gnadigst, das beiliegende Bildlein in seiner Kammer anzubringen. Mit dem Ausdruck allervorzuglichster Hochachtung Ihr Benjamin Kummer, Munzmarschall.«

Der Jungling schlo? die Augen. Bebend pre?te er das Bild an sein Herz.»Vater.«, stammelte er.»Guter, lieber Vater. ich habe keine Heimat mehr, ich bin einsam, so grenzenlos einsam unter all diesen Menschen. Keiner versteht mich. Und ich liebe doch so die Freiheit. Eine Heimat? Was ist eine Heimat? Die Kindheit, die Erinnerung, die Sehnsucht, die Hoffnung, die Liebe; Dinge, ungreifbar, unfa?bar, hoch uber dem, was sich Mensch nennt. O Vater. Vater.«

Er pre?te das Bild an die Lippen und offnete die Augen.

Als er sah, da? das Madchen noch immer neben ihm im Grase sa? und erschreckt zu ihm aufschaute, spulte eine tiefe Scham uber sein Gesicht, und er erhob sich mit einem jahen Ruck.

«Entschuldigen Sie, Jungfer Trudel, da? ich mich verga?. Ich lie-be meinen Vater, auch wenn er mich nicht versteht und schuld ist, da? ich hier in diese Einsamkeit verbannt wurde.«

«Sie wollten das Bild meinem Vater geben, wenn Sie hier eine Heimat finden. - Ist es so bitter bei uns, Herr Kummer?«

«Ich bin einsam«, antwortete der Jungling.

«Auch, wenn Sie mit mir sprechen?«

Otto Heinrich lachelte.»Jungfer Trudel — es gibt Menschen, die nicht wissen, warum sie leben. Oder haben Sie schon einmal daruber nachgedacht, welch einen Sinn Ihr Leben hat?«

«Nein«, antwortete das Madchen zogernd. Aber dann raffte sie sich auf und meinte:»Ich glaube, ich lebe, um anderen Menschen Freude zu machen.«

«Sie werden stets der Sklave dieser Menschen sein.«

«Wenn ich ihnen damit helfen kann.«

«Das ist doch kein Leben!«rief der Jungling erregt.»Leben ist doch eine Aufgabe, nicht ein Aufgeben des Ichs, sondern das Aufquellen der im Menschen verborgenen Moglichkeiten! Leben ist doch kein Martyrium, sondern eine Mission, den Menschen von Leben zu Leben zu veredeln! Aber veredelt sich der Mensch? Er verroht, er verliert die letzte Seele, er wird ein Apparat, der atmet, arbeitet, i?t, trinkt, schlaft und alle korperlichen Funktionen wie ein Uhrwerk ausfuhrt! Wo ist denn noch ein Mensch, der sagen kann: Seht, ich bin nicht vollendet, denn vollendet ist nur Gott — aber ich bin ein Mensch, der eins erkennt: die Menschlichkeit!«

Otto Heinrich Kummer ging erregt vor dem Baumstumpf hin und her und verkrampfte die Hande auf dem Rucken.

«Die neuen Geister der neuen Ordnung verbannte man! Schiller mu?te fluchten, Kleist scho? sich eine Kugel durch den Kopf, Grillparzer verhungert in Wien, Grabbe ist dem Wahnsinn nahe, Holderlin trieben die Menschen in den Irrsinn«- und plotzlich schrie er —,»und das alles, weil sie die Wahrheit sagten, ungeschminkt, grell, ein Fanal der Freiheit des Individuums! Wer kann an den Menschen glauben, wenn dieser Mensch die Rufer der Menschlichkeit in die Erde tritt?! Wo ist denn hier noch Sinn, eine aufbauende Logik in diesem faulenden Stuckchen Leben, wenn die Kraft der neuen Sittlichkeit im Wahnsinn stirbt?! O glauben Sie mir, es ist manchmal unendlich schwer, nicht selbst zur Pistole zu greifen, um Schlu? zu machen mit diesem Mummenschanz burgerlicher Moral, um Schlu? zu machen mit dem schmerzenden, kleinen, armen, eigenen Leben, das keinen Sinn hat, weil die Welt uberhaupt nur leben kann, wenn sie im Sinnlosen sich gefallt!«

Erschopft hielt er inne und legte den Kopf weit in den Nacken. Mit starren Augen blickte er hinauf in die trube Sonne, vor der blauwei?e Wolken in langen Streifen schwammen.

Da legte ihm das Madchen leicht die Hand auf den Arm.

