»Glaubst du das?«
»Es bleibt uns doch nichts anderes ubrig, als es zu glauben.«
Sie dreht sich zu mir um. Sie ist au?erordentlich schon an diesem fruhen Abend mit dem ersten klaren Gold des Herbstes in der Luft.
»Sind wir sonst verloren?«?ustert sie.
Ich starre sie an.»Das wei? ich nicht«, sage ich schlie?lich. Verloren – was kann das alles hei?en! So vieles!
»Sind wir sonst verloren, Rudolf?«
Ich schweige unschlussig.»Ja«, sage ich dann.»Aber da erst beginnt das Leben, Isabelle.«
»Welches?«
»Unser eigenes. Da erst beginnt alles – der Mut, das gro?e Mitleid, die Menschlichkeit, die Liebe und der tragische Regenbogen der Schonheit. Da, wo wir wissen, da? nichts bleibt.«
Ich sehe in ihr vom untergehenden Licht bestrahltes Gesicht. Einen Augenblick steht die Zeit still.
»Du und ich, wir bleiben auch nicht?«fragt sie.
»Nein, wir bleiben auch nicht«, erwidere ich und sehe an ihr vorbei in die Landschaft voll Blau und Rot und Ferne und Gold.
»Auch nicht, wenn wir uns lieben?«
»Auch nicht, wenn wir uns lieben«, sage ich und fuge zogernd und vorsichtig hinzu:»Ich glaube, deshalb liebt man sich. Sonst konnte man sich vielleicht nicht lieben. Lieben ist etwas weitergeben zu wollen, das man nicht halten kann.«
»Was?«
Ich hebe die Schultern.»Dafur gibt es viele Namen. Unser Selbst vielleicht, um es zu retten. Oder unser Herz. Sagen wir: Unser Herz. Oder unsere Sehnsucht. Unser Herz.«
Die Leute von den Feldern sind herangekommen. Die Warter offnen die Tore. Plotzlich drangt sich seitlich von der Mauer, wo er versteckt hinter einem Baum gestanden haben mu?, jemand rasch an uns vorbei, schiebt sich durch die Feldarbeiter und rennt hinaus. Einer der Warter bemerkt ihn und lauft ziemlich gemachlich hinter ihm her; der zweite bleibt ruhig stehen und la?t die anderen Patienten weiter passieren. Dann schlie?t er das Tor ab. Unten sieht man den Ausbrecher laufen. Er ist viel schneller als der Warter, der ihn verfolgt.»Glauben Sie, da? Ihr Kollege ihn in dem Tempo einholt?«frage ich den zweiten Warter.
»Er wird schon mit ihm zuruckkommen.«
»Es sieht nicht so aus.«
Der Warter hebt die Schultern.»Es ist Guido Timpe. Er versucht jeden Monat mindestens einmal auszubrechen. Lauft immer bis zum Restaurant Forsthaus. Trinkt dort ein paar Biere. Wir ?nden ihn jedesmal da. Er lauft nie weiter und nie irgendwoanders hin. Just fur die zwei, drei Biere. Er trinkt immer Dunkles.«
Er zwinkert mir zu.»Darum lauft mein Kollege nicht schneller. Er will ihn nur im Auge behalten, fur den Fall eines Falles. Wir lassen Timpe immer soviel Zeit, da? er seine Biere verquetschen kann. Warum nicht? Nachher kommt er dann zuruck wie ein Lamm.«
Isabelle hat nicht zugehort.»Wohin will er?«fragt sie jetzt.
»Er will Bier trinken«, sage ich.»Weiter nichts. Wer auch so ein Ziel haben konnte!«
Sie hort mich nicht. Sie sieht mich an.»Willst du auch weg?«
Ich schuttle den Kopf.
»Es gibt nichts, um wegzulaufen, Rudolf«, sagt sie.»Und nichts, um anzukommen. Alle Turen sind dieselben. Und dahinter -«
Sie stockt.»Was ist dahinter, Isabelle?«frage ich.
»Nichts. Es sind nur Turen. Es sind immer nur Turen, und nichts ist dahinter.«
Der Warter schlie?t das Tor und zundet sich eine Pfeife an. Der wurzige Geruch des billigen Knasters trifft mich und zaubert ein Bild hervor: ein einfaches Leben, ohne Probleme, mit einem braven Beruf, einer braven Frau, braven Kindern, einem braven Abdienen der Existenz und einem braven Tod – alles als selbstverstandlich hingenommen, Tag, Feierabend und Nacht, ohne Frage, was dahinter sei. Eine scharfe Sehnsucht danach packt mich einen Augenblick, und etwas wie Neid. Dann sehe ich Isabelle. Sie steht am Tor, die Hande um die eisernen Stabe des Gitters gelegt, den Kopf daran gepre?t, und blickt hinaus. Sie steht lange so. Das Licht wird immer voller und roter und goldener, die Walder verlieren die blauen Schatten und werden schwarz, und der Himmel uber uns ist apfelgrun und voll von rosa angestrahlten Segelbooten.
