Ich lie? mir einen Draht geben, schob damit den Schlussel gerade und stie? ihn aus dem Loch. Er fiel klappernd auf der anderen Seite zu Boden. Frida schrie auf und hielt die Hande vors Gesicht.
»Scheren Sie sich moglichst weit weg«, sagte ich zu ihr und probierte die Schlussel. Einer davon pa?te. Ich schlo? auf und offnete die Tur. Das Zimmer lag im Halbdunkel, und man sah im ersten Augenblick niemand. Die beiden Betten schimmerten grauwei?, die Stuhle waren leer, die Schrankturen geschlossen.
»Da steht er!« zischte Frida, die sich wieder herangedrangt hatte, uber meine Schultern hinweg. Ihr Zwiebelatem streifte hei? mein Gesicht. »Da hinten am Fenster.«
»Nein«, sagte Orlow, der rasch ein paar Schritte ins Zimmer gemacht hatte und zuruckkam. Er stie? mich an, griff nach der Klinke und zog die Tur wieder zu. Dann wandte er sich an die andern. »Es ist besser, Sie gehen. Vielleicht ist es nicht gut, das zu sehen.«
Er sprach langsam, in seinem harten, russischen Deutsch, und blieb vor der Tur stehen.
»O Gott!« stammelte Frau Zalewski und wich zuruck. Auch Erna Bonig machte ein paar Schritte ruckwarts. Nur Frida versuchte, sich vorbeizudrangen und die Klinke zu fassen. Orlow schob sie weg. »Es ist wirklich besser…«, sagte er noch einmal.
»Herr!« schnauzte der Rechnungsrat plotzlich und richtete sich auf.
»Was erlauben Sie sich! Als Auslander!«
Orlow sah ihn unbewegt an. »Auslander -«, sagte er -»Auslander – ist hier egal. Kommt nicht darauf an…«
»Tot, was?« zischte Frida.
»Frau Zalewski«, sagte ich,»ich glaube auch, es ist besser, nur Sie bleiben hier und vielleicht Orlow und ich.«
»Telefonieren Sie sofort einem Arzt«, sagte Orlow.
Georgie hob bereits den Horer ab. Das Ganze hatte keine funf Sekunden gedauert. »Ich bleibe!« erklarte der Rechnungsrat puterrot. »Als deutscher Mann habe ich das Recht…«
Orlow zuckte die Achseln und offnete wieder die Tur. Dann knipste er das elektrische Licht an. Mit einem Schrei fuhren die Frauen zuruck. Mit blauschwarzem Gesicht, die schwarze Zunge zwischen den Zahnen, hing Hasse am Fenster.
»Abschneiden«, rief ich.
»Keinen Zweck«, sagte Orlow langsam, hart und traurig.
»Ich kenne das – dieses Gesicht – tot, schon paar Stunden…«
»Wir wollen es wenigstens versuchen…«
»Besser nein – Polizei erst kommen lassen.«
Im gleichen Augenblick klingelte es. Der Arzt, der nebenan wohnte, war da. Er warf nur einen Blick auf den schmalen, geknickten Korper. »Nichts mehr zu machen«, sagte er. »Wir mussen aber trotzdem kunstliche Atmung versuchen. Rufen Sie die Polizei sofort an, und geben Sie mir ein Messer.«
Hasse hatte sich mit einer dicken, rosaseidenen Kordelschnur erhangt. Sie stammte von einem Morgenrock seiner Frau, und er hatte sie sehr geschickt oben an einem Haken uber dem Fenster festgemacht. Sie war mit Seife eingerieben. Er mu?te auf der Fensterbank gestanden haben, und dann hatte er sich von dort wahrscheinlich herabgleiten lassen. Seine Hande waren verkrampft, und sein Gesicht sah furchtbar aus. Es war sonderbar in diesem Augenblick, aber mir fiel auf, da? er einen anderen Anzug trug als morgens. Es war sein bester, ein blauer Kammgarnanzug, den ich kannte. Er war auch rasiert und hatte frische Wasche an. Auf dem Tisch lagen nebeneinander, pedantisch ordentlich, sein Pa?, sein Sparkassenbuch, vier Zehnmarkscheine und etwas Silbergeld. Daneben zwei Briefe, einer an seine Frau und einer an die Polizei. Neben dem Brief an seine Frau lag noch ein silbernes Zigarettenetui und sein Trauring.
Er mu?te es lange uberlegt und alles vorher in Ordnung gebracht haben; denn das Zimmer war vollkommen aufgeraumt, und als wir genauer nachsahen, fanden wir auf der Kommode noch etwas Geld und einen Zettel, auf dem stand: Rest der Miete fur diesen Monat. Er hatte es extra gelegt, so als ob er zeigen wollte, da? es mit seinem Tode nichts zu tun hatte.
