VIII
Die Latrine war uberfullt mit Skeletten. Eine lange Reihe stand an und schrie den anderen zu, rasch zu machen. Ein Teil der Wartenden lag auf der Erde und wand sich in Krampfen. Andere hockten angstvoll nahe den Wanden und entleerten sich, wenn sie sich nicht mehr halten konnten. Ein Mann stand aufrecht da, wie ein Storch, ein Knochenbein hochgezogen, einen Arm gegen die Barackenwand gestutzt, und starrte mit offenem Mund ins Weite. Er stand eine Zeitlang so; dann fiel er tot um. Das kam manchmal vor: Skelette, die kaum noch kriechen konnten, richteten sich plotzlich muhevoll auf; standen eine Weile mit leeren Augen da und fielen tot um, als sei ihr letzter Wunsch vor dem Ende gewesen, noch einmal aufrecht wie ein Mensch dazustehen. Lebenthal trat vorsichtig uber das tote Skelett hinweg und ging dem Eingang zu. Sofort begann ein aufgeregtes Schnattern. Die Wartenden glaubten, er wolle sich vordrangen. Man zerrte ihn zuruck und schlug mit mageren Fausten auf ihn ein.
Keiner wagte dabei, die Reihe zu verlassen; die anderen hatten ihn nicht wieder an seinen Platz gelassen. Trotzdem gelang es den Skeletten, Lebenthal umzurei?en und mit Fu?en zu treten. Es schadete ihm wenig sie hatten keine Kraft. Er richtete sich auf. Er hatte nicht betrugen wollen. Er war auf der Suche nach Bethke vom Transportkommando. Man hatte ihm gesagt, Bethke sei hierher gegangen. Eine Zeitlang wartete er noch am Ausgang, weit genug von de schimpfenden Reihe entfernt. Bethke war ein Kunde fur den Zahn Lohmanns. Er kam nicht. Lebenthal konnte auch nicht verstehen, was er auf dieser lausten Latrine zu tun haben sollte. Zwar wurde auch hier etwas gehandelt; aber ein Bonze wie Bethke hatte fur so etwas ganz andere Gelegenheiten. Lebenthal gab das Warten schlie?lich auf und ging zur Waschbaracke hinuber. Sie bestand aus einem kleineren Trakt, der sich an die Latrine anschlo? und lange Zementtroge enthielt, uber denen Wasserrohre mit kleinen Offnungen angebracht waren. Trauben von Haftlingen drangten sich darum; die meisten, um zu trinken oder das Wasser in Blechbuchsen aufzufangen und es mitzunehmen. Es war immer zu wenig Wasser da, um sich wirklich waschen zu konnen – und wer sich auszog, um es zu versuchen, mu?te stets Angst haben, da? seine Sachen inzwischen gestohlen wurden. Der Waschraum war bereits ein Platz fur den etwas besseren schwarzen Markt. Auf der Latrine wurden hochstens Brotkrusten, Abfall und ein paar Zigarettenstummel umgesetzt. Der Waschraum dagegen war schon ein Ort fur die kleinen Kapitalisten. Hierher kamen bereits Leute vom Arbeitslager. Lebenthal drangte sich langsam hindurch. »Was hast du?« fragte ihn jemand. Leo sah den Mann kurz an. Es war ein abgerissener Haftling, der nur ein Auge hatte. »Nichts.« »Ich habe Karotten.« »Kein Interesse.« Lebenthal wirkte im Waschraum plotzlich entschlossener als je in Baracke 22. »Kaffer.« »Selber einer.