«Ich komme, Vater«, flusterte er.»Ich komme zu euch zuruck. Wartet auf mich. Ich komme.«

So lag er mit geschlossenen Augen, unter deren Lidern die Tranen hervorquollen, und regte sich nicht. Unmerklich dammerte er hinuber in die Welt des Traumes, und als die blakende Lampe den letzten Tropfen Ol saugte und flackernd erlosch, schlief er endlich ein.

Otto Heinrich erwachte erst, als die vereinzelten Schneeflocken sich zu einer lautlosen Flut vereinigt hatten, die unaufhorlich niederrieselte und das Stadtchen, den Wald und die Berge einwattete. Der fahle Tag, der sich durch den grauuberzogenen Himmel qualte, war schon ein Stuck vorubergeschritten, die Turmuhr zitterte mit ihrem Schlag durch das lautlose Geriesel und verriet, da? es die neunte Stunde sei, und Otto Heinrich, den es in seinen Kleidern auf dem Bett erbarmlich fror, erhob sich vor Kalte zitternd, tappte auf den Flur, wusch sich unter Schutteln in dem schmalen Becken, feuchtete mit Wasser die wirrgelegenen Haare an und burstete sie dann mit einer kleinen Taschenburste.

Da es Sonntag war, kleidete er sich um, fuhr in die graue, enganliegende Hose und den steifen, gefutterten Winterrock aus weinrotem, flandrischem Tuch, suchte einen reinen, steifen Eckenkragen und eine blaugraue breite Halsschleife, legte beide an und besah sich dann in dem niedrigen Spiegel, noch immer etwas verschlafen, ubelgelaunt und frierend.

Er zog die Decke des nichtbenutzten Bettes glatt, raumte die Tranlampe zur Seite, faltete den Brief nach einem kurzen Zogern und steckte ihn in den Rock und trat dann auf die Treppe, hinunter zum Fruhstuckstisch zu gehen.

Von unten, uber den Korridor, hallte die helle Stimme von Trudel. Dann klappte eine Tur, und das Haus lag wieder still.

Mit langen Schritten eilte Otto Heinrich die Treppe hinab, durchma? den Flur mit einigen Satzen und klopfte dann energisch an die

Tur des Speisezimmers.

«Bitte!«ertonte eine harte Stimme als Antwort. Der alte Knackfu? schien ubler Laune zu sein. Nichts Neues an ihm, dachte Kummer und druckte die Klinke herunter.

Als er eintrat, sah ihm der Apotheker zuerst erstaunt entgegen — dann sprang er auf, eine leichte Rote durchzuckte sein Gesicht, die Augen wurden glasern, farblos, schlangenhaft.

«Sie?«sagte er gedehnt.»Ich dachte, Sie wunschen allein zu essen?«

«Mein Vorsatz hat sich nicht geandert«, antwortete Otto Heinrich kuhl.»Ich habe lediglich um eine Bitte nachzusuchen.«

«Ich hore.«

«Mein Vater bittet mich, die Feiertage in Dresden zu verleben. Wenn seine Bitte nicht dringlich ware und familiare Sorgen eine Sprache sprachen, wurde ich mich nicht an Sie gewandt haben. So aber bitte ich um Urlaub uber Weihnachten.«

Kummer hatte hoflich, aber im bestimmten Ton gesprochen. Dem Apotheker aber, dem Unterwurfigkeit des Personals das Bewu?tsein seiner kleinen Macht stets von neuem nahrte, gefiel die Sprache nicht. Er runzelte die Stirn, musterte den Provisor vom Kopf bis zu den Schuhen, drehte sich dann schroff um und ging zu seinem Pfeifenstander.

«Urlaub? Kaum gekommen und schon Urlaub?«sagte er uber die Schulter hinweg und suchte dabei mit pedantischer Genauigkeit eine hellbraun angerauchte Tonpfeife aus dem Stander.»Urlaub mu? erarbeitet werden, Herr Provisor!«

Otto Heinrich fuhlte, wie in ihm eine ma?lose Wut aufstieg. Er hatte zu diesem Mann hinsturzen und ihn wurgen konnen, bis sich die gelben Augapfel verdrehten und das faltige Kinn schlaff herunterfiel. Aber er legte die rechte Hand nur um eine Stuhllehne, pre?te sie und antwortete mit leiser, in der Erregung belegter Stimme.

«Herr Prinzipal — ich glaube meine Pflicht bisher erfullt zu haben! Ich sahe sonst keine Berechtigung, Provisor zu sein, und bitte Sie, den Titel zuruckzunehmen!«

Als habe ihn jemand gestochen, so wild fuhr der Apotheker herum und trat auf Otto Heinrich zu.

