tatsachlich uberall?

Sein Hals war trocken. Er brachte keinen Ton heraus. Und sein Vater sah ihn noch immer mit denselben dunklen, drohenden Augen an. Doch dann kamen die Zeilen in grellem Spott herausgeschleudert.

«Sei nicht mehr die weiche Flote, das idyllische Gemut, sei des Vaterlands Posaune, sei Kanone, sei Kartaune, blase, schmettere, donnere, tote!«

Gotthelf Kummer warf das Blatt verachtlich auf den Tisch.

Schweigen.

Dann sprach der Munzmarschall, leise, unglaubig, als konne er der eigenen Stimme nicht vertrauen:»Mein Sohn! Und was predigt er? Mord und Totschlag. «Plotzlich fing er an zu brullen:»Das ist Aufstand! Jawohl, was ist das anderes als Aufstand? Revolution! — Und wer predigt das?«

«Ich habe nicht gepredigt, Herr Vater.«

«Ach nein?! Und was steht hier?«Die Faust des Munzmarschalls donnerte auf das Polizei-Protokoll.»Willst du vielleicht.«

«Ich will gar nichts. Ich will nichts, als die Wahrheit feststellen. Ich habe ein Gedicht deklamiert. Und dieses Gedicht stammt aus der Feder eines Mannes, den ich, und ich scheue mich nicht, dies Ihnen zu sagen, aus tiefstem Herzen verehre.«

«Nun hor.«

«Nein, Herr Vater. Ich bitte, da? Sie mich horen. Dieser Mann kann als einer der kuhnsten und gro?ten deutschen Geister gelten. Und wo mu? er leben? In Paris. Und warum? Weil ihn Reaktion und Presse-Zensur aus dem Land gejagt haben. Ihn, einen Mann, dem nichts hoher ist als die Freiheit.«

«Freiheit? Reaktion. Presse-Zensur. Schon die Wortwahl sagt alles.«

Wieder holte Otto Heinrich Kummer tief Luft.»Bei allem Verstandnis, das ich aufzubringen vermag, wenn ich an Ihr Amt denke, Herr Vater — aber der Geist der Freiheit war auch Ihnen vertraut. Ja, er wohnte auch in Ihrem Herzen. Warum haben Sie denn bei Leipzig gekampft?«

Nein, seine Stimme schwankte nicht. Und alle Zweifel, sie waren verflogen. Stolz war Otto Heinrich, stolz darauf, nicht nur zum ersten Mal in seinem Leben dem Vater die Stirne zu bieten, stolz auch, weil er sich angesichts der Gefahr zu solchen Gefuhlen bekannte.

«Das ist also aus dir geworden? Ein Jakobiner.«

«Ich sprach von der Freiheit.«

«Freiheit, Freiheit!«Nun schrie der Munzmarschall vollig au?er sich:»Jawohl, Freiheit! Wir haben dafur gekampft. Wir haben gekampft, um dem deutschen Volk seine Freiheit zuruckzugeben. Aber auch seine Ordnung. Doch nicht, damit ein aufruhrerisches Gesindel, eine Mischung aus Hitz- und Dummkopfen, Burschenschaftlern und anderen Verruckten dieses gottgefugte Gesetz wieder zerstort. Deshalb doch nicht! — Nun wirst du gleich sagen, da? die Ordnung nicht von Gott, sondern von Menschen gefugt werde.«

Otto nahm den Kopf noch hoher.»Ja. Das sage ich. Und ich sage mehr: Da? es nicht nur die Gesetze der Obrigkeit gibt, sondern ein anderes Gesetz — das, das in einer Brust wohnt.«

«O Gott! Auch noch.«

Der Munzmarschall schuttelte den Kopf, pre?te die Fauste gegen die Schreibtischplatte, schuttelte wieder den Kopf, lie? sich in seinen Sessel fallen, lehnte sich zuruck, schlo? die Augen, und eine Art Lacheln, ein ironisch-uberlegenes Lacheln entspannte sein Gesicht.»Wei?t du, was am unertraglichsten ist? Diese ewige Uberspanntheit. Normal konnt ihr wohl nicht mehr reden? Sobald man euch hort, sitzt man im Theater. Jeder sein eigener Schiller! Und was bist du? Ein Apotheker. Das willst du zumindest werden. Und daran will ich dich erinnern. Ein Apotheker, der sich seines Berufes schamt und deshalb nach hohlen Phrasen sucht. Gesetz in deiner Brust? Soll das Kant sein? Aber nicht einmal den hast du gelesen. Denn wenn du Kant wirklich kennen wurdest, wurdest du auch wissen, was er von euresgleichen gehalten hat. Da? es kein gro?eres Verbrechen gibt, als Aufruhr zu predigen. Da? das Volk nur eines zu tun hat, zu gehorchen. - Na, Herr Philosoph, was sagen Sie dazu?«

Dem Zorn war er gewachsen, der Spott war ihm zuviel. Otto Heinrich spurte, wie vor diesen kalten, distanzierten Augen die Selbstsicherheit zerbrach. Und ganz so, als nahme er jetzt erst die Situation wahr, sah er sich vor dem Schreibtisch stehen, vor einem Vater, der ein Gericht inszenieren wollte, ohne den Angeklagten dabei ernst zu nehmen, der von >Schuld< sprach, ohne die Grunde zur Kenntnis zu nehmen.

