Wernicke sieht mich an.»Was ist mit Ihrer Lippe los?«
»Nichts. Ich habe mich im Traum gebissen.«
Bodendiek lacht. Die Tur offnet sich, und die kleine Schwester bringt eine neue Flasche Wein herein, mit drei Glasern dazu. Wernicke verla?t mit der Schwester das Zimmer. Bodendiek greift nach der Flasche und schenkt sich ein. Ich verstehe jetzt, warum er Wernicke angeboten hat, mit uns zu trinken; die Oberin hat daraufhin die neue Flasche geschickt. Eine allein ware nicht genug fur drei Manner. Dieser Schlauberger, denke ich. Er hat das Wunder der Speisung bei der Bergpredigt wiederholt. Aus einem Glas fur Wernicke hat er eine ganze Flasche fur sich gemacht.»Sie trinken wohl nicht mehr, wie?«fragt er.
»Doch!«erwidere ich und setze mich.»Ich bin auf den Geschmack gekommen. Sie haben ihn mir beigebracht. Danke herzlich.«
Bodendiek zieht mit einem sauersu?en Lacheln die Flasche wieder aus dem Eis. Er betrachtet das Etikett einen Augenblick, ehe er mir eingie?t – ein viertel Glas. Sein eigenes schenkt er fast bis zum Rande voll. Ich nehme ihm ruhig die Flasche aus der Hand und gie?e mein Glas nach, bis es ebenso gefullt ist wie seines.»Herr Vikar«, sage ich.»In manchen Dingen sind wir gar nicht so verschieden.«
Bodendiek lacht plotzlich. Sein Gesicht entfaltet sich wie eine P?ngstrose.»Zum Wohle«, sagt er salbungsvoll.
Das Gewitter murrt und zieht hin und her. Wie lautlose Sabelhiebe fallen die Blitze. Ich sitze am Fenster meines Zimmers, die Fetzen aller Briefe Ernas vor mir in einem ausgehohlten Elefantenfu?, den mir der Weltreisende Hans Ledermann, der Sohn des Schneidermeisters Ledermann, vor einem Jahr als Papierkorb geschenkt hat.
Ich bin fertig mit Erna. Ich habe mir alle ihre unangenehmen Eigenschaften aufgezahlt; ich habe sie emotionell und menschlich in mir vernichtet und als Dessert ein paar Kapitel Schopenhauer und Nietzsche gelesen. Aber trotzdem mochte ich lieber, da? ich einen Smoking hatte, ein Auto und einen Chauffeur, und da? ich, begleitet von zwei bis drei bekannten Schauspielerinnen, einige Hundert Millionen in der Tasche, jetzt in der Roten Muhle auftauchen konnte, um der Schlange dort den Schlag ihres Lebens zu versetzen. Ich traume eine Zeitlang davon, wie es ware, wenn sie morgen in der Zeitung lesen wurde, ich hatte das gro?e Los gewonnen oder ware schwer verletzt worden, wahrend ich Kinder aus brennenden Hausern gerettet hatte. Dann sehe ich Licht in Lisas Zimmer.
Sie offnet es und macht Zeichen. Mein Zimmer ist dunkel, sie kann mich nicht sehen; also meint sie nicht mich. Sie sagt lautlos etwas, zeigt auf ihre Brust und dann auf unser Haus, und nickt. Darauf erlischt das Licht.
Ich beuge mich vorsichtig hinaus. Es ist zwolf Uhr nachts, und die Fenster rundum sind dunkel. Nur das von Georg Kroll ist offen.
Ich warte und sehe, wie Lisas Haustur sich bewegt. Sie tritt heraus, sieht rasch nach beiden Seiten und lauft uber die Stra?e. Sie tragt ein leichtes buntes Kleid und hat ihre Schuhe in der Hand, um kein Gerausch zu machen. Gleichzeitig hore ich, wie sich die Haustur bei uns vorsichtig offnet. Es mu? Georg sein. Die Haustur hat oben eine Klingel, und um sie ohne Krach zu offnen, mu? man auf einen Stuhl steigen, die Klingel festhalten und mit dem Fu? die Klinke herunterdrucken und aufziehen, eine akrobatische Leistung, zu der man nuchtern sein mu?. Ich wei?, da? Georg heute abend nuchtern ist.
Gemurmel ertont; das Klappern von hohen Absatzen. Lisa, das eitle Biest, hat also ihre Schuhe wieder angezogen, um verfuhrerischer auszusehen. Die Tur zu Georgs Zimmer seufzt leise. Also doch! Wer hatte das erwartet? Georg, dieses stille Wasser! Wann hat er das nur geschafft?
Das Gewitter kommt zuruck. Der Donner wird starker, und plotzlich, wie ein Regen von Silbertalern, sturzt das Wasser auf das P?aster. Es spruht als Staubfontane zuruck, und Kuhle weht erfrischend herauf. Ich lehne aus dem Fenster und blicke in den nassen Tumult. Das Wasser schie?t bereits durch die Ab?u?rinnen, Blitze leuchten hinein, und im Auf- und Ab?ammen sehe ich aus Georgs Zimmer die nackten Arme Lisas sich in den Regen strecken, und dann sehe ich ihren Kopf und hore ihre heisere Stimme. Georgs kahlen Kopf sehe ich nicht. Er ist kein Naturschwarmer.
