Aber jetzt kannst du es nicht mehr. Es ist besiegelt. Du kannst nicht mehr weg!«

»Ich kann nicht mehr weg«, sage ich ernuchtert.»Meinetwegen! Darum brauchst du mich aber doch nicht wie eine Katze anzufallen. Wie das blutet! Was soll ich der Oberin sagen, wenn sie mich so sieht?«

Isabelle lacht.»Nichts«, erwidert sie.»Warum mu?t du immer etwas sagen? Sei doch nicht so feige!«

Ich spure das Blut lau in meinem Munde. Mein Taschentuch hat keinen Zweck – die Wunde mu? sich von selbst schlie?en. Genevieve steht vor mir. Sie ist plotzlich Jenny. Ihr Mund ist klein und ha?lich, und sie lachelt schlau und boshaft. Dann beginnen die Glocken fur die Maiandacht. Eine P?egerin kommt den Weg entlang. Ihr wei?er Mantel schimmert ungewi? im Zwielicht.

Meine Wunde ist wahrend der Andacht getrocknet, ich habe meine tausend Mark empfangen und sitze jetzt mit dem Vikar Bodendiek am Tisch. Bodendiek hat seine seidenen Gewander in der kleinen Sakristei abgelegt. Vor funfzehn Minuten war er noch eine mystische Figur -, weihrauchumdampft stand er in Brokat und Kerzenlicht da und hob die goldene Monstranz mit dem Leib Christi in der Hostie uber die Kopfe der frommen Schwestern und die Schadel der Irren, die Erlaubnis haben, bei der Andacht dabeizusein – jetzt aber, im schwarzen abgeschabten Rock und dem leicht verschwitzten wei?en Kragen, der hinten statt vorne geschlossen ist, ist er nur noch ein einfacher Agent Gottes, gemutlich, kraftig, mit den roten Backen, der roten Nase und den geplatzten Aderchen darin, die den Liebhaber des Weines kennzeichnen. Er wei? es nicht – aber er war mein Beichtvater fur manche Jahre vor dem Kriege, als wir, auf Anordnung der Schule, jeden Monat beichten und kommunizieren mu?ten. Wer nicht ganz dumm war, ging zu Bodendiek. Er war schwerhorig, und da man bei der Beichte ?ustert, konnte er nicht verstehen, was fur Sunden man bekannte. Er gab deshalb die leichtesten Bu?en auf. Ein paar Vaterunser, und man war aller Sunden ledig und konnte Fu?ball spielen gehen oder in der Stadtischen Leihbucherei versuchen, verbotene Bucher zu bekommen. Das war etwas anderes als beim Dompastor, zu dem ich einmal geriet, weil ich es eilig hatte und weil vor Bodendieks Beichtstuhl eine lange Schlange Wartender stand. Der Dompastor gab mir eine heimtuckische Bu?e auf: ich mu?te in einer Woche wieder zur Beichte kommen, und als ich es tat, fragte er mich, warum ich da sei. Da man in der Beichte nicht lugen darf, sagte ich es ihm, und er gab mir als Bu?e ein paar Dutzend Rosenkranze zu beten und den Befehl, die folgende Woche ebenfalls wiederzukommen. Das ging so weiter, und ich verzweifelte fast – ich sah mich bereits mein ganzes Leben an der Kette des Dompastors zu wochentlichen Konfessionen verurteilt. Zum Gluck bekam der heilige Mann in der vierten Woche die Masern und mu?te im Bett bleiben. Als mein Beichttag herankam, ging ich zu Bodendiek und erklarte ihm mit lauter Stimme die Lage – der Dompastor habe mich verp?ichtet, heute wieder zu beichten, aber er sei krank. Was ich tun solle? Zu ihm hingehen konne ich nicht, da Masern ansteckend seien. Bodendiek entschied, da? ich bei ihm ebensogut beichten konne; Beichte sei Beichte und Priester Priester. Ich tat es und war frei. Den Dompastor aber mied ich seither wie die Pest.

Wir sitzen in einem kleinen Zimmer in der Nahe des gro?en Saales fur die freien Kranken. Es ist kein eigentliches E?zimmer; Bucherregale stehen darin, ein Topf mit wei?en Geranien, ein paar Stuhle und Sessel und ein runder Tisch. Die Oberin hat uns eine Flasche Wein geschickt, und wir warten auf das Essen. Ich hatte vor zehn Jahren nie geglaubt, einmal mit meinem Beichtvater eine Flasche Wein zu trinken – aber ich hatte damals auch nie geglaubt, da? ich einmal Menschen toten und dafur nicht aufgehangt, sondern dekoriert werden wurde, und trotzdem ist es so gekommen.

Bodendiek probiert den Wein.»Ein Schlo? Reinhardshausener von der Domane des Prinzen Heinrich von Preu?en«, erklart er andachtig.»Die Oberin hat uns da etwas sehr Gutes geschickt. Verstehen Sie was von Wein?«

»Wenig«, sage ich.