Er pre?te die Hand gegen den schmerzenden Magen, als konnte er so den Schwall von Ubelkeit aufhalten, der in seine Kehle hochkriechen wollte.

«Und jetzt?«vernahm er die eisige Stimme des Munzmarschalls.»Ich warte. Warum zitierst du nicht die >Rauber<? Warum schreist du nicht?«

Otto Heinrich umklammerte die Stuhllehne.

«Was seid ihr schon anderes, ihr Studenten mit euren Revoluti-onsideen, was seid ihr anderes als ein Haufen gro?mauliger Laffen! Armselige Wichte, die sich Bedeutung zumessen, indem sie sich mit unverstandenem Zeug aufblasen. Und mein Sohn ist dabei. Was hei?t dabei? In vorderster Front.«

Schweigen. Von irgendwo kam der Klang einer Kirchenglocke. Dann der Ruf einer Mannerstimme, der Ruf der Nachtpatrouille. Der Klang der genagelten Soldatenstiefel drang herauf ins Zimmer. - Und sein Vater sa? da und schuttelte den Kopf.

«Geh! Geh ins Bett, wo du hingehorst. Und geh mir aus den Augen.«

«Das werde ich tun. «Otto Heinrich sog tief die Luft ein.»Ich werde gehen. Nicht fur diese Nacht, fur immer. Ich werde dieses Haus verlassen.«

Nichts regte sich im Gesicht des Munzmarschalls. Nur der Blick wurde aufmerksam.

Weit, so unendlich weit wurde ihm der Weg zur Tur. Schweigen. Kein Ruf hielt ihn zuruck. Nichts war um ihn. Nur Stille.

Sacht zog er die Tur hinter sich ins Schlo?.

In dieser Nacht, im Hause seines Freundes Fehlin, schrieb Otto Heinrich einen langen Brief an seinen Vater. Er schrieb ihn nach einem Glas Wein, das seinem Geist wieder Kraft und Geschmeidigkeit verlieh. Es war ein Brief voll gluhendem Pathos, voll Beschworungen seiner Vision, erfullt von dem Drang, sich erklaren zu wollen.

Aber der wichtigste Satz stand ganz am Anfang.

Der Brief begann mit den Worten:»Ich habe keinen Vater mehr.«

Nach dem Mittagessen, das alle Angestellten gemeinsam mit Herrn Knackfu? einnahmen, wahrend die Tochter die Speisen auftrug und anscheinend in der Kuche a?, fuhrte der Apotheker den neuen Gesellen selbst in sein neues Amt ein und ubergab ihm — der Riese Bendler und die ubrigen Kollegen waren stumm vor Erstaunen — den Schlussel zu dem Heiligtum der Apotheke: dem Giftschrank.

«Sie haben in einer der ersten Apotheken Deutschlands gelernt, lieber Kummer«, sagte Knackfu? bei dieser feierlichen Handlung.»Ihnen allein vertraue ich an, was nur ich allein bisher in der Verwaltung hatte. Es mag Ihnen und Ihren Kollegen beweisen, da? ich ein hohes Vertrauen in Sie setze.«

Otto Heinrich fuhlte eine tiefe Scham in sich aufsteigen.

Hatte er dem rauhen Mann doch unrecht getan?

War dieser Knackfu? etwa nur ein Haustyrann, weil er im Grunde seines Wesens weich und zu nachgiebig war?

Geruhrt druckte er dem Chef stumm die Hand, keines Wortes machtig, und Knackfu? nickte ihm auch nur zu, klopfte ihm auf die Schulter und schritt ohne weiteres Reden aus dem Laboratorium.

Willi Bendler sank auf einen Stuhl und kratzte sich den Kopf.

«Der Alte ist verruckt«, sagte er nach einer Weile.»Glaube mir, Kummer — der Alte leidet an zu hohem Blutdruck. Funf Jahre bin ich jetzt hier und merke zum erstenmal, da? Knackfu? auch vernunftig — oder besser, nach seiner Art unvernunftig — reden kann! Und dann der Schlussel zum Giftschrank! Das verschleierte Bild zu Sais in dieser Apotheke! Mensch, Kummer, Freund — das wird der Alte bis zu seinem Lebensende bereuen!«

Otto Heinrich antwortete ihm nicht, sondern ging still in die Ecke, schlo? den Schrank auf und studierte die einzelnen Flaschen, Topfe, Tiegel und Morser, die in sauberlicher Ordnung, gepflegt und behutet, in den langen Regalen standen. Auf jedem Etikett stand ein Totenkopf mit dem Wort Gift, wahrend der Grad des Giftes durch besondere Schildchenfarben angezeigt war. Schwarz war demnach das starkste und gelb das leichteste Gift, und es rann eine gro?e Begluckung durch die Seele des Junglings, diese Kostbarkeiten als einziger verwalten zu durfen.

Das Leben eines Apothekers begann nun abzurollen. Wie in der Hofapotheke kamen die Patienten und

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