Das Hoftor offnet sich unter einem Fausthieb. Klatschna? wankt der Feldwebel Knopf herein. Das Wasser trieft von seiner Kappe. Gottlob, denke ich, bei dem Wetter brauche ich nicht mit einem Wassereimer hinter seinen Schweinereien her zu sein! Aber Knopf enttauscht mich. Er sieht sein Opfer, den schwarzen Obelisken, uberhaupt nicht an. Fluchend und nach dem Regen schlagend wie nach Stechmucken, ?uchtet er ins Haus. Wasser ist sein gro?er Feind.
Ich nehme den Elefantenfu? und leere seinen Inhalt auf die Stra?e. Der Regen schwemmt Ernas Liebesgeschwatz rasch davon. Das Geld hat gesiegt, denke ich, wie immer, obschon es nichts wert ist. Ich gehe zum anderen Fenster und sehe in den Garten. Das gro?e Regenfest ist dort in vollem Gange, eine grune Orgie der Begattung, schamlos und unschuldig. Im Aufblitzen des Wetterleuchtens sehe ich die Grabplatte fur den Selbstmorder. Sie ist beiseite gestellt, die Inschrift ist eingehauen und leuchtet golden. Ich ziehe das Fenster zu und mache Licht. Unten murmeln Georg und Lisa. Mein Zimmer erscheint mir plotzlich entsetzlich leer. Ich offne das Fenster wieder, lausche in das anonyme Brausen und beschlie?e, mir vom Buchhandler Bauer als Honorar fur die letzte Woche Nachhilfeunterricht ein Buch uber Yoga, Entsagung und Selbstgenugsamkeit geben zu lassen. Die Leute sollen darin mit Atemubungen Fabelhaftes erreicht haben.
Bevor ich schlafen gehe, komme ich an meinem Spiegel vorbei. Ich bleibe stehen und sehe hinein. Was ist da wirklich? denke ich. Woher kommt die Perspektive, die keine ist, die Tiefe, die tauscht, der Raum, der Ebene ist? Und wer ist das, der da herausschaut und nicht da ist?
Ich sehe meine Lippe, geschwollen und verkrustet, ich beruhre sie, und jemand gegenuber beruhrt eine Geisterlippe, die nicht da ist. Ich grinse, und der Nicht-Jemand grinst zuruck. Ich schuttle den Kopf, und der Nicht- Jemand schuttelt den Nicht-Kopf. Wer von uns ist wer? Und was ist Ich? Das da oder das Fleischumkleidete davor? Oder ist es noch etwas anderes, etwas hinter beiden? Ich spure einen Schauder und losche das Licht.
VII
Riesenfeld hat Wort gehalten. Der Hof ist voll von Denkmalern und Sockeln. Die allseitig polierten sind in Latten eingeschlagen und in Sackleinen eingehullt. Sie sind die Primadonnen unter den Leichensteinen und mussen au?erst vorsichtig behandelt werden, damit den Kanten nichts geschieht.
Die ganze Belegschaft steht im Hof, um zu helfen und zuzusehen. Sogar die alte Frau Kroll wandert umher, pruft die Schwarze und Feinheit des Granits und wirft ab und zu einen wehmutigen Blick auf den Obelisken neben der Tur – das einzige, was von den Einkaufen ihres toten Gemahls ubriggeblieben ist.
Kurt Bach dirigiert einen machtigen Block Sandstein in seine Werkstatt. Ein neuer sterbender Lowe wird daraus entstehen, aber dieses Mal nicht gebeugt, mit Zahnschmerzen, sondern mit letzter Kraft brullend, einen abgebrochenen Speer in der Flanke. Er ist fur das Kriegerdenkmal des Dorfes Wustringen bestimmt, in dem ein besonders zackiger Kriegerverein unter dem Befehl des Majors a. D. Wolkenstein haust. Wolkenstein war der trauernde Lowe zu waschlappig. Er hatte am liebsten einen mit vier feuerspeienden Kopfen bestellt.
Eine Sendung der Wurttembergischen Metallwarenfabrik, die gleichzeitig angekommen ist, wird ebenfalls ausgepackt. Vier au?iegende Adler werden in einer Reihe nebeneinander auf den Boden gestellt, zwei aus Bronze und zwei aus Gu?eisen. Sie sind da, um andere Kriegerdenkmaler zu kronen und die Jugend des Landes fur einen neuen Krieg zu begeistern – denn, wie Major a. D. Wolkenstein so uberzeugend erklart: Einmal mussen wir schlie?lich doch gewinnen, und dann wehe den anderen! Vorlau?g sehen die Adler allerdings nur wie riesige Huhner aus, die Eier legen wollen – doch das wird sich schon andern, wenn sie erst oben auf den Denkmalern thronen. Auch Generale wirken ohne Uniform leicht wie Heringsbandiger, und sogar Wolkenstein sieht in Zivil nur aus wie ein fetter Sportlehrer. Aufmachung und Distanz sind alles in unserem geliebten Vaterland.
Ich uberwache, als Reklamechef, die Anordnung der Denkmaler. Sie sollen nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern freundliche Gruppen bilden und kunstlerisch durch den Garten verteilt werden. Heinrich Kroll ist dagegen. Er hat lieber, wenn die Steine wie Soldaten ausgerichtet sind; alles andere erscheint ihm verweichlicht. Zum Gluck wird er uberstimmt. Auch seine Mutter ist gegen ihn. Sie ist eigentlich immer gegen ihn. Sie wei? heute noch nicht, wieso Heinrich ihr Kind ist und nicht das der Majorin a. D. Wolkenstein.