Endlich dreht sie sich um. Ihre Augen sehen in diesem Licht fast violett aus.
»Komm«, sagt sie und nimmt meinen Arm.
Wir gehen zuruck. Sie lehnt sich an mich.»Du mu?t mich nie verlassen.«
»Ich werde dich nie verlassen.«
»Nie«, sagt sie.»Nie ist so kurz.«
Der Weihrauch wirbelt aus den silbernen Kesseln der Me?diener. Bodendiek dreht sich um, die Monstranz in seinen Handen. Die Schwestern knien in ihren schwarzen Trachten wie dunkle Haufchen Ergebung in den Banken; die Kopfe sind gesenkt, die Hande klopfen an die verdeckten Bruste, die nie Bruste werden durften, die Kerzen brennen, und Gott ist in einer Hostie, von goldenen Strahlen umgeben, im Raum. Eine Frau steht auf, geht durch den Mittelgang nach vorn bis zur Kommunionbank und wirft sich dort auf den Boden. Die meisten Kranken starren regungslos auf das goldene Wunder. Isabelle ist nicht da. Sie hat sich geweigert, in die Kirche zu gehen. Fruher ist sie gegangen; jetzt, seit einigen Tagen will sie nicht mehr. Sie hat es mir erklart. Sie sagt, sie wolle den Blutigen nicht mehr sehen.
Zwei Schwestern heben die Kranke auf, die sich hingeworfen hat und mit den Handen den Boden schlagt. Ich spiele das
Die wei?en Spiralen des Weihrauches wirbeln. Bodendiek stellt die Monstranz zuruck in das Tabernakel. Das Licht der Kerzen ?ackert uber den Brokat seines Me?gewandes, auf das ein gro?es Kreuz gestickt ist, und weht aufwarts mit dem Rauch zu dem gro?en Kreuz, an dem blutuberstromt seit fast zweitausend Jahren der Heiland hangt. Ich spiele mechanisch weiter und denke an Isabelle und das, was sie gesagt hat, und dann an die Beschreibung der vorchristlichen Religionen, die ich gestern abend gelesen habe. Die Gotter waren damals heiter in Griechenland, sie wandelten von Wolke zu Wolke, sie waren leicht schurkisch und immer treulos und wandelbar wie die Menschen, zu denen sie gehorten. Sie waren Verkorperungen und Ubertreibungen des Lebens in seiner Fulle und Grausamkeit und Unbedenklichkeit und Schonheit. Isabelle hat recht: Der bleiche Mann uber mir mit dem Bart und den blutigen Gliedern ist es nicht. Zweitausend Jahre, denke ich, zweitausend Jahre, und immer ist das Leben mit Lichtern, Brunstschreien, Tod und Verzuckung um die Steinbauten gewirbelt, in denen die Abbilder des blassen Sterbenden aufgerichtet waren, duster, blutig, von Millionen von Bodendieks umgeben – und bleifarben ist der Schatten der Kirchen uber den Landern gewachsen und hat die Lebensfreude erdrosselt, er hat aus Eros, dem heiteren, eine heimliche, schmutzige, sundhafte Bettgeschichte gemacht und nichts vergeben, trotz aller Predigten uber Liebe und Vergebung – denn wirklich vergeben hei?t, den anderen zu bestatigen, wie er ist, nicht aber Bu?e zu verlangen und Gefolgschaft und Unterwerfung, bevor das
Isabelle hat drau?en gewartet. Wernicke hat ihr erlaubt, da? sie abends im Garten sein darf, wenn jemand bei ihr ist.»Was hast du drinnen getan?«fragt sie feindlich.»Mitgeholfen, alles zuzudecken?«
»Ich habe Musik gemacht.«
»Musik deckt auch zu. Mehr als Worte.«
»Es gibt auch Musik, die aufrei?t«, sage ich.»Musik von Trommeln und Trompeten. Sie hat viel Ungluck in die Welt gebracht.«
Isabelle dreht sich um.»Und dein Herz? Ist es nicht auch eine Trommel?«
Ja, denke ich, eine langsame und leise, aber es wird trotzdem genug Larm machen und genug Ungluck bringen, und vielleicht werde auch ich daruber den su?en, anonymen Ruf des Lebens uberhoren, der denen geblieben ist, die kein pomphaftes Selbst dem Leben gegenubersetzen und keine Erklarungen fordern, als waren sie rechthaberische Glaubiger und nicht ?uchtige Wanderer ohne Spur.
»Fuhle meines«, sagt Isabelle und nimmt meine Hand und legt sie auf ihre dunne Bluse, unter die