«Sie sind ein armer Mensch«, sagte sie mit einer traurigen Stimme, in der die unterdruckten Tranen weinten.»Sie mu?ten einen Menschen finden, der Ihren Kopf in den Scho? nimmt, mit Ihnen drau?en sitzt in der Natur und Ihnen zeigt, wie herrlich das Leben im Kleinen und Gro?en ist, wie sehr ein Kafer um sein kostbares Leben bangt und die Blume mit allen Poren das Licht der Sonne trinkt.«

«Sonne!«Otto Heinrich Kummer lachelte bitter.»Und die Sonne Homers, siehe, sie lachelt auch uns. Sagte es nicht Schiller? Die Sonne Homers! Vielleicht ist sie die letzte Sonne, die mich zu halten vermag, die Sonne der Genien. die Sonne Griechenlands. die Sonne der Musen. «Er steckte das Bild in die Tasche seines Rockes und wandte sich zu dem Madchen um.»Gute Jungfer Trudel — Sie haben Kummer in den Augen. «Er lachte gequalt und wischte sich mit der Hand uber die Augen, als ob er einen Schatten verscheuchen wollte.»Es ist besser, wenn wir nicht weiter daruber sprechen«, sagte er.»Ihr Leben ist so licht und rein, da? es eine Sunde ware, es mit meinem Dunkel zu vergiften. Lassen Sie uns nicht daruber sprechen, lassen Sie uns diesen Vormittag vergessen und… Fremde sein. Es ist besser fur Sie und — mich. Und au?erdem — Ihr Vater konnte uns sehr grollen.«

Er beugte sich uber die Hand des Madchens, ku?te sie leicht und lie? das tief errotende Madchen stehen. Mit langsamen Schritten bummelte er in den Birkenwald hinein, erklomm einen kleinen Hang und setzte sich dort auf eine ausgegrabene Wurzel.

Lange blickte er hinab auf das Stadtchen, das still und fast ausgestorben in einer Senke zwischen zwei Bergen lag, und es war ihm, als sei diese Erde so weit von ihm entruckt und wesenlos, und sein Blick schweife von einem anderen Stern bewundernd uber das Leben unbekannter Welten.

Er legte sich nach hinten in das hoch wuchernde Gras, starrte in die ziehenden Wolken und traumte von der Weite des Lebens.

Er verga? Frankenberg und Knackfu?, Willi Bendler und Jungfer Trudel und traumte sich zuruck in das vaterliche Haus, in die weiten Zimmer des Munzmarschalls von Dresden, in denen er vor wenigen Jahren noch spielend der Mutter zu Fu?en sa? und die Nek-kereien der Geschwister mit Tranen oder Streichen heimgalt.

Er sah die Prager Stra?e vor sich, den Schlo?turm und das Ko-sel-Palais, er sah sich auf dem weiten Opernplatz spielen und flache Steine uber die Elbe schnellen, da? sie mehrmals aus dem Wasser hupften, ehe sie versanken.

Er sah seine Gespielen wieder, den kleinen Grafen von Don-nersmarck, den Baron von Puttkammer und den Baron de Lou-mierais, er sah die goldene Hofkutsche wieder durch das breite Tor ziehen, die Wache unter das Gewehr treten und horte ganz deutlich das Fanfarensignal, wenn die Konigskutsche in den Schlo?hof einfuhr.

Die hohe Kuppel der Frauenkirche glomm aus dem Dunst des Septembertages hervor, die machtige Kuppel, in die ein franzosisches Geschutz eine Kugel jagte und die im Steine haften blieb.

Otto Heinrich Kummer schlo? die Augen.

Die Mundwinkel zuckten leicht, die Lider zitterten, und die Flugel der schmalen Nase bebten.

Und mit einer jahen Bewegung drehte sich der Jungling auf den Bauch, vergrub den Kopf zwischen seine Arme und lag so, stumm, ohne sich zu ruhren, wie ein Toter, bis aus dem Tal die Kirchenuhr die mittagliche Stunde schlug und einen fremden hellen Ton in diese herbstlich trube Stille trug.

Bisweilen schnitt die Erinnerung wie mit Messern in sein Bewu?tsein, nie jedoch vermochte er sie abzuschutteln, sie war der Schatten, der ihn uberall begleitete — die Erinnerung an die Nacht vor zwei Jahren.

Mit Fehlin zusammen, dem dicken, blonden Fehlin, seinem liebsten Studienfreund, war er Elbaufwarts zum alten Fahrhaus geschritten, wo an diesem Abend die Versammlung des Bundes stattfinden sollte. Drei Tage vor dem Geburtstag seiner Mutter war es. Vierzehnter Oktober.

Und welche Nacht!

Die Turme der Stadt wie aus Silber gegossen. Ein Licht, wie aus den unendlichen Weiten des Alls herangeweht, ein transparentes Leuchten, das selbst die Schatten der Baume auf den Weg zeichnete, so klar und stark, da? die Lichter der Kutschen und Laternen, die sich langsam uber die Brucke bewegten, gelb und trube wirkten.

Otto Heinrich sog die kuhle Luft in sich ein, lauschte den Worten, die in ihm wach wurden, er mu?te sprechen, ehe sie ihm die Brust sprengten, sie wollten hinaus, in den Abend wurde er sie schreien, dem Winde mitgeben. Welche Verse!

Otto Heinrich Kummer drehte eine Pirouette, rannte Fehlin voraus, warf die Hande zu diesem Mond, der dort uber allem unbeteiligt am Himmel stand, und deklamierte:

«Deutscher Sanger! Sing und preise.

Deutsche Freiheit, da? dein Lied unseren Seelen sich bemeistere und zu Taten uns begeistere.«

Eine Hand legte sich auf seine Schulter: Fehlin.

Hatte er Angst? Hatte er Angst, da? diese Verse, die Verse Heinrich Heines, des Mannes, den er verehrte

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