»Da sehen Sie es«, sagt Heinrich bitter zu Riesenfeld.»Dadurch haben wir den Krieg verloren. Durch die Schlamperei der Intellektuellen und durch die Juden.«
»Und die Radfahrer«, erganzt Riesenfeld.
»Wieso die Radfahrer?«fragt Heinrich erstaunt.
»Wieso die Juden?«fragt Riesenfeld zuruck.
Heinrich stutzt.»Ach so«, sagt er dann lustlos.»Ein Witz. Ich werde Georg wecken.«
»Ich wurde das nicht tun«, erklare ich laut.
»Geben Sie mir gefalligst keine Ratschlage!«
Heinrich nahert sich der Tur. Ich halte ihn nicht ab. Georg mu?te taub sein, wenn er inzwischen nicht abgeschlossen hatte.»Lassen Sie ihn schlafen«, sagt Riesenfeld.»Ich habe keine Lust auf gro?e Unterhaltungen so fruh.«
Heinrich halt inne.»Warum machen Sie nicht einen Spaziergang durch Gottes freie Natur mit Herrn Riesenfeld?«frage ich.»Wenn Sie dann zuruckkommen, ist der Haushalt aufgewacht, Speck und Eier brodeln in der Pfanne, Brotchen sind extra fur Sie gebacken worden, ein Bukett frisch gep?uckter Gladiolen ziert die dusteren Paraphernalien des Todes, und Georg ist da, rasiert und nach Kolnisch Wasser duftend.«
»Gott soll mich schutzen«, murmelt Riesenfeld.»Ich bleibe hier und schlafe.«
Ich zucke ratlos die Achseln. Ich kriege ihn nicht aus der Bude.»Meinetwegen«, sage ich.»Dann gehe ich inzwischen Gott loben.«
Riesenfeld gahnt.»Ich wu?te nicht, da? die Religion hier in so hohem Ansehen steht. Sie werfen ja mit Gott herum wie mit Kieselsteinen.«
»Das ist das Elend! Wir sind alle zu intim mit ihm geworden. Gott war immer der Duzbruder aller Kaiser, Generale und Politiker. Dabei sollten wir uns furchten, seinen Namen zu nennen. Aber ich gehe nicht beten, nur Orgel spielen. Kommen Sie mit!«
Riesenfeld winkt ab. Ich kann jetzt nichts weiter mehr tun. Georg mu? sich selber helfen. Ich kann nur noch gehen – vielleicht gehen die andern beiden dann auch. Um Heinrich habe ich keine Sorge; Riesenfeld wird ihn schon loswerden.
Die Stadt ist taufrisch. Ich habe noch uber zwei Stunden Zeit bis zur Messe. Langsam gehe ich durch die Stra?en. Es ist ein ungewohntes Erlebnis. Der Wind ist milde und so sanft, als ware der Dollar gestern um zweihundertfunfzigtausend Mark gefallen und nicht gestiegen. Eine Zeitlang starre ich in den friedlichen Flu?; dann in das Schaufenster der Firma Bock und Sohne, die Senf produziert und ihn in Miniaturfa?chen ausstellt.
Ein Schlag auf die Schulter weckt mich auf. Hinter mir steht mit verquollenen Augen ein langer, dunner Mann. Es ist die Brunnenpest Herbert Scherz. Ich blicke ihn mi?vergnugt an.»Guten Morgen oder guten Abend?«frage ich.»Sind Sie vor oder nach dem Schlaf?«
Herbert sto?t gerauschvoll auf. Eine scharfe Wolke treibt mir fast die Tranen in die Augen.»Gut; also noch vor dem Schlaf«, sage ich.»Schamen Sie sich nicht? Was war der Grund? Scherz, Ernst, Ironie oder einfache Verzwei?ung?«
»Ein Stiftungsfest«, sagt Herbert.
Ich mache ungern Witze mit Namen; aber Herbert tut man damit einen Gefallen.»Scherz beiseite!«sage ich.
»Stiftungsfest«, wiederholt Herbert selbstgefallig.»Mein Einstand als neues Mitglied in einem Verein. Mu?te den Vorstand freihalten.«Er sieht mich eine Weile an und sto?t dann triumphierend hervor:»Schutzenverein Alte Kameraden! Verstehen Sie?«
Ich verstehe. Herbert Scherz ist ein Vereinssammler. Andere Leute sammeln Briefmarken oder Kriegsandenken – Herbert sammelt Vereine. Er ist bereits Mitglied in uber einem Dutzend – nicht weil er soviel Unterhaltung braucht, sondern weil er ein leidenschaftlicher Anhanger des Todes und des dabei gezeigten Pomps ist. Er hat sich darauf kapriziert, einmal das pomposeste Begrabnis der Stadt haben zu wollen. Da er nicht genugend Geld dafur hinterlassen kann und niemand sonst es bezahlen wurde, ist er auf die Idee gekommen, allen moglichen Vereinen beizutreten. Er wei?, da? Vereine beim Tode eines Mitglieds einen Kranz mit Schleife stiften, und das ist sein erstes Ziel. Au?erdem aber geht immer auch eine Abordnung mit der Vereinsfahne hinter dem Sarge her, und darauf vertraut er ebenfalls. Er hat ausgerechnet, da? er jetzt schon durch seine Mitgliedschaft mit zwei Wagen Kranzen rechnen kann, und das ist noch lange nicht das Ende. Er ist knapp sechzig und hat noch eine schone Zeit vor sich, anderen Vereinen beizutreten. Selbstverstandlich ist er in Bodo Ledderhoses Gesangverein, ohne je eine Note gesungen zu haben. Eivist dort sympathisierendes, inaktives Mitglied, ebenso wie im Schachklub Springerheil, im Kegelklub Alle Neune und im Aquarienklub und Terrarienverein Pterophyllum scalare. In den Aquarienklub habe ich ihn hineingebracht, weil ich glaubte, er wurde dafur im voraus sein Denkmal bei uns bestellen. Er hat es nicht getan. Jetzt also hat er es geschafft, auch in einen Schutzenverein zu kommen.
