden zuruck und nickt Philip zu, wahrend er sich eine Haarstrahne aus den Augen wischt. Er atmet tief ein und tritt dann triumphierend zu der Flasche Whiskey, die auf dem Tisch neben Philip steht. Rasch fasst er in einer flie?enden Bewegung danach, die eine Korperbeherrschung verrat, welche er schon seit Jahren nicht mehr an den Tag gelegt hat. Er fuhrt die Flasche zum Mund und nimmt einen gro?en Schluck mit der siegessicheren Geste eines Wikingers, der seine erste erfolgreiche Jagd feiert.

Kaum beruhrt der erste Tropfen Whiskey seine Kehle, krummt sich Brian jedoch zusammen und schuttelt sich vor Husten. Der Whiskey in seinem Mund spritzt durch die Kuche. Er hustet und hustet, bis er vollig au?er Atem ist. Einen Augenblick lang schauen ihn die anderen hilflos an. Penny ist wie vom Blitz geruhrt und starrt ihn mit ihren riesigen Augen an, wahrend sie sich die Whiskeytropfen von der Wange reibt.

Philip betrachtet seinen erbarmlichen Bruder und wirft dann seinen Kumpels einen Blick zu. Vor der Speisekammer hat Bobby Marsh seine Schwierigkeiten, ein Lachen zu unterdrucken. Nick kann das Zucken um seine Mundwinkel kaum bandigen. Philip versucht etwas zu sagen, kann dann aber nicht anders und beginnt zu lachen. Das Lachen wirkt ansteckend, und die anderen fangen jetzt ebenfalls an.

Bald sind alle au?er Rand und Band – selbst Brian –, und zum ersten Mal seit dem Beginn dieses schrecklichen Albtraums ist es ein echtes, wirkliches Lachen. Einen Moment lang ist es wie eine Befreiung von dem Dusteren und unheimlich Zerbrechlichen, das in allen von ihnen lauert.

In der Nacht halten sie Wache und schlafen nur abwechselnd. Jeder bekommt sein eigenes Zimmer im ersten Stock. Die zuruckgebliebenen Gegenstande der ehemaligen Bewohner wirken dabei wie unheimliche Objekte aus einem Museum: ein Nachttisch mit einem halbvollen Glas Wasser, ein John-Grisham-Roman, der nie zu Ende gelesen wird, zwei Pompons fur eine Cheerleaderin uber dem Himmelbett in einem Madchenzimmer.

Den Gro?teil der Nacht sitzt Philip im Wohnzimmer im Erdgeschoss und wacht uber das Haus. Neben ihm auf einem Beistelltisch liegt seine Pistole. Penny befindet sich unter mehreren Decken auf dem gro?en Sofa neben seinem Stuhl. Sie versucht vergeblich einzuschlafen. Gegen drei Uhr morgens, als Philips gequalte Gedanken immer wieder zu dem unheilvollen Unfall seiner Frau zuruckdriften, bemerkt er aus den Augenwinkeln, dass sich Penny noch immer unruhig hin und her walzt.

Philip lehnt sich zu ihr hin, streicht ihr uber die dunklen Haare und flustert: »Kannst du nicht schlafen?«

Das kleine Madchen zieht sich die Decke bis zum Kinn und blickt zu ihm auf. Sie schuttelt den Kopf. Das orangefarbene Gluhen des Heizlufters, den Philip neben die Couch gestellt hat, verleiht ihrem blassen Gesicht etwas Engelhaftes. Von drau?en tragt der Wind den schrillen Sprechchor aus unentwegtem Stohnen herein, der trotz des leisen Blasens des Heizlufters gerade noch wahrzunehmen ist. Er lasst an die Brandung unwirklicher Wellen denken, die auf die Kuste treffen.

»Daddy ist bei dir, Schatz. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, beruhigt Philip sie liebevoll und streichelt ihr uber die Wange. »Ich werde immer fur dich da sein.«

Sie nickt.

Philip schenkt ihr ein Lacheln. Er beugt sich uber sie und gibt ihr einen Kuss auf die linke Augenbraue. »Niemand und nichts wird dir etwas antun. Dafur werde ich sorgen.«

Sie nickt erneut. Der kleine Pinguin lugt zwischen ihrem Hals und ihrem Kinn hervor. Sie blickt ihn an und runzelt die Stirn. Dann hebt sie ihn an ihr Ohr, als ob sie ihm zuhoren wurde, wahrend er ihr ein Geheimnis anvertraut. Danach schaut sie wieder zu ihrem Vater hoch. »Daddy?«

»Ja, mein Schatz?«

»Pinguin mochte etwas wissen.«

»Was denn?«

»Pinguin mochte wissen, ob die Leute krank sind.«

Philip holt tief Luft. »Sag dem Pinguin: Ja, sie sind krank. Die sind viel mehr als nur krank. Und darum haben wir sie … haben wir sie von ihrem Leid erlost.«

»Daddy?«

»Ja?«

»Pinguin will wissen, ob wir auch krank werden.«

Philip streicht ihr erneut mit der Hand uber die Wange. »Nein, meine Kleine. Sag Pinguin, dass wir gesund bleiben. Gesund genug, um Baume auszurei?en.«

Das scheint das Madchen so weit zu beruhigen, dass es sich von ihrem Vater abwendet und erneut in die Luft zu starren beginnt.