« Lebenthal kannte einige der Handler. Er hatte um die Karotten gehandelt, wenn er heute nicht auf Bethke aus gewesen ware. Es wurden ihm noch Sauerkraut, ein Knochen und einige Kartoffeln zu Wucherpreisen angeboten; er lehnte sie ab und ging weiter. In der au?ersten Ecke der Baracke bemerkte er einen jungen Burschen mit weibischen Zugen, der nicht hierher zu gehoren schien. Er a? gierig etwas aus einer Konservenbuchse, und Lebenthal sah, da? er nicht nur dunne Suppe a?; er kaute auch. Neben ihm stand ein gut genahrter Haftling von etwa vierzig Jahren, der ebenfalls nicht in den Raum pa?te. Er gehorte ohne Zweifel zur Aristokratie des Lagers. Sein kahler, fetter Kopf glanzte, und seine Hand glitt langsam uber den Rucken des Burschen. Das Haar des Jungen war nicht geschoren; er trug es gut gekammt, mit einem Scheitel. Er war auch nicht schmutzig. Lebenthal drehte sich um. Er wollte enttauscht zu dem Karottenverkaufer zuruckgehen, als er Bethke plotzlich kommen und sich rucksichtslos zu der Ecke durchdrangen sah, wo der Junge stand. Lebenthal trat ihm in den Weg. Bethke stie? ihn beiseite und stellte sich vor den Jungen. »So, hier hast du dich versteckt, Ludwig, du Hure! Da habe ich dich doch mal erwischt!« Der Junge starrte ihn an und schluckte eilig. Er erwiderte nichts. »Mit einem verdammten Kahlkopf von einem Kuchenbullen«, erganzte Bethke giftig. Der Kuchenbulle beachtete Bethke nicht. »I?, mein Junge«, sagte er trage zu Ludwig. »Wenn du dann noch hungrig bist, kannst du mehr haben.« Bethke wurde rot. Er schlug mit der Faust gegen die Konservendose. Der Inhalt schwappte uber, Ludwig ins Gesicht. Ein Kartoffelstuck fiel auf den Boden. Zwei Skelette sturzten sich darauf, rissen es weg und schlugen sich darum. Bethke trat sie beiseite. »Kriegst du von mir nicht genug?« fragte er. Ludwig hielt die Dose mit beiden Handen fest an die Brust gedruckt. Er verzog angstlich sein Gesicht und blickte von Bethke zu dem Kahlkopf. »Scheinbar nicht«, erklarte der Kuchenbulle in die Richtung Bethkes. »Mach dir nichts draus«, sagte er dann zu dem Jungen. »I? weiter, und wenn du nicht genug hast, gibt's mehr. Von mir kriegst du auch keine Prugel.« Bethke sah aus, als wolle er sich auf den Kahlkopf sturzen; aber er traute sich nicht. Er wu?te nicht, wieviel Protektion der andere hatte. So etwas war au?erordentlich wichtig im Lager. Wenn der Kahlkopf die volle Protektion des Kuchenkapos hatte, konnte eine Schlagerei schlecht fur Bethke ausgehen. Die Kuche hatte glanzende Verbindungen, und es war bekannt, da? sie Schiebungen mit dem Lageraltesten und mit verschiedenen SS-Leuten machte. Bethkes eigener Kapo dagegen mi?traute ihm. Bethke wu?te, da? er nicht viel fur ihn tun wurde; er hatte zu wenig Schmiere von ihm bekommen. Das Lager war voll von solchen Intrigen. Bethke konnte glatt seinen Posten verlieren und wieder ein einfacher Strafling werden, wenn er nicht vorsichtig war. Dann war es vorbei mit den ertraglichen Geschaften au?erhalb des Lagers, wahrend der Fahrten zum Bahnhof und zum Depot. »Was soll das alles hei?en?« fragte er den Kahlkopf ruhiger. »Was geht es dich an?« Bethke schluckte. »Es geht mich was an.« Er wandte sich an den Jungen. »Habe ich dir nicht den Anzug besorgt?« Ludwig hatte eilig weitergegessen, wahrend Bethke mit dem Kahlkopf sprach. Jetzt lie? er die Dose fallen, druckte sich mit einer raschen, unvermuteten Bewegung zwischen den beiden hindurch und drangte dem Ausgang zu. Ein paar Skelette balgten sich bereits um die Dose, um sie auszukratzen. »Komm wieder«, rief der Kuchenbulle dem Jungen nach. »Bei mir gibt es immer genug.