«Sie!«schrie er, und sein Gesicht wurde gelb.»Sie Lummel! Ist das der Dank?! Den jungsten Laffen mache ich zum ersten Mann, den Giftschrank geb' ich ihm — ich dulde, da? er meiner Tochter Blicke zuwirft, die zur Kundigung reichen«- Kummer erbleichte und klammerte sich fester an den Stuhl —,»und da kommt dieser Flegel und sagt mir ins Gesicht, da? ich ein Idiot sei!«Kummer hob die Hand, doch Knackfu? wehrte ihn mit beiden Armen ab.»Schweigen Sie! Ich sage Idiot! Da? Sie es von mir denken, wei? ich schon seit langem! Sie handelten an mir und meinem Hause wie ein Schuft — «

«Herr Knackfu?!«Otto Heinrich bebte und ballte beide Fauste.»Das nehmen Sie zuruck!«Und plotzlich schrie er, da? seine helle Stimme bis auf die Stra?e flatterte.»Das nehmen Sie zuruck — oder… oder… ich fordere Sie!«

«Nichts nehme ich zuruck!«Der Alte keuchte, als wurde er gleich unter einer schweren Last zusammenbrechen.»Nichts, nichts, gar nichts! Sie sind ein Lummel, ein Flegel, ein verzogener Laffe, ein Rotzkerl!«

In Otto Heinrich rang die Wut mit der Vernunft. Er trat dicht vor den Apotheker heran, so dicht, da? des Alten Atem uber sein Gesicht zog, und sagte leise, aber scharf, da? es Knackfu? wie eine Schneide durch das Herz ging:»Ich konnte Sie zu Boden schlagen! Nur weil Sie im Alter meines Vaters sind, geschieht es nicht —!«

Der Apotheker rang nach Luft.»Mir dies.«, rochelte er.»Mir dies. mir. mir. oh. «Er wankte, perlender Schwei? trat ihm plotzlich auf die Stirn, die gelben Augapfel verdrehten sich schrecklich, zuckend griffen die Hande ins Leere, der Mund stammelte wirr und unverstandlich — dann schwankte der ganze Korper, zitterte in den Gliedern, so wie ein Baum mit allen Asten bebt, ehe er gefallt zu Boden rauscht, die Beine knickten, ein rochelnder Schrei entrang sich den fahlen, blaulich schimmernden Lippen.»Trudel. Tru. «Dann sank der Korper um und fiel in die Arme des erschreckten, sprachlos starrenden Otto Heinrich.

Mit aller Kraft schleifte er den schweren Korper auf das Sofa, bettete den Kopf des Bewu?tlosen auf die Kissen, lockerte ihm die Halsbinde und lief dann auf den Flur.

«Trudel!«schrie er.»Trudel!«Und als das Madchen erstaunt aus ihrem Schlafzimmer trat, mit aufgelosten Haaren, die sie gerade kammte und die das schmale Gesicht nun wie eine Flut goldener Faden umgaben, schrie er:»Der Vater. schnell, der Vater!«

Mit einem Schrei eilte das Madchen an ihm vorbei in das Zimmer. Ihr Kleid, das sich in der Klinke verfing, schlo? die Tur.

Unschlussig stand Kummer vor dem Zimmer, aus dem jetzt das laute Weinen Trudels drang und das Klappern von Schusseln aus der danebenliegenden Kuche.

Er wu?te nicht, ob er wieder eintreten und helfen oder sich still entfernen sollte. Schlie?lich, nach langerem Warten, entschlo? er sich zu gehen und stieg nachdenklich zu seiner Kammer empor, nahm Mantel und Hut vom Haken und ging dann hinunter in den tiefverschneiten Garten, uber dem in dichten Wolken der Schnee vom Himmel tanzte.

Unruhig wanderte er die nur schwach kenntlichen Wege auf und nieder, bis das Gewicht des Schnees auf seinem Hut und seinen Mantelschultern ihn in die Laube trieb. Dort klopfte er die Flocken ab und sah gedankenlos zu, wie die Kristalle durch die Warme seiner Hande vergingen, kleiner und kleiner wurden, um als winziger grauschmutziger Wasserfleck zu enden.

Dann lehnte er sich an den in die Erde gerammten Tisch und blickte durch das schmale Hinterfenster in das wei?e Geriesel und in die graue Wolkenwand und fuhlte sich eins mit der totenden Schonheit der winterlichen Natur.

Wie lange er so gestanden hatte, wu?te er nicht. Er schreckte erst auf, als eine Hand mit leichtem Druck seine Schulter beruhrte.

Otto Heinrich blickte sich nicht um. Er wu?te, da? es Trudels Hand war, doch er scheute sich, in ihre Augen zu blicken, die von den Tranen gerotet und gedunsen sein mu?ten. Er hatte sein Versprechen nicht gehalten und kam sich schlecht und elend vor.

«Trudel?«sagte er nur mit leiser Stimme und wunderte sich nicht, da? auf seine Frage keine Antwort kam. Erst nach langem Schweigen sagte sie» Ja «und trat an seine Seite.

«Warum hast du das getan?«fragte sie. Aber die Frage war nicht vorwurfsvoll, traurig, argerlich oder hart, sondern weich und streichelnd, als habe sie von einer sehnsuchtsweiten Liebe gesprochen, die nun zu ihr trat und Wirklichkeit des Herzens wurde. Und gerade diese Weichheit des Vorwurfs, dieses liebende Dulden war es, was in Otto Heinrich eine Flamme aufri?, was ihn packte und schuttelte und seine Schuld so furchtbar schwer werden

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