Gegen vier Uhr morgens qualt sich ein weiterer unruhiger Geist mit anderen unbeantwortbaren Fragen. Unter einem Haufen Decken, den dunnen Korper lediglich in T-Shirt und Unterhose gehullt, treibt das Fieber Brian Blake den Schwei? auf die Stirn. Im Zimmer des toten Madchens dieses Hauses starrt er auf die stuckverzierte Decke und uberlegt, ob die Welt wohl so enden soll. War es nicht Rudyard Kipling, der einmal sagte, dass die Welt nicht mit einem Knall, sondern mit Gewimmer untergehen wird? Nein, einen Augenblick … Das war Eliot. S. Eliot. Brian erinnert sich daran, das Thema dieses Gedichts an der Uni behandelt zu haben. Hie? es nicht Die hohlen Manner? Es war an der Universitat von Georgia gewesen, in einem Kurs fur vergleichende Literaturwissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert. Dieses Studium hatte ihm wirklich verdammt viel gebracht.

Er liegt da und grubelt uber seine Misserfolge nach – wie jede Nacht. Doch diesmal mischen sich auch die Eindrucke des Gemetzels hinein, wie schreckliche Bilder aus einem Snuff-Film, die sich in sein Bewusstsein drangen.

Alte Damonen tauchen wieder auf, vermengen sich mit neuen Angsten und qualen ihn bis in sein Innerstes: Hatte er etwas tun oder sagen konnen, um seine Exfrau Jocelyn bei sich zu behalten und sie davon abzubringen, ihm diese ganzen schrecklichen Vorwurfe zu machen, ehe sie ein fur alle Mal zuruck nach Montego Bay fuhr? Kann man Monster mit einem einzigen Hieb auf den Kopf toten, oder muss man auch das Hirngewebe zerstoren? Hatte er etwas tun konnen – selbst betteln oder sich Geld leihen –, um seinen Musikladen in Athens zu behalten, der einzige seiner Art im Suden, seine grandiose Idee eines Ladens, der ausschlie?lich Hip-Hop-Kunstler mit neu ausgestatteten Plattenspielern, gebrauchten Bassboxen und protzigen Mikros im Stil von Snoop Doggs Bling bediente? Wie schnell wachst die Zahl der unglucklichen Opfer da drau?en eigentlich? Handelt es sich um eine luftubertragene Krankheit oder verbreitet sie sich uber das Wasser wie der Ebolavirus?

Seine Gedanken drehen sich eine Weile im Kreis, bevor er sich wieder auf das Hier und Jetzt besinnt. Er kann das Gefuhl nicht abschutteln, dass sich das siebte Familienmitglied, das hier einmal gewohnt hat, noch immer irgendwo im Haus befindet.

Jetzt, da er Bobby und Nick dazu brachte hierzubleiben, muss er erst recht immer wieder an den Jungen denken. Er nimmt jedes Knarzen, jedes noch so leise Gerausch des Hauses wahr, selbst das Surren der Heizung, wenn sie anspringt. Aus ihm unerfindlichen Grunden ist er sich absolut sicher, dass sich der blonde Junge noch im Haus befindet und wartet, bis … Ja, bis was? Vielleicht wurde der Kleine ja gar nicht angesteckt. Vielleicht schlottert er stattdessen vor Angst in einem Versteck.

Ehe sie zu Bett gingen, bestand Brian noch einmal darauf, dass sie das ganze Haus von oben bis unten durchsuchen. Philip war mitgekommen, den Pickel in einer Hand und eine Taschenlampe in der anderen. Sie hatten jeden Winkel im Keller, jeden Schrank, jede Kammer und samtliche Abstellkammern kontrolliert. Selbst die Tiefkuhltruhe im Keller, die Waschmaschine und den Trockner durchforsteten sie nach unwillkommenen Gasten. Nick und Bobby waren fur den Dachboden zustandig und stoberten zwischen Koffern, Kisten und in Kleiderschranken. Philip sah unter jedes Bett und hinter jede Kommode. Obwohl sie nicht das fanden, wonach sie suchten, machten sie doch die eine oder andere nutzliche Entdeckung.

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