ubergeben. Er wurgte. Unter ihm zog schwarz und glitzernd die Elbe.
Er atmete tief, zog das Taschentuch heraus und wischte sich den Schwei? von der Stirne. Der Wind, der uber den Flu? wehte, reinigte die Nacht.
Deutsche Dichter? dachte er. - Wie albern, wie lacherlich, wie armselig. Wir alle sind von der Feigheit und Furcht der Pestilenz durchtrankt.
Sie erreichten die Stadt. Fehlins Eltern bewohnten ein palaisartiges, nobles Haus am Opernplatz. Baron Fehlin, Bankier und Grundbesitzer, liebte eine standesgema?e Herberge, wenn er nach Dresden kam. Und die Kommilitonen witzelten uber die >teuerste Studentenbude Deutschlands<, wenn sie daran voruberkamen.
«Schaffst du's allein?«
«Ja, ja. Danke, Fehlin. Hab' ich mich sehr blamiert?«
«Warum? Was waren wir schon ohne einen guten Trunk? Langweilige Gesellen vermutlich. Ich habe manchmal den Verdacht, ohne Wein und ohne Bier wurde in dieser Welt sich nichts verandern, denn nicht wahr: So alleine in der Stille unserer Arbeitszimmer macht sie sich ganz anders, schrumpft gewisserma?en wieder auf uns selbst zuruck.«
Er schlug Kummer auf die Schulter und drehte sich um. Otto Heinrich sah ihm nach und beneidete ihn: Fehlin; er ruhte in seinem Fleisch, war stets auf die gleiche Art ironisch und distanziert, selbstsicher und gelassen. Und du? Dich besturmen Worte, du versuchst sie zu bandigen, verbringst deine Tage in der Universitat und bildest dir ein, bei all dem Gerede uber Zusammensetzung und Veranderung der Stoffe ein Nachfolger der gro?en Alchimisten zu sein. Zu Hause spielst du den gehorsamen Sohn und liest heimlich die revolutionaren Verse der Emigranten, inszenierst dein ureigenes, personliches kleines Welt-Theater. Und dann, beim ersten ordentlichen Trink-Comment kommt schon der Zusammenbruch.
Ins Bett! Den Kopf unter kaltes Wasser. Und morgen, morgen wirst du nachdenken. Morgen.
Breit hingelagert, einer Festung gleich, lag mit flachansteigendem Giebel das Haus des Munzmarschalls Kummer.
Kapitel 2
Otto Heinrich war stehengeblieben. Er spurte das Klopfen des Herzens hoch oben am Hals. Dort, rechts? Im ersten Stock schimmerten drei erleuchtete Fenster. Das Arbeitszimmer seines Vaters.
Gerade noch Revolutionar — und nun schon Feigling. Aber diese Furcht lie? sich nicht unterdrucken. Wenn er dich in diesem Zustand erwischt. ware zuviel, als da? es der Magen noch ertragen konnte.
So lie? er den Schlussel in der Tasche der Samtjacke und naherte sich dem Dienstboteneingang von einer Seitengasse.
Hier stand die Ture offen.
Die Glutreste in der Kuche zeigten ihm den Weg zur Hintertreppe. Vorsichtig, auf Zehenspitzen, fluchend, wenn ihm der Gleichgewichtssinn erneut einen Streich spielte, erreichte Kummer schlie?-lich den zweiten Stock. Als er den Korridor durchging, am gro?en Treppenhaus vorbei, um zu seiner Tur zu gelangen, vernahm er hinter sich ein Gerausch.
Er blieb stehen. Licht drang durch die geoffnete Tur. Eine helle Madchenstimme rief leise:»Otto Heinrich.«
Mein Gott, das war Anna Luise, seine Schwester. Den Leuchter trug sie in der Hand. Die dunklen Augen in dem schmalen Madchengesicht unter der Nachthaube wirkten riesengro? und beschworend, das wei?e Leinen des Nachthemds reichte bis zum Boden, bedeckte ihre Fu?e, so da? sie wie eine kleine, wei?e Saule wirkte, die sich naherte.
