»Na, schon«, erwiderte Weber. »Wie Sie wollen. Sechs Mann vortreten fur leichte Arbeit.«

Niemand bewegte sich. Weber wurde rot. Die Blockaltesten schrieen das Kommando nach und begannen, eilig Leute vorzusto?en. Weber ging gelangweilt die Reihen entlang und entdeckte plotzlich Ahasver im hinteren Glied vor Baracke 22. »Der da! Der mit dem Bart!« schrie er.

»'raustreten! Wei?t du nicht, da? es verboten ist, so 'rumzulaufen? Blockaltester! Was fallt Ihnen ein? Wozu sind Sie da?

Vortreten, der Kerl da!«

Ahasver trat vor. »Zu alt«, murmelte Wiese und hielt Weber zuruck. »Einen Augenblick. Ich glaube, wir sollten das anders machen.«

»Leute«, sagte er dann sanft. »Ihr gehort ins Hospital. Alle. Im Lagerlazarett ist kein Platz mehr.

Ich kann sechs von euch anderswo unterbringen. Ihr braucht Suppen, Fleisch und kraftige Kost.

Die sechs, die es am notigsten haben, vortreten.«

Niemand trat vor. An solche Marchen glaubte keiner im Lager. Die Veteranen hatten Wiese au?erdem wiedererkannt. Sie wu?ten, da? er schon einigemale Leute geholt hatte. Keiner war wiedergekommen.

»Ihr habt wohl noch zu viel zu fressen, was?« schnauzte Weber. »Das werden wir andern. Sechs Mann vortreten, aber flott!«

Aus Sektion B taumelte ein Skelett nach vorn und blieb stehen. »Gut«, sagte Wiese und musterte es. »Sie sind vernunftig, lieber Mann. Wir werden Sie schon auffuttern.«

Ein zweiter folgte. Dann noch einer. Es waren neue Zugange. »Los! Drei mehr!« rief Weber argerlich. Er hielt die Sache mit dem freiwilligen Melden fur eine Kateridee Neubauers. Man befahl auf der Schreibstube, und die sechs Leute wurden geliefert, fertig.

Wieses Mundwinkel zuckten. »Ich garantiere euch personlich fur gute Kost, Leute. Fleisch, Kakao, nahrhafte Suppen!«

»Herr Stabsarzt«, sagte Weber. »Die Bande versteht nicht, wenn man so mit ihr redet.«

»Fleisch?« fragte das Skelett Wassja, das wie hypnotisiert neben 509 stand.

»Naturlich, mein lieber Mann.« Wiese wandte sich ihm zu. »Taglich. Taglich Fleisch!«

Wassja kaute. 509 stie? ihn warnend mit dem Ellbogen an.

Es war kaum eine Bewegung gewesen; aber Weber hatte sie trotzdem bemerkt.

»Sauhund!« Er trat 509 gegen den Bauch. Es war kein uberma?ig kraftiger Tritt; es war ein Warntritt, kein Straftritt, nach Webers Meinung. Aber 509 fiel um.

»Aufstehn, Schwindler!«

»Nicht so, nicht so«, murmelte Wiese und hielt Weber zuruck. »Ich mu? sie heil haben.«

Er beugte sich uber 509 und tastete ihn ab. Nach einer Weile offnete 509 die Augen.

Er sah Wiese nicht an. Er sah Weber an.

Wiese richtete sich auf. »Sie mussen ins Hospital, lieber Mann. Wir werden fur Sie sorgen.«

»Ich bin nicht verletzt«, keuchte 509 und stand mit Muhe auf.

Wiese lachelte. »Das wei? ich als Arzt besser.« Er wandte sich an Weber. »Das waren noch zwei.

Nun der letzte. Ein jungerer.« Er zeigte auf Bucher, der auf der anderen Seite neben 509 gestanden hatte. »Der vielleicht -«

»Marsch, 'raus!«

Bucher trat neben 509 und die anderen. Weber sah jetzt durch die Lucke, die entstanden war, den tschechischen Knaben Karel. »Da ist noch eine halbe Portion. Wollen Sie die als Zugabe haben?«

»Danke. Ich brauche ausgewachsene Leute. Diese genugen. Herzlichen Dank.«

»Gut. Ihr sechs meldet euch in funfzehn Minuten auf der Schreibstube. Blockaltester! Nummern notieren! Gewaschen, ihr dreckigen Schweine!«

Sie standen, als hatte ein Blitz eingeschlagen. Keiner sprach. Sie wu?ten, was es bedeutete. Nur Wassja grinste. Er war schwachsinnig vor Hunger und glaubte, was Wiese gesagt hatte. Die drei Neuen starrten stumpf ins Leere; sie waren willenlos jedem Befehl gefolgt, auch dem, in den elektrisch geladenen Draht zu laufen. Ahasver lag am Boden und stohnte. Handke hatte ihn mit einem Knuppel verprugelt, nachdem Weber und Wiese gegangen waren.

