Brust.»Fuhlst du es?«
»Ja, Isabelle.«
Ich ziehe meine Hand weg, aber es ist, als hatte ich sie nicht weggezogen. Wir gehen um eine kleine Fontane herum, die im Abend platschert, als sei sie vergessen worden. Isabelle taucht ihre Hande in das Becken und wirft das Wasser hoch.»Wo bleiben die Traume am Tag, Rudolf?«fragt sie.
Ich sehe ihr zu.»Vielleicht schlafen sie«, sage ich vorsichtig, denn ich wei?, wohin solche Fragen bei ihr fuhren konnen. Sie taucht ihre Arme in das Becken und la?t sie liegen. Sie schimmern silbern, mit kleinen Luftperlen besetzt, unter dem Wasser, als waren sie aus einem fremden Metall.»Wie konnen sie schlafen?«sagt sie.»Sie sind doch lebendiger Schlaf. Man sieht sie nur, wenn man schlaft. Aber wo bleiben sie am Tage?«
»Vielleicht hangen sie wie Fledermause in gro?en unterirdischen Hohlen – oder wie junge Eulen in tiefen Baumlochern und warten auf die Nacht.«
»Und wenn keine Nacht kommt?«
»Nacht kommt immer, Isabelle.«
»Bist du sicher?«
Ich sehe sie an.»Du fragst wie ein Kind«, sage ich.
»Wie fragen Kinder?«
»So wie du. Sie fragen immer weiter. Und sie kommen bald zu einem Punkt, wo die Erwachsenen keine Antwort mehr wissen und verlegen oder argerlich werden.«
»Warum werden sie argerlich?«
»Weil sie plotzlich merken, da? etwas mit ihnen entsetzlich falsch ist und weil sie nicht daran erinnert werden wollen.«
»Ist bei dir auch etwas falsch?«
»Beinahe alles, Isabelle.«
»Was ist falsch?«
»Das wei? ich nicht. Darin liegt es gerade. Wenn man es wu?te, ware es schon nicht mehr so falsch. Man fuhlt es nur.«
»Ach, Rudolf«, sagt Isabelle, und ihre Stimme ist plotzlich tief und weich.»Nichts ist falsch.«
»Nein?«
»Naturlich nicht. Falsch und Richtig wei? nur Gott. Wenn er aber Gott ist, gibt es kein Falsch und Richtig. Alles ist Gott. Falsch ware es nur, wenn es au?er ihm ware. Wenn aber etwas au?er oder gegen ihn sein konnte, ware er nur ein beschrankter Gott. Und ein beschrankter Gott ist kein Gott. Also ist alles richtig, oder es gibt keinen Gott. So einfach ist das.«
Ich sehe sie uberrascht an. Was sie sagt, klingt tatsachlich einfach und einleuchtend.»Dann gabe es auch keinen Teufel und keine Holle?«sage ich.»Oder wenn es sie gabe, gabe es keinen Gott.«
Isabelle nickt.»Naturlich nicht, Rudolf. Wir haben so viele Worte. Wer hat die nur alle erfunden?«
»Verwirrte Menschen«, erwidere ich.
Sie schuttelt den Kopf und zeigt auf die Kapelle.»Die dort! Und sie haben ihn darin gefangen«, ?ustert sie.»Er kann nicht heraus. Er mochte es. Aber sie haben ihn ans Kreuz genagelt.«
»Wer?«
»Die Priester. Sie halten ihn fest.«
»Das waren andere Priester«, sage ich.»Vor zweitausend Jahren. Nicht diese.«
Sie lehnt sich an mich.»Es sind immer dieselben, Rudolf«, ?ustert sie dicht vor mir,»wei?t du das nicht? Er mochte hinaus; aber sie halten ihn gefangen. Er blutet und blutet und will vom Kreuz herunter. Sie aber lassen ihn nicht. Sie halten ihn fest in ihren Gefangnissen mit den hohen Turmen und geben ihm Weihrauch und Gebete und lassen ihn nicht hinaus. Wei?t du, warum nicht?«
»Nein.«
Der Mond hangt jetzt bla? uber den Waldern im aschefarbenen Blau.»Weil er sehr reich ist«, ?usterte Isabelle.
