nicht schwer; aber die Haftlinge wollten etwas fur sie tun, und es gab im Augenblick nichts anderes. Sie trugen die Bahren, als seien sie aus Glas, und wie auf Geisterfu?en lief ihnen die Nachricht voran: zwei, die einen Befehl verweigert haben, kommen lebendig zuruck. Zwei aus dem Kleinen Lager.

Zwei aus den Baracken der sterbenden Muselmanner. Es war unerhort. Keiner wu?te, da? sie es nur einer Laune Neubauers zu verdanken hatten – und das war auch nicht wichtig. Wichtig war nur, da? sie sich geweigert hatten und lebend zuruckkamen.

Lewinsky stand vor Baracke 13, lange bevor die Bahren sich naherten. »Ist es wahr?« fragte er schon von weitem.

»Ja. Das sind sie doch, oder nicht?«

Lewinsky kam heran und buckte sich uber die Bahren.

»Ich glaube, ja – ja, das ist der, mit dem ich gesprochen habe. Sind die vier anderen tot?«

»Im Bunker waren nur diese zwei. Der Schreiber sagt, die anderen sind gegangen.

Diese nicht. Sie haben sich geweigert.«

Lewinsky richtete sich langsam auf. Er sah Goldstein neben sich. »Geweigert. Hattest du das gedacht?«

»Nein. Nicht von Leuten aus dem Kleinen Lager.«

»Das meine ich nicht. Ich meine, da? man sie wieder losgelassen hat.«

Goldstein und Lewinsky blickten einander an. Munzer kam zu ihnen hinuber. »Es scheint, da? die tausendjahrigen Bruder weich werden«, sagte er.

»Was?« Lewinsky drehte sich um. Munzer hatte genau das ausgesprochen, was er und Goldstein gedacht hatten. »Wie kommst du darauf?«

»Verfugung vom Alten selbst«, sagte Munzer. »Weber wollte sie hangen lassen.«

»Woher wei?t du das?«

»Der rote Schreiber hat es erzahlt. Er hat es gehort.« Lewinsky stand einen Augenblick sehr still – dann wandte er sich an einen kleinen grauen Mann. »Geh zu Werner«, flusterte er. »Sag es ihm.

Sag ihm, da? der, der wollte, wir sollten es nicht vergessen, auch dabei ist.«

Der Mann nickte und druckte sich die Baracke entlang. Die Trager mit den Bahren waren inzwischen weitergegangen. Immer mehr Haftlinge kamen aus den Turen.

Einzelne traten scheu und rasch heran und blickten auf die beiden Korper. Ein Arm von 509 fiel herunter und schleifte uber den Boden; zwei Mann »prangen hinzu und legten ihn behutsam zuruck.

Lewinsky und Goldstein blickten hinter den Bahren her. »Allerhand Courage fur zwei lebende Leichname, sich einfach so zu weigern, was?« sagte Goldstein. »Hatte ich nie erwartet von einem aus der Krepierabteilung.«

»Ich auch nicht.« Lewinsky starrte immer noch die Stra?e hinunter. »Sie mussen am Leben bleiben«, sagte er dann. »Sie durfen nicht krepieren. Du wei?t, warum?«

»Ich kann es mir denken. Du meinst, da? es dann erst richtig wird.«

»Ja. Wenn sie krepieren, ist es morgen vergessen. Wenn nicht -« Wenn nicht, dann werden sie fur das Lager ein Beispiel dafur sein, da? sich etwas geandert hat, dachte Lewinsky. Er sprach es nicht aus. »Wir konnen das brauchen«, sagte er statt dessen. »Gerade jetzt.«

Goldstein nickte.

Die Trager gingen weiter dem Kleinen Lager zu. Am Himmel stand ein wildes Abendrot. Die rechte Reihe der Baracken des Arbeitslagers wurde davon beschienen; die linke lag in blauen Schatten.

Die Gesichter vor den Fenstern und Turen der Schattenseite waren bleich und verwischt wie immer; aber die auf der anderen Seite wurden von dem starken Licht uberweht wie von einem jahen Sturz geborgten Lebens.

Die Trager gingen mitten durch das Licht. Es fiel auf die von Blut und Schmutz verschmierten Korper auf den Bahren – und plotzlich war es, als wurden dort nicht einfach zwei zerschlagene Gefangene zuruckgeschleppt, sondern als ware es fast wie ein jammervoller Triumphzug. Sie hatten widerstanden. Sie atmeten noch. Sie waren nicht besiegt.

Berger arbeitete an ihnen. Lebenthal hatte Steckrubensuppe besorgt. Sie hatten Wasser getrunken und waren, halb bewu?tlos, wieder eingeschlafen. Dann fuhlte 509 irgendwann aus langsam sich losender Erstarrung etwas Warmes auf seiner Hand. Eine fluchtige, scheue Erinnerung. Weit weg.