»Waren Sie denn je Soldat?«frage ich.
»Wozu? Ich bin Mitglied, das genugt. Ein Hauptschlag, was? Wenn Schwarzkopf das erfahrt, wird er sich krummen vor Wut.«
Schwarzkopf ist Herberts Konkurrent. Er hat vor zwei Jahren von Herberts Leidenschaft erfahren und aus Witz erklart, ihm Konkurrenz machen zu wollen. Scherz hatte das damals so ernst genommen, da? Schwarzkopf voll Vergnugen tatsachlich ein paar Vereinen beitrat, um Herberts Reaktion zu beobachten. Mit der Zeit aber geriet er in sein eigenes Netz, er fand Freude an dem Gedanken, und jetzt ist er selbst ein Sammler geworden – nicht ganz so offen wie Scherz, aber heimlich und von hinten herum, eine Schmutz-Konkurrenz, die Scherz viel Sorge macht.
»Schwarzkopf krummt sich nicht so leicht«, sage ich, um Herbert zu reizen.
»Er mu?! Es ist diesmal nicht nur der Kranz und die Vereinsfahne – es sind auch die Vereinsbruder in Uniform -«
»Uniformen sind verboten«, sage ich milde.»Wir haben den Krieg verloren, Herr Scherz, haben Sie das ubersehen? Sie hatten in einen Polizistenverein eintreten sollen; da sind Uniformen noch erlaubt.«
Ich sehe, da? Scherz die Polizistenidee im Geiste notiert, und werde nicht uberrascht sein, wenn er in ein paar Monaten im Schupoklub»Zur treuen Handfessel«als stilles Mitglied erscheinen wird. Im Augenblick lehnt er erst einmal meine Zweifel ab.»Bis ich sterbe, ist Uniformtragen langst wieder erlaubt! Wo blieben sonst die vaterlandischen Belange? Man kann uns nicht fur immer versklaven!«
Ich sehe in das verschwollene Gesicht mit den geplatzten Aderchen. Sonderbar, wie verschieden die Ideen uber Sklaverei sind! Ich ?nde, ich kam ihr am nachsten als Rekrut in Uniform.»Au?erdem«, sage ich,»wird man beim Tode eines Zivilisten zweifellos nicht in Wichs mit Sabeln, Helm und Praservativ antreten. So was ist nur fur aktive Militarhengste.«
»Fur mich auch! Es ist mir diese Nacht ausdrucklich zugesagt worden! Vom Prasidenten personlich!«
»Zugesagt! Was wird einem im Suff nicht alles zugesagt!«
Herbert scheint mich nicht gehort zu haben.»Nicht allein das«, ?ustert er in damonischem Triumph.»Dazu kommt noch das Gro?te: die Ehrensalve uber dem Grab!«
Ich lache in sein ubernachtigtes Gesicht.»Eine Salve? Womit? Mit Selters Wasser?aschen? Waffen sind auch verboten in unserem geliebten Vaterlande! Versailler Vertrag, Herr Scherz. Die Ehrensalve ist ein Wunschtraum, den Sie begraben konnen!«
Aber Herbert ist nicht zu erschuttern. Er schuttelt schlau den Kopf.»Haben Sie eine Ahnung! Wir haben langst wieder eine geheime Armee! Schwarze Reichswehr.«Er kichert.»Ich kriege meine Salve! In ein paar Jahren haben wir sowieso alles wieder. Allgemeine Wehrp?icht und Armee. Wie sollten wir sonst leben?«
Der Wind bringt einen wurzigen Senfgeruch um die Ecke, und der Flu? wirft plotzlich Silber von unten uber die Stra?e. Die Sonne ist aufgegangen. Scherz niest.»Schwarzkopf ist endgultig geschlagen«, sagt er selbstzufrieden.
»Der Prasident hat mir versprochen, da? er nie in den Verein reingelassen wird.«
»Er kann in einen Verein ehemaliger schwerer Artillerie eintreten«, erwidere ich.»Dann wird uber seinem Grab mit Kanonen geschossen.«
Scherz zuckt einen Moment nervos mit dem rechten Auge. Dann winkt er ab.»Das sind Witze. Es gibt nur den einen Schutzenverein in der Stadt. Nein, Schwarzkopf ist fertig. Ich komme morgen einmal bei Ihnen vorbei, Denkmaler ansehen. Irgendwann mu? ich mich ja doch mal entscheiden.«
Er entscheidet sich schon, seit ich im Geschaft bin. Das hat ihm den Namen Brunnenpest eingetragen. Er ist