Es klingelte, und zwei Beamte in Zivil kamen. Der Arzt, der den Korper inzwischen abgeschnitten hatte, stand auf. »Tot«, sagte er,»Selbstmord, ohne allen Zweifel.«
Die Beamten erwiderten nichts. Sie sahen aufmerksam das ganze Zimmer durch, nachdem sie die Tur geschlossen hatten. Sie holten ein paar Briefe aus einem Schrankschubfach und verglichen die Schrift mit den Briefen auf dem Tisch. Der jungere von beiden nickte. »Wei? jemand den Grund?«
Ich erzahlte, was ich wu?te. Er nickte wieder und schrieb meine Adresse auf. »Konnen wir ihn wegbringen lassen?« fragte der Arzt.
»Ich habe ein Krankenauto bestellt bei der Charite«, erwiderte der jungere Beamte. »Es mu? gleich kommen.«
Wir warteten. Es war still im Zimmer. Der Arzt kniete auf dem Boden neben Hasse. Er hatte ihm alle Kleider geoffnet und frottierte abwechselnd die Brust mit einem Handtuch und machte Wiederbelebungsversuche. Man horte nur das Pfeifen und Rocheln der Luft, die in die toten Lungen ausund einstromte.
»Der zwolfte in dieser Woche«, sagte der jungere Beamte.
»Aus dem gleichen Grund?« fragte ich.
»Nein. Fast alle wegen Arbeitslosigkeit. Zwei Familien, eine mit drei Kindern. Mit Gas naturlich. Familien nehmen fast immer Gas.«
Die Trager kamen mit ihrer Bahre. Frida huschte mit ihnen hinein. In einer Art Gier starrte sie Hasses klaglichen Korper an. Sie hatte rote Flecken im Gesicht und schwitzte. »Was wollen Sie hier?« fragte der altere Beamte grob.
Sie fuhr zuruck. »Ich mu? doch meine Aussage machen«, stotterte sie.
»'raus!« sagte der Beamte.
Die Trager legten eine Decke uber Hasse und brachten ihn hinaus. Dann gingen auch die beiden Beamten. Sie nahmen die Papiere mit. »Er hat das Geld fur das Begrabnis deponiert«, sagte der jungere. »Wir werden es der zustandigen Stelle ubergeben. Wenn die Frau kommt, sagen Sie ihr bitte, sie moge sich bei der Kriminalpolizei des Reviers melden. Er hat ihr sein Geld vermacht. Konnen die ubrigen Sachen einstweilen hier bleiben?«
Frau Zalewski nickte. »Das Zimmer ist doch nicht mehr zu vermieten.«
»Schon.«
Der Beamte gru?te und ging. Wir gingen ebenfalls hinaus. Orlow schlo? die Tur ab und gab Frau Zalewski den Schlussel. »Am besten ist, es wird moglichst wenig uber die ganze Sache geredet«, sagte ich.
»Das meine ich auch«, sagte Frau Zalewski.
»Ich denke vor allem an Sie, Frida«, fugte ich hinzu.
Frida wachte aus einer Art von Geistesabwesenheit auf. Ihre Augen glanzten. Sie antwortete nicht.
»Sollten Sie ein Wort zu Fraulein Hollmann erzahlen«, sagte ich,»dann gnade Ihnen Gott!«
»Das wei? ich selbst«, erwiderte sie patzig. »Die arme Dame ist viel zu krank dazu!«
Ihre Augen funkelten. Ich mu?te mich beherrschen, ihr keine Ohrfeige herunterzuhauen.
»Der arme Hasse!« sagte Frau Zalewski.
Es war ganz dunkel auf dem Korridor. »Sie waren ziemlich grob gegen den Grafen Orlow«, sagte ich zu dem Rechnungsrat.
»Wollen Sie ihm nicht ein paar Worte der Entschuldigung sagen?«
Der Alte starrte mich an. Dann stie? er hervor:»Ein deutscher Mann entschuldigt sich nicht! Schon gar nicht bei einem Asiaten!« und warf die Tur krachend hinter sich zu.
»Was ist denn mit dem Briefmarkenhengst los?« fragte ich erstaunt.
»Der war doch immer sanft wie ein Lamm.«
»Er lauft seit ein paar Monaten in jede Wahlversammlung«, erwiderte Georgie aus dem Dunkel.
»Ach so!«
Orlow und Erna Bonig waren schon gegangen. Frau Zalewski begann plotzlich zu weinen. »Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen«, sagte ich. »Es ist ja doch nichts dran zu andern.«
»Es ist zu schrecklich«, schluchzte sie. »Ich mu? ausziehen, ich komme nicht daruber weg!«
»Sie werden schon daruber wegkommen«, sagte ich. »Ich habe einmal ein paar hundert Leute so gesehen. Gasvergiftete Englander. Bin auch druber weggekommen.«
Ich gab Georgie die Hand und ging in mein Zimmer. Es war dunkel. Unwillkurlich sah ich zum Fenster, ehe ich