dem Drahtzaun hinuber, der die Frauenbaracken abtrennte. Er stand dort, und man horte ihn schnaufen. Er war fruher Buchdrucker gewesen und wegen Sittlichkeitsverbrechens ins Lager gekommen; seit einem Jahr war er Blockaltester. Nach einigen Minuten kam er zuruck und stapfte, ohne sich um jemand zu kummern, die Lagerstra?e zuruck.
Berger und Karel drehten Westhof um. Er war bewu?tlos. »Hat er ihm die Rippen gebrochen?«
fragte Bucher.
»Er hat ihm gegen den Kopf getreten«, erwiderte Karel. »Ich habe es gesehen.«
»Sollen wir ihn hineintragen?«
»Nein«, sagte Berger. »La?t ihn hier. Er liegt einstweilen besser hier. Drinnen ist zu wenig Platz. Ist noch Wasser da?«
Sie hatten eine Konservendose mit Wasser. Berger offnete die Jacke Westhofs.
»Sollten wir ihn nicht doch lieber 'reinbringen?« fragte Bucher. »Das Aas kann noch einmal wiederkommen.«
»Er kommt nicht wieder. Ich kenne ihn. Er hat sich jetzt ausgetobt.«
Lebenthal glitt um die Ecke der Baracke. »Ist er tot?«
»Nein. Noch nicht.«
»Er hat ihn getreten«, sagte Berger. »Sonst schlagt er nur. Er mu? mehr Schnaps als gewohnlich gekriegt haben.«
Lebenthal pre?te den Arm gegen seine Jacke. »Ich habe Essen.«
»Leise! Sonst hort es die ganze Baracke. Was hast du?«
»Fleisch«, flusterte Lebenthal. »Fur den Zahn.«
»Fleisch?«
»Ja. Viel. Und Brot.«
Er sagte nichts mehr von dem Hasen. Das pa?te nicht mehr. Er sah auf die dunkle Gestalt am Boden, neben der Berger kniete. »Vielleicht kann er noch etwas davon essen«, sagte er. »Es ist gekocht.«
Der Nebel war dichter geworden. Bucher stand an dem doppelten Drahtzaun, der die Frauenbaracke abtrennte. »Ruth!« flusterte er. »Ruth!«
Ein Schatten kam heran. Er starrte hinuber, konnte die Gestalt aber nicht erkennen.
»Ruth«, flusterte er wieder. »Bist du da?«
»Kannst du mich sehen?« »Ja.«
»Ich habe etwas zu essen. Siehst du meine Hand?« »Ja, ja.«
»Es ist Fleisch. Ich werfe es hinuber. Jetzt.«
Er nahm das kleine Stuck Fleisch und warf es uber die beiden Stacheldrahtzaune. Es war die Halfte der Portion, die er bekommen hatte. Er horte es auf der anderen Seite niederfallen. Der Schatten buckte sich und suchte auf dem Boden. »Links! Links von dir!« flusterte Bucher. »Es mu? ungefahr einen Meter links von dir liegen. Hast du es gefunden?« »Nein.«
»Links. Einen Meter weiter. Gekochtes Fleisch! Such es, Ruth.« Der Schatten hielt inne. »Hast du es?« »Ja.«
»Gut. I? es gleich. Ist es gut?« »Ja. Hast du noch mehr?«
Bucher stutzte. »Nein. Ich habe meinen Teil schon gehabt.« »Du hast noch etwas! Wirf es hinuber!«
Bucher trat so dicht an den Draht, da? die Stacheln ihm in die Haut drangen. Die Innenzaune des Lagers waren nicht elektrisch geladen. »Du bist nicht Ruth! Bist du Ruth?«
»Ja, Ruth. Mehr! Wirf!«
Er wu?te plotzlich, da? es nicht Ruth war. Ruth hatte das alles nicht gesagt. Der Nebel, die Aufregung, der Schatten und das Flustern hatten ihn getauscht. »Du bist nicht Ruth! Sag, wie ich hei?e!« »Psst! Leise! Wirf!« »Wie hei?e ich? Wie hei?e ich?«
Der Schatten antwortete nicht. »Das Fleisch ist fur Ruth! Fur Ruth!« flusterte Bucher.