»Sie sollten es lernen. Speise und Trank sind Gaben Gottes. Man soll sie genie?en und verstehen.«

»Der Tod ist sicher auch eine Gabe Gottes«, erwidere ich und blicke durch das Fenster in den dunklen Garten. Es ist windig geworden, und die schwarzen Kronen der Baume schwanken.»Soll man den auch genie?en und verstehen?«

Bodendiek sieht mich uber den Rand seines Weinglases belustigt an.»Fur einen Christen ist der Tod kein Problem. Er braucht ihn nicht gerade zu genie?en; aber verstehen kann er ihn ohne weiteres. Der Tod ist der Eingang zum ewigen Leben. Da ist nichts zu furchten. Und fur viele ist er eine Erlosung.«

»Warum?«

»Eine Erlosung von Krankheit, Schmerz, Einsamkeit und Elend.«Bodendiek nimmt einen genie?erischen Schluck und la?t ihn hinter seinen roten Backen im Munde umhergehen.

»Ich wei?«, sage ich.»Die Erlosung vom irdischen Jammertal. Warum hat Gott es eigentlich geschaffen?«

Bodendiek sieht im Augenblick nicht so aus, als konne er das Jammertal nicht ertragen. Er ist rund und voll und hat die Scho?e seines Priesterrocks uber die Lehne des Stuhls gebreitet, damit sie nicht zerknittern unter dem Druck seines kraftigen Hinterns. So sitzt er da, der Kenner des Jenseits und des Weines, das Glas fest in der Hand.

»Wozu hat Gott eigentlich das irdische Jammertal geschaffen?«wiederhole ich.»Hatte er uns nicht gleich im ewigen Leben lassen konnen?«

Bodendiek hebt die Schultern.»Sie konnen das in der Bibel nachlesen. Der Mensch, das Paradies, der Sundenfall -«

»Der Sundenfall, die Vertreibung aus dem Paradiese, die Erbsunde und damit der Fluch uber hunderttausend Generationen. Der Gott der langsten Rache, die es je gegeben hat.«

»Der Gott der Vergebung«, erwidert Bodendiek und halt den Wein gegen das Licht.»Der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit, der immer wieder bereit ist, zu vergeben, und der seinen eigenen Sohn geopfert hat, um die Menschheit zu erlosen.«

»Herr Vikar Bodendiek«, sagte ich, plotzlich sehr wutend.»Weshalb hat der Gott der Liebe und der Gerechtigkeit eigentlich die Menschen so verschieden erschaffen? Warum den einen elend und krank und den andern gesund und gemein?«

»Wer hier erniedrigt wird, wird im Jenseits erhoht. Gott ist die ausgleichende Gerechtigkeit.«

»Ich bin nicht so sicher«, erwidere ich.»Ich kannte eine Frau, die zehn Jahre Krebs hatte, die sechs furchterliche Operationen hinter sich brachte, die nie ohne Schmerzen war und die schlie?lich an Gott verzweifelte, als zwei ihrer Kinder starben. Sie ging nicht mehr zur Messe, zur Beichte und zur Kommunion, und nach den Regeln der Kirche starb sie im Stande der Todsunde. Nach denselben Regeln brennt sie jetzt fur alle Ewigkeit in der Holle, die der Gott der Liebe geschaffen hat. Das ist gerecht, nicht wahr?«

Bodendiek sieht eine Zeitlang in den Wein.»Ist es Ihre Mutter?«fragt er dann.

Ich starre ihn an.»Was hat das damit zu tun?«

»Es ist Ihre Mutter, nicht wahr?«

Ich schlucke.»Und wenn es meine Mutter ware -«

Er schweigt.»Es genugt eine einzige Sekunde, um sich mit Gott zu versohnen«, sagt er dann behutsam.»Eine Sekunde vor dem Tode. Ein einziger Gedanke. Er braucht nicht einmal ausgesprochen zu werden.«

»Das habe ich vor ein paar Tagen einer verzweifelten Frau auch gesagt. Aber wenn der Gedanke nicht da war?«

Bodendiek sieht mich an.»Die Kirche hat Regeln. Sie hat Regeln, um zu verhuten und zu erziehen. Gott hat keine. Gott ist die Liebe. Wer von uns kann wissen, wie er richtet?«

»Richtet er?«

»Wir nennen es so. Es ist Liebe.«

»Liebe«, sage ich bitter.»Eine Liebe, die voll Sadismus ist. Eine Liebe, die qualt und elend macht und die entsetzliche Ungerechtigkeit der Welt mit dem Versprechen eines imaginaren Himmels zu korrigieren glaubt.«

Bodendiek lachelt.»Glauben Sie nicht, da? vor Ihnen schon andere Leute daruber nachgedacht haben?«

»Ja, unzahlige. Und klugere als ich.«

»Das glaube ich auch«, erwidert Bodendiek gemutlich.

»Das andert nichts daran, da? ich es nicht auch tue.«

»Bestimmt nicht.«Bodendiek schenkt sein Glas voll.»Tun Sie es nur grundlich. Zweifel ist die Kehrseite des Glaubens.«

Ich sehe ihn an. Er sitzt da, ein Turm der Festigkeit, und nichts kann ihn erschuttern. Hinter seinem kraftigen Kopf steht die Nacht, die unruhige Nacht Isabelles, die weht und gegen das Fenster sto?t und endlos und voller

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату