»Das ist es!«sage ich.»Das macht mich ja so argerlich!«

»Er wei? es. Das macht ihn so sicher.«

Ich schenke mir den Rest des Weines ein. Kaum anderthalb Glas – das andere hat der Streiter Gottes getrunken – einen Forster Jesuitengarten 1915 – Wein, den man nur abends mit einer Frau trinken sollte.»Und Sie?«frage ich.

»Mich geht das alles nichts an«, sagt Wernicke.»Ich bin eine Art Verkehrspolizist des Seelenlebens. Ich versuche es an dieser Kreuzung hier etwas zu dirigieren – aber ich bin nicht fur den Verkehr verantwortlich.«

»Ich fuhle mich immerfort fur alles in der Welt verantwortlich. Bin ich eigentlich ein Psychopath?«

Wernicke bricht in ein beleidigendes Gelachter aus.»Das mochten Sie wohl! So einfach ist das nicht! Sie sind vollig uninteressant. Ein ganz normaler Durchschnittsadoleszent!«

Ich komme auf die Gro?e Stra?e. Langsam schiebt sich ein Demonstrationszug vom Markt her heran. Wie Mowen vor einer dunklen Wolke ?attern hastig noch eine Anzahl hellgekleideter Sonntagsaus?ugler mit Kindern, E?paketen, Fahrradern und buntem Krimskrams vor ihm her – dann ist er da und versperrt die Stra?e.

Es ist ein Zug von Kriegskruppeln, die gegen ihre niedrigen Renten protestieren. Voran fahrt auf einem kleinen Rollwagen der Stumpf eines Korpers mit einem Kopf. Arme und Beine fehlen. Es ist nicht mehr moglich, zu sehen, ob der Stumpf fruher ein gro?er oder ein kleiner Mann gewesen ist. Selbst an den Schultern kann man es nicht mehr abschatzen, da die Arme so hoch amputiert worden sind, da? kein Platz fur Prothesen mehr da war. Der Kopf ist rund, der Mann hat lebhafte braune Augen und tragt einen Schnurrbart. Jemand mu? jeden Tag auf ihn achtgeben – er ist rasiert, das Haar ist geschnitten und der Schnurrbart gestutzt. Der kleine Wagen, der eigentlich nur ein Brett mit Rollen ist, wird von einem Einarmigen gezogen. Der Amputierte sitzt sehr gerade und aufmerksam darauf. Ihm folgen die Wagen mit den Beinamputierten; je drei nebeneinander. Es sind Wagen mit gro?en Gummiradern, die mit den Handen vorwartsbewegt werden. Die Lederschurzen, die die Stellen zudecken, wo Beine sein mu?ten, und die gewohnlich geschlossen sind, sind heute offen. Man sieht die Stumpfe. Die Hosen sind sorgfaltig darumgefaltet.

Als nachste kommen Amputierte mit Krucken. Es sind die sonderbar schiefen Silhouetten, die man so oft gesehen hat – die geraden Krucken und dazwischen der etwas schraghangende Korper. Dann folgen Blinde und Einaugige. Man hort die wei?en Stabe auf das P?aster tappen und sieht an den Armen die gelben Binden mit den drei Punkten. Die Augenlosen sind dadurch so bezeichnet, wie man die geschlossenen Einfahrten von Einbahnstra?en oder Sackgassen markiert – mit den drei schwarzen runden Ballen des verbotenen Verkehrs. Viele der Verletzten tragen Schilder mit Aufschriften. Auch die Blinden tragen welche, wenn sie sie auch nie mehr lesen konnen.»Ist das der Dank des Vaterlandes?«steht auf einem.»Wir verhungern«, auf einem anderen.

