Sie kamen alle, die lange Laternenreihe entlang – Wally, die Schone, bla?, schmal, elegant, Lina mit dem Holzbein, die stammige Erna, Marion, das Kuken, Margot mit den roten Backen, der schwule Kiki im Fehmantel und zum Schlu? Mimi, die Gro?mutter mit den Krampfadern, die aussah wie ein ruppiger Uhu. Ich gru?te alle, und als wir dann noch an Muttchen mit dem Wurstkessel voruberkamen, schuttelte ich ihr herzlich die Hand.

»Sie haben viele Bekannte hier«, sagte Patrice Hollmann nach einer Weile.

»Solche ja«, erwiderte ich bockig.

Ich merkte, da? sie mich ansah. »Ich glaube, wir mussen jetzt umkehren«, sagte sie.

»Ja«, erwiderte ich,»das glaube ich auch.«

Wir standen vor der Haustur. »Leben Sie wohl«, sagte ich,»und viel Vergnugen noch.«

Sie antwortete nicht. Mit ziemlicher Muhe brachte ich meine Augen von dem Klingelknopf an der Tur los und sah sie an. Und wahrhaftig – ich traute meinen Blicken nicht -, da stand sie, und anstatt grundlich eingeschnappt zu sein, zuckte es um ihren Mund, ihre Augen flimmerten, und dann lachte sie, herzlich und unbekummert, sie lachte mich einfach aus. »Sie Kindskopf«, sagte sie,»o Gott, was sind Sie noch fur ein Kindskopf!«

Ich starrte sie an. »Na ja…«, sagte ich dann,»immerhin«- und bekam auf einmal Sinn fur die Situation -»Sie finden mich wohl etwas idiotisch, was?«

Sie lachte. Rasch machte ich einen Schritt vor und zog sie fest an mich, mochte sie denken, was sie wollte. Ihr Haar streifte meine Wange, ihr Gesicht war dicht vor mir, ich spurte den schwachen Pfirsichgeruch ihrer Haut – dann naherten sich ihre Augen, und ich fuhlte plotzlich ihre Lippen auf meinem Mund – Sie war fort, ehe ich richtig wu?te, was los war.

Ich ging zuruck und kam an Muttchens Wurstkessel vorbei.

»Gib mir mal eine gro?e Bockwurst«, sagte ich strahlend.

»Mit Senf?« fragte Muttchen in ihrer sauberen, wei?en Schurze.

»Mit sehr viel Senf, Muttchen!«

Ich a? die Wust genie?erisch im Stehen auf und lie? mir aus dem International von Alois dazu ein Glas Bier herausreichen.

»Der Mensch ist ein komisches Wesen, Muttchen, was?« fragte ich.

»Das kannst du wohl glauben«, erwiderte sie eifrig. »Kommt da gestern ein Herr, i?t zwei Wiener mit Senf, und nachher kann er sie nicht bezahlen. Schon, es war spat, kein Mensch sonst da, was sollte ich machen, das kennt man ja, ich lasse ihn laufen. Und stell dir vor, heute kommt er wieder und bezahlt die Wiener und gibt mir noch ein Trinkgeld.«

»Eine Vorkriegsnatur, Muttchen. Wie steht das Geschaft denn sonst?«

»Schlecht! Gestern sieben Paar Wiener und neun Bockwurste. Wei?t du, wenn ich die Madchen nicht hatte, ware ich schon langst fertig.« Die Madchen waren die Huren, die Muttchen unterstutzten, wo sie nur konnten. Wenn sie einen Freier gekapert hatten und es war irgendwie moglich, dann brachten sie ihn bei Muttchens Wurstkessel vorbei, um vorher noch eine Bockwurst zu essen, damit die alte Frau etwas verdiente.

»Jetzt wird's ja bald warmer«, erzahlte Muttchen weiter,»aber im Winter, in der Nasse und in der Kalte – da kann man anziehen, was man will, man holt sich was weg.«

»Gib mir noch eine Bockwurst«, sagte ich,»ich habe so eine Lust am Leben. Und wie steht's zu Hause?«

Sie sah mich mit ihren wasserhellen kleinen Augen an. »Immer dasselbe. Neulich hat er das Bett verkauft.«

Muttchen war verheiratet. Vor zehn Jahren war ihr Mann beim Aufspringen auf eine fahrende Untergrundbahn abgesturzt und uberfahren worden. Man hatte ihm beide Beine abnehmen mussen. Das Ungluck hatte eine merkwurdige Wirkung auf ihn gehabt. Er schamte sich vor seiner Frau als Kruppel so sehr, da? er nicht mehr mit ihr schlief. Im Krankenhaus hatte er sich au?erdem an Morphium gewohnt. Das brachte ihn rasch herunter, er geriet in homosexuelle Kreise, und bald trieb sich der Mann, der funfzig Jahre normal gewesen war, nur noch mit schwulen Jungens herum. Vor denen schamte er sich nicht, weil sie Manner waren. Bei Frauen war er ein Kruppel, der glaubte, Ekel und Mitleid zu erregen – das ertrug er nicht -, bei Mannern war er nur ein Mensch, der Ungluck gehabt hatte. Um sich das Geld fur die Jungens und fur das Morphium zu verschaffen, nahm er Muttchen weg, was er fand, und verkaufte, was zu verkaufen war. Aber Muttchen hielt zu ihm, obschon er sie oft prugelte. Sie stand mit ihrem Sohn jede Nacht bis morgens um vier Uhr an ihrem Wurstkessel. Tagsuber wusch sie Wasche und scheuerte Treppen. Sie war dauernd unterleibskrank und wog neunzig Pfund; aber man sah sie nie anders als freundlich. Sie glaubte, da? es ihr noch ganz gut ginge. Manchmal kam der Mann, wenn er sich elend fuhlte, zu ihr und weinte. Das waren ihre schonsten Stunden.