»Er ist sehr, sehr reich. Sie aber wollen sein Vermogen behalten. Wenn er herauskame, wurde er es zuruckbekommen, und dann waren sie alle plotzlich arm. Es ist wie mit jemand, den man hier oben einsperrt; andere verwalten dann sein Vermogen und tun damit, was sie wollen, und leben wie reiche Leute. So wie bei mir.«
Ich starre sie an. Ihr Gesicht ist angespannt, aber es verrat nichts.»Was meinst du damit?«frage ich.
Sie lacht.»Alles, Rudolf. Du wei?t es doch auch! Man hat mich hierhergebracht, weil ich im Wege war. Sie wollen mein Vermogen behalten. Wenn ich herauskame, mu?ten sie es mir zuruckgeben. Es macht nichts; ich will es nicht haben.«
Ich starre sie immer noch an.»Wenn du es nicht haben willst, kannst du es ihnen doch erklaren; dann ware kein Grund mehr da, dich hierzuhalten.«
»Hier oder anderswo – das ist doch alles dasselbe. Warum dann nicht hier? Hier sind sie wenigstens nicht. Sie sind wie die Mukken. Wer will mit Mucken leben?«Sie beugt sich vor.»Deshalb verstelle ich mich«, ?ustert sie.
»Du verstellst dich?«
»Naturlich! Wei?t du das nicht? Man mu? sich verstellen, sonst schlagen sie einen ans Kreuz. Aber sie sind dumm. Man kann sie tauschen.«
»Tauschst du auch Wernicke?«
»Wer ist das?«
»Der Arzt.«
»Ach der! Der will mich nur heiraten. Er ist wie die anderen. Es gibt so viele Gefangene, Rudolf, und die drau?en haben Angst davor. Aber druben der am Kreuz – vor dem haben sie die meiste Angst.«-»Wer?«
»Alle, die ihn benutzen und von ihm leben. Es sind unzahlige. Sie sagen, sie waren gut. Aber sie richten viel Boses an. Wer einfach bose ist, kann wenig tun. Man sieht es und nimmt sich vor ihm in acht. Aber die Guten – was die alles tun! Ach, sie sind blutig!«
»Das sind sie«, sage ich, selbst merkwurdig erregt durch die ?usternde Stimme im Dunkel.»Sie haben entsetzlich viel angerichtet. Wer selbstgerecht ist, ist unbarmherzig.«
»Geh nicht mehr hin, Rudolf«, ?ustert Isabelle weiter.»Sie sollen ihn freilassen! Den am Kreuz. Er mochte auch einmal lachen und schlafen und tanzen.«
»Glaubst du?«
»Jeder mochte das, Rudolf. Sie sollen ihn freilassen. Aber er ist zu gefahrlich fur sie. Er ist nicht wie sie. Er ist der Gefahrlichste von allen – er ist der Gutigste.«
»Halten sie ihn deshalb fest?«
Isabelle nickt. Ihr Atem streift mich.»Sie mu?ten ihn sonst wieder ans Kreuz schlagen.«
»Ja«, sage ich,»das glaube ich auch. Sie wurden ihn wieder toten; dieselben, die ihn heute anbeten. Sie wurden ihn toten, so wie man Unzahlige in seinem Namen getotet hat. Im Namen der Gerechtigkeit und der Nachstenliebe.«
Isabelle frostelt.»Ich gehe nicht mehr hin«, sagt sie und deutet auf die Kapelle.»Sie sagen immer, man musse leiden. Die schwarzen Schwestern. Warum, Rudolf?«
Ich antworte nicht.
»Wer macht, da? wir leiden mussen?«fragt sie und drangt sich gegen mich.
»Gott«, sage ich bitter.»Wenn es ihn gibt. Gott, der uns alle geschaffen hat.«
»Und wer bestraft Gott dafur?«
»Was?«
»Wer bestraft Gott dafur, da? er uns leiden macht? Hier bei den Menschen kommt man ins Gefangnis oder wird aufgehangt, wenn man das tut. Wer hangt Gott auf?«
»Daruber habe ich noch nicht nachgedacht«, sage ich.»Ich werde das einmal den Vikar Bodendiek fragen.«
Wir gehen durch die Allee zuruck. Ein paar Gluhwurmchen ?iegen durch das Dunkel. Isabelle bleibt plotzlich stehen.
»Hast du das gehort?«fragt sie.
»Was?«