«Wo warst du blo?? Gut, da? ich dich gehort habe.«
«Wieso denn?«
Sie zog die Brauen zusammen.»Was ist denn mit dir?«
«Was soll sein?«
«Du schwankst so komisch.«
«Aber nein. Sag mir lieber, ist irgend etwas geschehen?«
«O ja, es ist etwas geschehen. Der Vater ist au?er sich. Den ganzen Abend wartet er schon.«
«Auf was denn?«
«Auf was? — Auf wen, mu?t du fragen. Auf dich. Da waren zwei Herren da. Und einen kannte ich. Er ist ein hoher Kommissar bei der Polizei. Sie wollten Vater sprechen. Und dann mu?te Mama ins Zimmer, und als sie herauskam, sagte sie, es gehe um dich.«
«Um mich?«
«Ja. Vater ist noch nicht einmal zum Abendessen erschienen. Und Mama war ganz aufgeregt. Du kennst sie doch, in solchen Momenten bekommst du kein vernunftiges Wort von ihr. Sie rannte nur hin und her und hatte das Taschentuch vor dem Mund und sagte >mon dieu, mon dieu<, und das in einem fort. Was ist blo?? Otto Heinrich, was hast du angestellt?«
Anna Luises dunkle Kinderaugen.
Und kein vernunftiges Wort, kein vernunftiger Gedanke in seinem Schadel. Doch die Alkoholnebel existierten nicht mehr. Verflogen waren sie, als sei ein Vorhang zerrissen.
«Es ist was Schlimmes, nicht wahr?«
«Aber nein.«
Von unten schallte durchs Treppenhaus die Stimme des Munzmarschalls:»Ist da jemand? Otto Heinrich, bist du das?«
Er beugte sich uber das Gelander:»Da. Bin gerade zuruckgekommen.«
«Ach nein? Wirklich? — Hattest du dann vielleicht die Gute, dich zu mir zu bemuhen?«
Es klang wie purer Hohn, nein, wie nackter Zorn.
Gotthelf Kummer erwartete den Sohn nicht an der Ture; schmal und steil aufgerichtet, im engen, braunen Schlafrock, das Kinn emporgereckt, die Augen im bleichen Gesicht dunkel und brennend, stand er hinter seinem Schreibtisch.
Sacht, ganz vorsichtig schlo? Otto Heinrich die Ture, blieb nichts als ein Schatten, der den Lichtkreis der Ollampe um den Schreibtisch scheute.
«Komm naher.«
Leise war jetzt die Stimme des Munzmarschalls.»Steh nicht herum wie der Idiot, der du bist.«
Leise Worte, schmerzhaft wie Peitschenhiebe.
«Es gibt viel, was ich bei einem jungen Menschen zu ertragen bereit bin, Otto Heinrich. Doch auch meiner Geduld sind Grenzen gesetzt. Versuchte ich die eigenen Gefuhle au?er acht zu lassen, so wurde es noch schlimmer. Dann mu?te ich sagen: Du verdienst es nicht, in diesem Haus zu wohnen, du verdienst nicht, die Luft dieser Stadt und dieses Staates zu atmen und schon gar nicht deine Ausbildung und die Bemuhungen deiner Lehrer, dich als Apotheker zu einem geachteten Mitglied unserer Gesellschaft zu machen. Dies soll zuvor einmal klargestellt sein. Hast du das verstanden?«
«Nein, Herr Vater«, horte er sich sagen.
«Nein? Was soll das hei?en?«
An den Schlafen des Munzmarschalls schwollen die Adern. Das quadratische Gesicht farbte ein verraterisches Rot, die Hand zuckte uber den Schreibtisch, nahm ein Papier und ri? es anklagend hoch:»Willst du mich auch noch belugen? Hier! Ein Protokoll. Und die Polizei hat es mir selbst ins Haus gebracht. Rat Wallerscheid hat sich dieser Muhe unterzogen. Und das nur, weil er ein Freund ist, ein wahrer Freund. Aber diese Sache ist so himmelschreiend, da? auf ihn nicht langer zu zahlen ist. Ich tu's auch nicht. Denn dies ist ein Dokument der Schande, ich sagte ja, dies ist fur mich eine Blamage, die zum Himmel stinkt.«
Otto Heinrich fuhlte, wie sich sein Rucken verkrampfte. Sein Herz, wie es klopfte! Und auch der Kopf begann wieder zu schmerzen. Er versuchte nachzudenken. Er vermochte es nicht zu glauben. So wenig Zeit war vergangen. Wie sollte sein Vater jetzt schon einen Bericht von dem Burschenschafter-Comment im Fahrhaus bekommen haben? Oder hatten die Polizei-Spitzel Fehlin und ihn bereits auf ihrem Weg verfolgt? Waren sie