« Er lachte. Bethke hatte versucht, den Burschen zu halten, war aber uber die Skelette am Boden gestolpert. Er kam wutend hoch und trat auf die huschenden Finger. Eines der Skelette quietschte wie eine Maus. Das andere entkam mit der Buchse. Der Kuchenbulle begann den Walzer »Rosen aus dem Suden« zu pfeifen und ging herausfordernd langsam an Bethke vorbei. Er hatte einen Bauch und war gut genahrt. Sein dicker Hintern wippte. Fast alle Straflinge in der Kuche waren gut im Futter. Bethke spuckte hinter ihm her. Er spuckte aber so vorsichtig, da? er nur Lebenthal traf. »Da bist du ja«, sagte er grob. »Was willst du? Komm mit. Woher wei?t du, da? ich hier bin?« Lebenthal antwortete auf keine der Fragen. Er war im Geschaft; da war keine Zeit zu uberflussigen Erklarungen. Er hatte zwei ernsthafte Reflektanten fur den Zahn Lohmanns: Bethke und einen Vormann von einem der Au?enkommandos. Beide brauchten Geld. Der Vormann war einer gewissen Mathilde horig, die in derselben Fabrik arbeitete wie er und die er durch Bestechungen ab und zu allein treffen konnte. Sie wog fast 200 Pfund und erschien ihm uberirdisch schon; Gewicht war im Lager dauernden Hungers ein Ma?stab fur Schonheit. Er hatte Lebenthal einige Pfund Kartoffeln und ein Pfund Fett angeboten. Lebenthal hatte abgelehnt und gratulierte sich jetzt dazu. Er hatte die Szene von vorher blitzschnell kalkuliert und versprach sich nun mehr von dem schwulen Bethke. Abnormale Liebe hielt er fur opferbereiter als normale. Nach dem, was er beobachtet hatte, hatte er auch in Gedanken sofort seinen Preis erhoht. »Hast du den Zahn bei dir?« fragte Bethke. »Nein.« Sie standen drau?en. »Ich kaufe nichts, was ich nicht sehe.« »Eine Krone ist eine Krone. Backenzahn. Schweres, solides Friedensgold.« »Mist! Erst sehen! Sonst ist nichts zu wollen.«
Lebenthal wu?te, da? der viel kraftigere Bethke ihm den Zahn einfach wegnehmen wurde, wenn er ihn sahe. Er hatte nichts dagegen machen konnen. Wenn er sich beschwert hatte, wurde man ihn aufgehangt haben. »Schon, dann nicht«, sagte er ruhig. »Andere Leute sind nicht so schwierig.«
»Andere Leute! Quatschkopf! Finde erst mal welche.«
»Ich wei? welche. Gerade jetzt war einer da.«
»So? Den mochte ich sehen!« Bethke blickte verachtlich um sich. Er wu?te, da? der Zahn nur fur jemand von Nutzen sein konnte, der Beziehungen nach drau?en hatte.
»Du hast meinen Reflektanten vor einer Minute selbst gesehen«, sagte Lebenthal. Es war eine Luge.
Bethke stutzte. »Wer? Der Kuchenbulle?«
Lebenthal hob die Schultern. »Es mu? doch einen Grund haben, da? ich gerade hier bin. Vielleicht will jemand ein Geschenk fur einen anderen kaufen und braucht dazu Geld. Gold ist drau?en sehr gesucht. Essen hat er ja genug zum Tauschen.«
»Du Gauner!« sagte Bethke wutend. »Du Erzgauner!«
Lebenthal hob einmal die schweren Lider und klappte sie wieder nieder. »Etwas, was es im Lager nicht gibt«, fuhr er ungeruhrt fort. »Etwas Seidenes, zum Beispiel.«
Bethke erstickte fast. »Wieviel?« krachzte er.
»Funfundsiebzig«, erklarte Lebenthal fest. »Ein Vorzugspreis.« Er hatte drei?ig verlangen wollen.
Bethke sah ihn an. »Wei?t du, da? ein Wort von mir dich an den Galgen bringen kann?«
»Sicher. Wenn du es beweisen kannst. Und was hast du davon? Nichts. Du willst den Zahn haben.