Dem Mann auf dem kleinen Wagen hat man einen Stock mit einem Zettel vorn in seine Jacke gesteckt. Darauf steht:»Meine Monatsrente ist eine Goldmark wert.«Zwischen zwei anderen Wagen ?attert eine wei?e Fahne:»Unsere Kinder haben keine Milch, kein Fleisch, keine Butter. Haben wir dafur gekampft?«

Es sind die traurigsten Opfer der In?ation. Ihre Renten sind so entwertet, da? sie kaum noch etwas damit anfangen konnen. Ab und zu werden ihre Bezuge von der Regierung erhoht – viel zu spat, denn am Tage der Erhohung sind sie schon wieder um ein Vielfaches zu niedrig. Der Dollar ist zu wild geworden; er springt jetzt nicht mehr um Tausende und Zehntausende, sondern um Hunderttausende taglich. Vorgestern stand er auf einer Million zweihunderttausend – gestern auf einer Million vierhunderttausend. Morgen erwartet man ihn auf zwei Millionen – und am Ende des Monats auf zehn. Die Arbeiter bekommen jetzt zweimal am Tage Geld – morgens und nachmittags -, und jedesmal eine halbe Stunde Pause, damit sie losrennen und einkaufen konnen; denn wenn sie bis nachmittags damit warten, haben sie schon soviel verloren, da? ihre Kinder nicht halb mehr satt werden. Satt – nicht gut genahrt. Satt mit allem, was man in den Magen stopfen kann – nicht mit dem, was der Korper braucht.

Der Zug ist viel langsamer als alle anderen Demonstrationszuge. Hinter ihm stauen sich die Autos der Sonntagsaus?ugler. Es ist ein sonderbarer Kontrast – die graue, fast anonyme Masse der schweigend sich dahinschleppenden Kriegsopfer, und dahinter die zuruckgestauten Autos der Kriegsgewinnler, murrend, fauchend, ungeduldig, dicht auf den Fersen der Kriegerwitwen, die mit ihren Kindern den Schlu? des Zuges bilden, dunn, verhungert, verharmt und angstlich. In den Autos prangen die Farben des Sommers, Leinen, Seide, volle Wangen, runde Arme und Gesichter, die verlegen sind, weil sie in diese unangenehme Situation geraten sind. Die Fu?ganger auf den Trottoirs sind besser dran; sie schauen einfach weg und zerren ihre Kinder mit, die stehenbleiben und die Verstummelten erklart haben wollen. Wer kann, verschwindet durch die Seitenstra?en.

Die Sonne steht hoch, es ist hei?, und die Verwundeten fangen an zu schwitzen. Es ist der ungesunde kasige Schwei? der Blutarmen, der ihnen uber die Gesichter rinnt. Hinter ihnen plarrt plotzlich eine Hupe. Jemand hat es nicht ausgehalten; er glaubt, er musse einige Minuten sparen, und versucht deshalb, halb auf dem Trottoir vorbeizufahren. Alle Verwundeten drehen sich um. Keiner sagt etwas, aber sie ziehen sich auseinander und sperren die Stra?e. Das Auto mu?te sie uberfahren, wenn es passieren wollte. Ein junger Mann in einem hellen Anzug, mit einem Strohhut, sitzt mit einem Madchen darin. Er macht ein paar albernverlegene Gesten und zundet sich eine Zigarette an. Jeder der Verletzten, der an ihm vorbeikommt, sieht ihn an. Nicht aus Vorwurf – er sieht nach der Zigarette, deren wurziger Duft uber die Stra?e treibt. Es ist eine sehr gute Zigarette, und keiner der Verwundeten kann sich oft erlauben, uberhaupt noch zu rauchen. Deshalb schnuppern sie wenigstens, soviel sie konnen.

Ich folge dem Zug bis zur Marienkirche. Dort stehen zwei Nationalsozialisten in Uniform mit einem gro?en Schild:»Kommt zu uns, Kameraden! Adolf Hitler wird Euch helfen!«Der Zug zieht um die Kirche herum.

