und zerrissen, so verbittert und verlassen. wie du.«

Der Jungling nickte.»Hab' keine Angst. Und bitte, geh jetzt. Ich komme nach. man konnte uns belauschen und verraten.«

Noch einmal ku?ten sie sich, dann eilte Trudel aus der Laube, huschte den Weg hinab und nickte im Laufen einmal kurz zuruck. Der Jungling sah ihr nach, bis ihr wehender Mantel und die flatternden, blonden Haare sich in dem Vorhang rieselnder Flocken auflosten und der lautlose Fall des Schnees ihre Spuren verwischte.

Dann trat er aus der Laube, pre?te den Kragen seines Rockes fest an den Nacken und eilte mit langen Schritten dem dunklen Hause zu.

Als Otto Heinrich am nachsten Morgen in seiner kleinen Kammer erwachte und ein langfadiger Dezemberregen gegen die klappernden Schindeln des Daches und das schmale, halbblinde Lukenfenster perlte, fand er das Bett Willi Bendlers schon verlassen, die Decken sauberlich gefaltet und hergerichtet. Die mit neuem Wasser gefullte Waschschussel war in die Nahe von Kummers Liegestatt auf einem holzernen Hocker geruckt, das Rollhandtuch war von der Stange auf dem engen Flur abgenommen und gefaltet neben das Seifenschalchen gelegt, und sogar die kleine Vase mit ein paar bunten Strohblumen, die Bendler einmal von der Jungfer Trudel aus den unteren Raumen zugesteckt erhielt, stand auf dem Hocker — wie ein

Gru?!

Mit einem unerklarlichen Gefuhl der Angst erhob sich Kummer und ging zum Bette Bendlers, auf dessen Kopfkeil er jetzt ein zusammengefaltetes Papier sah.

Ein rasendes Herzklopfen erstickte plotzlich den Atem des Provisors. Ein leeres Bett, ein Brief auf der Decke und drau?en ein grauer, regnender Winterhimmel, der den Schnee von gestern erweichte, zusammenschmelzen lie? zu einer laufenden, breiigen Masse, zu Schlamm und kaltem, grauem Morast. mein Gott. Willi Bend-ler. Bendler. das ist doch nicht moglich.!

Otto Heinrichs Hand griff nach dem Brief, dann zuckte er zuruck und lie? das Papier liegen. Die immer schwerer werdende Angst schnurte die Kehle zu.

«Mein Gott. das kann doch nicht sein!«stammelte Kummer und starrte auf den wei?en Brief. Zogernd trat er wieder auf das Bett zu, nahm mit einem tiefen Atemzug das Papier von der Decke, zogerte wieder und entfaltete es dann entschlossen mit schnellen, uberhastigen Griffen.

«Mein lieber Otto Heinrich«, las er, dann verschwammen die Buchstaben einen Augenblick vor seinen Augen, er setzte sich auf Bendlers Bett und starrte vor sich auf den Bretterboden. Nach einer langen Pause erst nahm er den Brief wieder auf und begann ihn langsam zu lesen.

«Das Leben ist wie der Stall des Augias, fur den sich kein Herakles findet«, stand da in Bendlers klotziger Schrift.»Ich aber bin kein Mensch, der in der Stille sitzt und zusieht, wie der Kot sich hauft und hoher, immer hoher steigt, bis er den Mund erreicht und wir an unserem eigenen Dreck ersticken. Ich mu? hinaus, ich bin ein Raubtier, das die Freiheit kennt und in den Kafigen der allgemeinen Sitte zur Flote burgerlicher Angstmoral tanzen und feixen mu?. Ich liebe Menschentum, wenn es sich dehnt und seine Krafte kennt und segenbringend nutzt. Ich liebe dieses Leben, wenn es den Zweck ergreift, den Menschen zu ver-edeln und zu heben. Ich liebe alles, was mich Mensch sein la?t in einer Freiheit, wo die Krafte spielen und die Wahrheit mehr ist als ein Anstandswort des burgerlichen Katechismus. Und darum gehe ich! Nenn' mich jetzt untreu, unmoralisch, einen Schuft — einst wirst Du sehen, da? es mehr gibt als die Pflicht von Mann zu Mann — die Pflicht zum Leben und die Verantwortung vor unserem Menschentum. - Verzeih, wenn ich so gehe. Ich wollte Dich nicht sprechen, weil ich dann nicht hatte gehen konnen. Nun bist Du einsam — ist die Einsamkeit zu gro?, so komm zu mir. Ich bin Dir stets ein Freund. Du findest mich uberall, wo sich das Neue Bahn bricht. Leb wohl, ich wei?, da? Du einst kommst. Wir durfen unser Leben nicht ertraumen — wir mussen es entdecken und erobern. Immer.