Warme. Er offnete die Augen.

Der Schaferhund leckte seine Hand. »Wasser«, flusterte 509. Berger hatte ihnen die aufgescheuerten Gelenke mit Jod bestrichen. Er sah auf, holte die Dose mit Suppe und hielt sie 509 an den Mund. »Hier, trink.« 509 trank. »Was ist mit Bucher?« fragte er muhsam.

»Er liegt neben dir.« 509 wollte weiter fragen. »Er lebt«, sagte Berger. »Ruh dich aus.«

Beim Appell mu?ten sie hinausgetragen werden. Man legte sie mit den Kranken, die nicht mehr gehen konnten, auf den Boden vor der Baracke. Es war bereits dunkel, und die Nacht war klar.

Der Blockfuhrer Bolte nahm den Appell ab. Er betrachtete die Gesichter von 509 und Bucher, wie man zertretene Insekten ansieht. »Die beiden sind tot«, sagte er. »Warum liegen sie hier bei den Kranken?«

»Sie sind nicht tot, Herr Scharfuhrer.«

»Noch nicht«, erklarte der Blockalteste Handke.

»Dann morgen. Die gehen durch den Schornstein. Darauf konnt ihr eure Kopfe wetten.«

Bolte ging rasch. Er hatte Geld in der Tasche und wollte eine Partie Karten riskieren.

»Abtreten!« schrieen die Blockaltesten. »Essenholer 'raus!«

Die Veteranen trugen 509 und Bucher vorsichtig zuruck. Handke sah es und grinste.

»Die beiden sind wohl aus Porzellan, wie?«

Niemand antwortete ihm. Er stand noch eine Weile herum; dann ging er auch.

»Dieses Schwein!« knurrte Westhof und spuckte aus. »Dieses dreckige Schwein!«

Berger betrachtete ihn aufmerksam. Westhof hatte schon seit einiger Zeit Lagerkoller.

Er war unruhig, brutete herum, redete mit sich selbst und fing Streit an. »Sei ruhig«, sagte Berger scharf. »Mach keinen Radau. Wir wissen alle, was mit Handke los ist.«

Westhof stierte ihn an. »Ein Gefangener wie wir. Und so ein Schwein. Das ist es -«

»Das wei? jeder. Es gibt Dutzende, die noch schlimmer sind. Macht verroht, das solltest du langst gelernt haben. So, und jetzt hilf anpacken.«

Sie hatten fur 509 und Bucher je ein Bett frei gemacht. Sechs Leute schliefen dafur auf dem Boden. Einer davon war Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei. Er half die beiden mit hineinbringen. »Der Scharfuhrer versteht nichts« sagte er zu Berger.

»So?«

»Sie werden nicht durch den Schornstein gehen. Bestimmt nicht morgen. Man hatte ruhig wetten konnen.«

Berger sah ihn an. Das kleine Gesicht war vollig sachlich. Durch den Schornstein gehen war der Lagerausdruck fur das Krematorium. »Hor zu, Karel«, sagte Berger.

»Mit SS-Leuten kann man nur wetten, wenn man wei?, da? man verliert. Und auch dann besser nicht.«

»Sie werden morgen nicht durch den Schornstein gehen. Die beiden nicht. Die dort druben ja.«

Karel zeigte auf drei Muselmanner, die auf dem Fu?boden lagen.

Berger sah ihn wieder an. »Du hast recht«, sagte er.

Karel nickte, ohne Stolz. Er war Spezialist in diesen Dingen.

Am nachsten Abend konnten sie sprechen. Ihre Gesichter waren so mager, da? nicht viel daran zu schwellen war. Sie waren blau und schwarz verfarbt, aber die Augen waren frei, und die Lippen waren nur zerrissen.

»Bewegt sie nicht, wenn ihr sprecht«, sagte Berger.

Es war nicht schwierig. Sie hatten das in den Jahren im Lager gelernt. Jeder, der langere Zeit da war, konnte sprechen, ohne einen Muskel zu verziehen.

Nach dem Essenholen klopfte es plotzlich an die Tur. Einen Augenblick pre?ten sich alle Herzen zusammen, jeder fragte sich, ob sie doch noch kamen, die beiden zu holen.

Es klopfte wieder, vorsichtig, kaum horbar. »509! Bucher!« wisperte Ahasver. »Tut, als ob ihr tot seid.«

»Mach auf, Leo«, flusterte 509. »Das ist nicht die SS. Die kommt – anders -«

Das Klopfen horte auf. Einige Sekunden spater tauchte ein Schatten vor dem bleichen Licht des Fensters auf

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