»Hast du deinen feinen Posten noch?« fragte sie mich.

Ich nickte. »Ja, Muttchen. Ich verdiene jetzt gut.«

»Sieh man zu, da? du ihn haltst.«

»Werde schon aufpassen, Muttchen.«

Ich kam nach Hause. Auf dem Vorplatz stand, wie von Gott gerufen, das Dienstmadchen Frida. »Sie sind ein su?es Kind«, sagte ich, denn ich hatte Lust, etwas Gutes zu tun.

Sie machte ein Gesicht, als hatte sie Essig getrunken.

»Im Ernst!« fuhr ich fort. »Was hat das ewige Streiten fur Zweck! Das Leben ist kurz, Frida, und voller Zufalle und Gefahren. Heute mu? man zusammenstehen. Wollen uns vertragen!«

Sie ubersah meine ausgestreckte Hand, murmelte etwas von verdammten Saufgurgeln und entschwand turendonnernd.

Ich klopfte bei Georg Block. Eine Lichtritze stand unter seiner Tur. Er buffelte. »Komm, Georgie, fressen«, sagte ich.

Er sah auf. Sein blasses Gesicht rotete sich. »Hab' keinen Hunger.« Er dachte, es ware aus Mitleid. Deshalb wollte er nicht.

»Sieh dir's erst mal an«, sagte ich. »Es wird sonst schlecht. Tu mir den Gefallen.«

Als wir uber den Korridor gingen, sah ich, da? die Tur Erna Bonigs einen Spalt offenstand. Dahinter horte ich einen leisen Atem. Aha, dachte ich und horte, wie bei Hasses ganz vorsichtig das Schlo? schnappte und die Tur ebenfalls um einen Zentimeter nachgab. Die ganze Pension lauerte auf meine Kusine.

Im grellen Oberlicht der Bude standen die Brokatsessel von Frau Zalewski. Die Hassesche Lampe prangte, die Ananas leuchtete, die hochfeine Leberwurst, der Lachsschinken, die Flasche Sherry…

Als ich mit dem sprachlosen Georgie im besten Einhauen war, klopfte es an die Tur. Ich wu?te, was jetzt kam. »Pa? mal auf, Georgie«, flusterte ich und rief:»Herein!«

Die Tur offnete sich, und herein trat, funkelnd vor Neugier, Frau Zalewski. Zum erstenmal in meinem Leben brachte sie mir personlich die Post, eine Drucksache, in der ich dringend zum Rohkostessen aufgefordert wurde. Sie war feenhaft aufgemacht; ganz gro?e Dame aus fruheren besseren Tagen, Spitzenkleid mit Fransenschal und Brosche mit dem Bild des seligen Zalewski als Medaillon. Ein zuckersu?es Lacheln gefror jah auf ihrem Gesicht; verblufft starrte sie auf den verlegenen Georgie. Ich brach in ein herzloses Gelachter aus. Sie fa?te sich rasch. »Aha, versetzt«, sagte sie giftig.

»Stimmt«, gab ich zu, noch ganz versunken in ihre Aufmachung. Welch ein Gluck, da? es mit der Einladung nichts geworden war.

Mutter Zalewski sah mich mi?billigend an. »Und da lachen Sie noch? Ich habe ja immer gesagt: Wo andere Menschen ein Herz haben, sitzt bei Ihnen eine Schnapsflasche.«

»Ein gutes Wort«, erwiderte ich. »Wollen Sie uns nicht ein wenig die Ehre geben, gnadige Frau?«

Sie zogerte. Aber dann siegte die Neugier, vielleicht doch noch etwas zu erfahren. Ich offnete die Flasche Sherry.

Spat, als alles still geworden war, nahm ich meinen Mantel und eine Decke und schlich uber den Korridor zum Telefon. Ich kniete vor dem Tisch nieder, auf dem der Apparat stand, legte mir Mantel und Decke uber den Kopf, hob den Horer ab und hielt mit der linken Hand den Mantel unten zu. So war ich sicher, da? mich niemand belauschen konnte. Die Pension Zalewski besa? ungeheuer lange, neugierige Ohren. Ich hatte Gluck. Patrice Hollmann war zu Hause. »Sind Sie von Ihrer geheimnisvollen Besprechung schon lange zuruck?« fragte ich.

»Schon fast eine Stunde.«-»Schade. Hatte ich das gewu?t.«

Sie lachte. »Nein, es hatte nichts genutzt. Ich liege zu Bett und habe schon wieder etwas Fieber. Es ist ganz gut, da? ich fruh nach Hause gekommen bin.«

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