Mit dem hat er dasselbe gemacht. Ich mu? durchhalten! Er spurte das Rei?en, das Feuer, die Messer in den Schultern, er horte nicht, da? er schrie – dann kam die Finsternis wieder.
Als er zum zweiten Male aufwachte, lag er neben 509 in einem anderen Kaum auf dem Zementboden. Durch ein Rauschen kam die Stimme Webers. »Ich konnte das ja fur euch unterschreiben lassen, und es ware erledigt; aber ich werde das nicht tun. Ich werde euren Trotz erst einmal in aller Gemutlichkeit brechen. Ihr werdet das selbst unterschreiben. Ihr werdet mich auf den Knien bitten, unterschreiben zu durfen, wenn ihr es dann noch konnt.« 509 sah Webers Kopf dunkel vor dem Fenster. Der Kopf schien sehr gro? vor dem Himmel dahinter. Der Kopf war Tod und der Himmel dahinter plotzlich Leben, Leben, ganz gleich wo und wie, verlaust, zerschlagen, blutend, Leben trotz allem, einen jahen Augenblick lang – dann brach die Stumpfheit holzern hinein, die Nerven erloschen barmherzig wieder, und nichts war mehr da als das matte Drohnen. Wozu wehre ich mich, dachte etwas trube in ihm, als er wieder aufwachte – es ist doch egal, hier totgeschlagen zu werden oder zu unterschreiben und durch eine Spritze erledigt zu werden, schneller als hier, schmerzloser -, dann horte er eine Stimme neben sich, seine eigene Stimme, mit der ein anderer zu sprechen schien -»nein – ich unterschreibe nicht – und wenn Sie mich totschlagen -«.
Weber lachte. »Das mochtest du wohl, du Gerippe! Damit es vorbei ist, wie?
Totschlagen dauert Wochen bei uns. Wir fangen gerade erst an.«
Er nahm den Koppelriemen wieder auf. Der Schlag traf 509 uber die Augen. Er verletzte sie nicht; sie waren zu tief eingesunken. Der zweite traf die Lippen. Sie rissen ein wie trockenes Pergament.
Nach ein paar weiteren Hieben uber den Schadel mit dem Koppelschlo? war er wieder bewu?tlos.
Weber schob ihn beiseite und schlug auf Bucher los. Bucher versuchte, sich wegzuducken; aber er war viel zu langsam. Der Schlag traf ihn uber die Nase. Er krummte sich, und Weber trat ihm zwischen die Beine. Bucher schrie. Er spurte noch das Koppelschlo? einige Male in seinen Nacken hacken, dann fiel er wieder in den Sturm der Dunkelheit.
Er horte verworrene Stimmen; aber er ruhrte sich nicht. Solange er bewu?tlos schien, wurde er nicht weitergeschlagen werden. Die Stimmen gingen uber ihn hinweg, endlos. Er versuchte, nicht hinzuhoren, aber sie kamen naher und stachen in seine Ohren und sein Gehirn.
»Bedauere, Herr Doktor, aber wenn die Leute nicht freiwillig wollen – Sie sehen, Weber hat ihnen grundlich zugeredet.«
Neubauer war glanzender Laune. Seine Erwartungen waren weit ubertroffen worden.
»Haben Sie das hier verlangt?« fragte er Wiese.
»Selbstverstandlich nicht.«
Bucher versuchte vorsichtig zu blinzeln. Aber er konnte seine Augenlider nicht kontrollieren. Sie klappten auf wie die einer mechanischen Puppe. Er sah Wiese und Neubauer. Dann sah er 509.
509 hatte die Augen ebenfalls offen. Weber war nicht mehr da.
»Selbstverstandlich nicht«, erklarte Wiese noch einmal. »Als Kulturmensch -«
»Als Kulturmensch«, unterbrach Neubauer ihn,»brauchen Sie diese Leute fur Ihre Experimente, nicht wahr?«
»Das ist eine Angelegenheit der Wissenschaft. Unsere Versuche retten zehntausend anderen Menschen das Leben. Sie verstehen das vielleicht nicht -«
»Doch. Aber Sie verstehen dieses hier vielleicht nicht. Es ist eine einfache Sache der Disziplin.
Uberaus wichtig, ebenfalls.«
»Jeder auf seine Art«, erklarte Wiese hochmutig.
»Gewi?, gewi?. Bedaure, da? ich Ihnen nicht besser behilflich sein konnte. Aber wir zwingen keinen unserer Schutzlinge zu etwas. Und die Leute hier scheinen eine Abneigung dagegen zu haben, das Lager zu verlassen.« Er wandte sich zu 509 und Bucher. »Ihr wollt also lieber im Lager bleiben?« 509 bewegte die Lippen. »Was?« fragte Neubauer scharf.
»Ja«, sagte 509.
»Und du dort?«
»Ich auch«, flusterte Bucher.