»Gib es ihr! Verstehst du? Gib es ihr!« »Ja, ja. Hast du noch mehr?« »Nein! Gib es ihr! Es gehort ihr! Nicht dir! Ihr!« »Ja, naturlich -« »Gib es ihr. Oder ich – ich -«
Er hielt inne. Was konnte er schon tun? Er wu?te, da? der Schatten das Stuck Fleisch langst heruntergeschlungen hatte. Verzweifelt lie? er sich zu Boden fallen, als habe eine unsichtbare Faust ihn niedergeschlagen. »Oh, du – verdammtes Biest – verrecken sollst du – verrecken daran -«
Es war zu viel. Nach so vielen Monaten ein Stuck Fleisch und es so idiotisch zu verlieren! Er schluchzte ohne Tranen.
Der Schatten gegenuber wisperte:»Gib mehr – ich zeige dir auch – hier -«
Es schien, als hebe sie den Rock. Die Bewegungen waren verzerrt durch das wei?liche Wogen, als tanze dort eine groteske, unmenschliche Figur in Bocksprungen.
»Du Aas!« flusterte Bucher. »Du Aas, verrecke dran! Ich Idiot – ich Idiot -«
Er hatte genau fragen sollen, ehe er das Fleisch warf – oder er hatte warten sollen, bis es klarer geworden ware; aber dann hatte er das Fleisch vielleicht schon selbst gegessen gehabt. Er hatte es Ruth rasch geben wollen. Der Nebel war ihm als Glucksfall erschienen. Und nun – er stohnte und hammerte mit den Fausten auf den Boden. »Ich Idiot! Was habe ich getan!« Ein Stuck Fleisch war ein Stuck Leben. Er hatte sich erbrechen konnen vor Elend.
Die Kuhle der Nacht weckte ihn. Er stolperte zuruck. Vor der Baracke sturzte er uber jemand.
Dann sah er 509.
»Wer ist das hier? Westhof?« fragte er.
»Ja.«
»Ist er tot?«
»Ja.«
Bucher beugte sich dicht uber das Gesicht am Boden. Es war feucht vom Nebel und hatte dunkle Flecken von den Tritten Handkes. Er sah das Gesicht und dachte an das verlorene Stuck Fleisch, und beides schien ihm plotzlich zusammenzugehoren.
»Verflucht«, sagte er. »Warum haben wir ihm nicht geholfen?« 509 sah auf. »Was redest du da fur Unsinn? Konnten wir das denn?«
»Ja. Vielleicht. Warum nicht? Wir haben anderes gekonnt.« 509 schwieg. Bucher lie? sich neben ihn fallen. »Wir sind bei Weber durchgekommen«, sagte er.
509 blickte in den Nebel. Da war es schon wieder, dachte er. Das falsche Heldentum.
Das alte Elend. Dieser Junge hatte zum erstenmal seit Jahren ein verzweifeltes bi?chen Aufruhr gespurt, das gut ausgegangen war – und ein paar Tage spater bereits begann die Phantasie mit der romantischen Verfalschung, die das Risiko verga?.
»Du meinst, wenn wir gegen den Lagerfuhrer selbst durchgekommen sind, hatte das auch bei einem betrunkenen Blockaltesten klappen mussen, wie?«
»Ja. Warum nicht?«
»Und was hatten wir tun sollen?«
»Ich wei? nicht. Irgend etwas. Aber nicht Westhof einfach tottreten lassen.«
»Wir hatten zu sechs oder acht uber Handke herfallen konnen. Meinst du das?«
»Nein. Das hatte nichts genutzt. Er ist starker als wir.«
»Was hatten wir dann tun sollen? Mit ihm reden? Ihm sagen, er solle vernunftig sein?«
Bucher antwortete nicht. Er wu?te, da? auch das nichts genutzt hatte. 509 beobachtete ihn eine Weile. »Hor zu«, sagte er dann. »Bei Weber hatten wir nichts zu verlieren. Wir haben uns geweigert und damit unbegreifliches Gluck gehabt. Hatten wir aber heute abend irgend etwas gegen Handke unternommen, dann hatte er noch ein, zwei mehr erschlagen und die Baracke wegen Meuterei gemeldet. Berger und ein paar andere waren gehenkt worden. Westhof auf jeden Fall.
Du wahrscheinlich auch.
Essenentzug fur ein paar Tage ware das nachste gewesen. Das hatte ein Dutzend Tote mehr gemacht. Stimmt das?«
Bucher zogerte. »Vielleicht«, sagte er dann.