»Josef!« Eine schwache Stimme kam vom Frauenlager heruber.

Bucher ruhrte sich nicht. Berger stie? ihn an. »Da ist Ruth Holland.«

Das Frauenlager lag links neben dem Kleinen Lager und war von ihm durch einen doppelten, ungeladenen Stacheldraht getrennt. Es bestand nur aus zwei kleinen Baracken, die wahrend des Krieges eingerichtet worden waren, als die neuen Massenverhaftungen begannen. Fruher waren keine Frauen im Lager gewesen.

Bucher hatte vor zwei Jahren einige Wochen als Tischler druben gearbeitet. Dabei hatte er Ruth Holland getroffen. Beide hatten sich heimlich ab und zu fur kurze Zeit sehen und sprechen konnen; dann war Bucher zu einem anderen Kommando versetzt worden. Sie hatten sich erst wiedergesehen, als er ins Kleine Lager eingeliefert worden war. Manchmal, nachts oder bei Nebel, hatten sie dann miteinander flustern konnen.

Ruth Holland stand hinter dem Stacheldraht, der die beiden Lager trennte. Der Wind wehte den gestreiften Kittel um ihre dunnen Beine. »Josef!« rief sie wieder.

Bucher hob den Kopf. »Geh vom Draht weg! Sie sehen dich!«

»Ich habe alles gehort. Tu es nicht!«

»Geh vom Draht weg, Ruth. Der Posten kann schie?en.«

Sie schuttelte den Kopf. Ihr Haar war kurz und vollig grau. »Du nicht! Bleib hier! Geh nicht! Bleib hier, Josef!«

Bucher sah hilflos zu 509 hinuber. »Wir kommen wieder«, sagte 509 fur ihn.

»Er kommt nicht wieder. Ich wei? es. Und du wei?t es auch.« Sie pre?te die Hande gegen den Draht. »Nie kommt jemand wieder.«

»Geh zuruck, Ruth.« Bucher blickte nach den Wachturmen. »Es ist gefahrlich, da zu stehen.«

»Er kommt nicht wieder! Ihr wi?t es alle!« 509 erwiderte nichts. Es war nichts zu erwidern. Er war taub in sich selbst. Er hatte kein Gefuhl mehr. Nicht fur andere und nicht fur sich selbst. Alles war vorbei, er wu?te es, aber er fuhlte es noch nicht. Er fuhlte nur, da? er nichts fuhlte.

»Er kommt nicht wieder«, wiederholte Ruth Holland. »Er soll nicht gehen.«

Bucher starrte auf den Boden. Er war zu benommen, um weiter zu antworten. »Er soll nicht gehen«, sagte Ruth Holland. Es war wie eine Litanei. Monoton, ohne Erregung.

Es war schon jenseits aller Erregung. »Jemand anders soll gehen. Er ist jung. Jemand anders soll fur ihn gehen -«

Niemand antwortete. Jeder wu?te, da? Bucher gehen mu?te. Die Nummern waren von Handke aufgeschrieben worden. Und wer ware schon fur ihn gegangen?

Sie standen und sahen sich an. Die, die gehen mu?ten, und die, die zuruckblieben. Sie sahen sich an. Wenn ein Blitz eingeschlagen und Bucher und 509 getotet hatte, ware es ertraglicher gewesen.

Es war unertraglich, weil in diesem letzten Blick noch die Luge war, das schweigende: warum ich?

Gerade ich? auf der einen – und das: Gottlob, nicht ich! Nicht ich! auf der anderen Seite.

Ahasver richtete sich langsam vom Boden auf. Er starrte noch einen Augenblick benommen vor sich hin; dann erinnerte er sich. Er flusterte etwas.

Berger drehte sich um. »Ich bin schuld«, krachzte der Alte plotzlich. »Ich – mein Bart – dadurch ist er hergekommen! Sonst ware er druben geblieben. Oi -«

Er begann mit beiden Handen an seinem Bart zu zerren. Tranen sturzten ihm ubers Gesicht. Er war zu schwach, um sich die Haare auszurei?en. Er sa? auf dem Boden und zerrte seinen Kopf hin und her.

»Geh in die Baracke«, sagte Berger scharf.

Ahasver starrte ihn an. Dann lie? er sich vornuber aufs Gesicht fallen und heulte.

»Wir mussen gehen«, sagte 509.

»Wo ist der Zahn?« fragte Lebenthal.

509 griff in die Tasche und hielt ihn Lebenthal hin. »Hier -«

Lebenthal nahm ihn. Er zitterte. »Dein Gott!« stammelte er und machte eine vage Bewegung zur Stadt und der ausgebrannten Kirche hinunter. »Deine Zeichen! Deine Feuersaule!« 509 tastete wieder nach seiner Tasche. Er

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