»Sehen Sie, Herr Stabsarzt?« Neubauer lachelte. »Die Leute lieben es hier. Da ist nichts zu machen.«
Wiese lachelte nicht. »Tolpel«, sagte er verachtlich in die Richtung von 509 und Bucher. »Dieses Mal wollten wir wirklich nichts anderes machen als Futterungsexperimente.«
Neubauer blies den Rauch seiner Zigarre von sich. »Um so besser. Doppelte Strafe fur Insubordination. Immerhin, wenn Sie noch versuchen wollen, im Lager andere zu finden – es steht Ihnen frei, Herr Doktor.«
»Danke«, sagte Wiese kalt.
Neubauer schlo? die Tur hinter ihm und kam zuruck in den Raum. Die wurzige, blaue Rauchwolke des Tabaks umwehte ihn. 509 roch sie und fuhlte plotzlich eine rei?ende Gier in seinen Lungen. Sie hatte nichts mit ihm zu tun; es war eine fremde, selbstandige Gier, die sich in seine Lungen einkrallte. Unbewu?t atmete er tief und spurte den Rauch, und gleichzeitig beobachtete er Neubauer. Er verstand einen Augenblick lang nicht, warum er und Bucher nicht mit Wiese weggeschickt worden waren; aber dann wu?te er es. Es gab nur eine Erklarung. Sie hatten einem SS-Offizier nicht gehorcht und wurden dafur im Lager bestraft werden. Die Strafe war vorauszusehen – man hatte Leute aufgehangt, nur weil sie einem Kapo nicht gehorcht hatten. Es war falsch gewesen, nicht zu unterschreiben, fuhlte er plotzlich. Mit Wiese hatten sie vielleicht noch eine Chance gehabt. Jetzt waren sie verloren.
Eine wurgende Reue quoll in ihm auf. Sie pre?te seinen Magen, sie stand hinter seinen Augen, und scharf und unerklarlich spurte er gleichzeitig die rasende Gier nach dem Tabaksrauch.
Neubauer betrachtete die Nummer auf der Brust von 509. Es war eine niedrige Nummer. »Wie lange bist du schon hier?« fragte er.
»Zehn Jahre, Herr Obersturmbannfuhrer.«
Zehn Jahre. Neubauer hatte gar nicht gewu?t, da? noch Haftlinge vom Anfang her da waren.
Eigentlich ein Zeichen fur meine Milde, dachte er. Es gibt sicher nicht viele Lager, die so etwas haben. Er zog an seiner Zigarre. So etwas konnte sogar einmal ganz nutzlich sein. Man wu?te nie, was kam.
Weber kam herein. Neubauer nahm seine Zigarre aus dem Mund und stie? auf. Er hatte Schlackwurst und Ruhreier zum Fruhstuck gehabt – eine seiner Lieblingsspeisen.
»Obersturmfuhrer Weber«, sagte er. »Dies hier war nicht befohlen.«
Weber blickte ihn an. Er wartete auf den Witz. Der Witz kam nicht. »Wir werden sie heute abend beim Appell hangen«, sagte er schlie?lich.
Neubauer rulpste noch einmal. »Es war nicht befohlen«, wiederholte er.
»Ubrigens, weshalb machen Sie so etwas selbst?«
Weber antwortete nicht gleich. Er begriff nicht, da? Neubauer wegen solcher Kleinigkeiten uberhaupt ein Wort verschenkte. »Dafur gibt es doch genug Leute«, sagte Neubauer. Weber war in der letzten Zeit ziemlich selbstandig geworden. Es schadete nichts, wenn auch er einmal merkte, wer hier Befehle gab. »Was ist los mit Ihnen, Weber? Nerven durchgegangen?«
»Nein.«
Neubauer wandte sich wieder 509 und Bucher zu. Hangen, hatte Weber gesagt.
Eigentlich richtig. Aber wozu? Der Tag hatte sich besser gestaltet, als zu vermuten war. Und es war au?erdem ganz gut, Weber zu zeigen, da? nicht alles so geschehen mu?te, wie er dachte. »Es war keine direkte Befehlsverweigerung«, erklarte er. »Ich hatte freiwillige Meldungen angeordnet. Dies hier sieht nicht so aus. Geben Sie den Leuten zwei Tage Bunker, weiter nichts. Weiter nichts, Weber, verstehen Sie? Ich mochte, da? meine Befehle befolgt werden.«
»Jawohl.«
Neubauer ging. Er fuhlte sich uberlegen und zufrieden. Weber blickte ihm verachtlich nach.
Nerven, dachte er. Wer hat hier Nerven? Und wer wird hier weich? Zwei Tage Bunker! Argerlich drehte er sich um. Ein Streifen Sonne fiel uber das zerschlagene Gesicht von 509. Weber sah ihn genauer an. »Dich kenne ich doch? Woher?«
»Ich wei? es nicht, Herr Obersturmfuhrer.« 509 wu?te es genau. Er hoffte, da? Weber sich nicht erinnern wurde.
»Irgendwoher kenne ich dich. Woher hast du die Verletzungen?«