Dein Willi Bendler.«

Und ganz am Rande stand, eiligst hingeworfen, ein Satz, der so voll Willi Bendler war, da? Otto Heinrich trotz der Besturzung seines Herzens lacheln mu?te:

«Dem Prinzipal gib als meinen letzten Gru? das schone Drama unseres Goethe >Gotz von Berlichingen<. Er wird die Stelle kennen, die ich ihm zum Abschied sage — zum Gurgeln hinterher empfehle ich dann Salbeitee.«

Allein in einer schmalen Kammer unter klappernden Ziegeln, im Hause ein Mann, der einen ha?te mit aller Glut und Inbrunst, die in den Hirnen aufgescheuchter Eremiten spukt, ein Madchen, das man liebt und ku?t und das auf ihrer Seele noch den Glanz der Unschuld tragt und das so weit ist, unerreichbar, sternenhaft nur wunschenswert, weil dieses Leben Schranken setzt und die Vernunft in Hohn verwandelt. O wie grausam, wie ekelhaft, wie sinnlos ist doch das Leben.

Otto Heinrich Kummer stohnte zwischen den Handen, mit denen er seinen Kopf hielt. Er ahnte plotzlich, wie nahe der Wahnsinn bei der Wahrheit liegt. Er zitterte bei dem Gedanken, zu le-ben, um stundlich, von Minute zu Minute, im Ticken des Sekundenzeigers, diesem abscheulichen, erbarmungslosen, perversen Ticken der Uhr, sich dem Grabe zu nahern und am Ende des Wan-derns zu sehen: das Leben war schon, aber jetzt, wo der Sprung ins Dunkel, ins ewige Vergehen, in das Ausgeloschtsein beginnt, sinnlos in seiner Hast und seinen Idealen, denn was sind 60 oder 70 oder 80 Jahre, wenn das Dunkel kommt und kein Erinnern, kein Beschauen seines Lebens?! Warum sich qualen, wenn der Lohn der Qual das Nichts ist?

Otto Heinrich Kummer bedeckte die Augen mit den Handen und warf sich auf das Bett des Freundes, das Gesicht in die Decken gepre?t. So lag er eine lange Zeit, bis er sich muhsam aufrichtete, den Brief faltete und an das kleine Lukenfenster trat.

«Man konnte sich vom Dache in den Garten fallen lassen«, dachte er schaudernd und wandte sich ab, wusch sich, kleidete sich an, richtete das Bett, luftete das Zimmer, alles mit seelenlosen, mechanischen Griffen. Dann steckte er den Brief Bendlers in die Rocktasche, ging die steile, knarrende Treppe hinunter, offnete die Tur zum Vorderhaus, ging den teppichbelegten Flur entlang, blickte auf halbem Wege in den breiten Trumeau-Spiegel, neben dem zu beiden Seiten Jagdtrophaen verstaubten, und zogerte erst vor der Tur des Wohnzimmers des Prinzipals.

Ein leichter Schritt auf dem Teppich lie? ihn herumfahren.

Trudel schlupfte aus der Kuche, gab ihm einen schnellen Ku? und flusterte mit einem Blick auf die Zimmertur:

«Der Vater ist wutend! Bendler hat den Laden nicht aufgeschlossen und die Decken vom Schaufenster genommen. Die Gesellen standen vor der Tur und konnten nicht herein. Man dachte in der Stadt schon, es sei etwas geschehen. Und auch du warst nicht da und kommst erst jetzt! Der Vater schiebt die Schuld dir zu: du seiest als Provisor sein Stellvertreter. Er wird schimpfen. «Und plotzlich zuckte die Angst durch ihren Blick.»Denk an gestern nacht, Liebster. Nimm es dem Vater nicht ubel. Schweige, ertrage es. es geht voruber. Denk an uns. Du wei?t ja, was mit Vater ist… nicht wahr… du denkst daran?«

Otto Heinrich wurgte es in der Kehle. Er nickte, strich ihr uber die blonden Flechten, knickte den Zeigefinger und klopfte hart an die Tur.

Ein lautes, herrisches, zorniges» Herein!«tonte durch das Holz. Schnell verschwand Trudel in der Kuche.

Mit einem Ruck offnete Otto Heinrich die Tur und trat ein.

Am Tisch sa? zornrot der Prinzipal und hob die Hand.

«Herr Kummer. ich.«

Doch eine Armbewegung Kummers lie? ihn schweigen. Stumm sahen sich die Manner an. Dann sagte Otto Heinrich:

«Willi Bendler ist heute nacht gefluchtet — in die Freiheit!«

Dann drehte er sich brusk um und verlie? den Raum.

Starr sah ihm der Apotheker nach, unglaubig, erschreckt, sprachlos.

Und er starrte noch immer auf die geschlossene Tur, als unten im Laden das Leben begann.

Kapitel 3

Kurz vor Weihnachten, es mag Freitag, der 12. Dezember 1834 gewesen sein, brachte der Postmeistergeselle von Frankenberg einen versiegelten Brief, der mit der Abendpost gekommen war, in das Haus

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