Wir sitzen in der Roten Muhle. Eine Flasche Champagner steht vor uns. Sie kostet zwei Millionen Mark – soviel wie ein Beinamputierter mit Familie in zwei Monaten an Rente erhalt. Riesenfeld hat sie bestellt.

Er sitzt so, da? er die Tanz?ache voll ubersehen kann.

»Ich wu?te es von Anfang an«, erklart er mir.»Wollte nur mal sehen, wie ihr mich anschwindeln wurdet. Aristokratinnen wohnen nicht gegenuber von kleinen Grabsteingeschaften und nicht in solchen Hausern!«

»Das ist ein erstaunlicher Trugschlu? fur einen Weltmann wie Sie«, erwidere ich.»Sie sollten wissen, da? Aristokraten fast nur noch so wohnen. Die In?ation hat dafur gesorgt. Es ist aus mit den Palasten, Herr Riesenfeld. Und wenn jemand noch einen hat, vermietet er Zimmer darin. Das ererbte Geld ist dahingeschwunden. Konigliche Hoheiten wohnen in moblierten Zimmern, sabelrasselnde Obersten sind zahneknirschend Versicherungsagenten geworden, Gra?nnen -«

»Genug!«unterbricht mich Riesenfeld.»Mir kommen die Tranen! Weitere Aufklarungen sind unnotig. Aber die Sache mit Frau Watzek habe ich immer gewu?t. Es hat mich nur amusiert, euch bei euren plumpen Schwindelversuchen zuzusehen.«

Er schaut hinter Lisa her, die mit Georg einen Foxtrott tanzt. Ich vermeide es, den Odenwald-Casanova daran zu erinnern, da? er Lisa als Franzosin mit dem Gang eines vollschlanken Panthers klassi?ziert hat – es wurde den sofortigen Abbruch unserer Beziehungen bedeuten, und wir brauchen dringend Granit.

»Ubrigens tut das dem Ganzen keinen Abbruch«, erklart Riesenfeld versohnlich.»Ist im Gegenteil noch hoher anzusetzen! Diese Rasse, ganz aus dem Volke! Sehen Sie nur, wie sie tanzt! Wie ein – ein -«

»Ein vollschlanker Panther«, half ich aus.

Riesenfeld schielt mich an.»Manchmal verstehen Sie ein bi?chen von Frauen«, knurrt er.

»Gelernt – von Ihnen!«

Er prostet mir zu, ahnungslos geschmeichelt.»Ich mochte gern eines von Ihnen wissen«, sage ich.»Ich habe das Gefuhl, da? Sie zu Hause im Odenwald ein erstklassiger, ruhiger Burger und Familienvater sind – Sie haben uns ja vorhin die Fotos Ihrer drei Kinder und Ihres rosenumbluhten Hauses gezeigt, zu dessen Mauern Sie aus Prinzip kein Stuck Granit verwendet haben, was ich, als verkrachter Poet, Ihnen hoch anrechne -, warum verwandeln Sie sich dann drau?en in einen solchen Konig der Nachtklubs?«

»Um zu Hause mit um so mehr Genu? Burger und Familienvater zu sein«, erwidert Riesenfeld prompt.

»Das ist ein guter Grund. Aber warum erst der Umweg?«

Riesenfeld grinst.»Es ist mein Damon. Die doppelte Natur des Menschen. Nie davon gehort, was?«

»Ich nicht? Ich bin eines der Musterbeispiele dafur.«

Riesenfeld lacht beleidigend, ungefahr wie Wernicke morgens.»Sie?«

»Es gibt so etwas auch auf einer etwas geistigeren Ebene«, erklare ich.

Riesenfeld nimmt einen Schluck und seufzt.»Wirklichkeit und Phantasie! Die ewige Jagd, der ewige Zwiespalt! Oder -«fugt er, sich wieder?ndend, mit Ironie hinzu»- in Ihrem Falle, als dem eines Poeten, naturlich

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