hatte das Stuck Brot gefuhlt, wahrend er den Zahn herausnahm.

Was hatte es nun genutzt, da? er es nicht gegessen hatte. Er hielt es Lebenthal hin.

»I? es selbst«, sagte Lebenthal wutend und hilflos. »Es ist deins.«

»Fur mich hat es keinen Zweck mehr.«

Ein Muselmann hatte das Brotstuck gesehen. Er stolperte rasch heran, den Mund weit offen, umklammerte den Arm von 509 und schnappte danach. 509 stie? ihn weg und schob das Brotstuck in die Hand von Karel, der die ganze Zeit schweigend neben ihm gestanden hatte. Der Muselmann griff nach Karel. Der Junge trat ihm ruhig und genau gegen das Schienbein. Der Muselmann schwankte, und die anderen stie?en ihn weg.

Karel sah 509 an. »Werdet ihr vergast?« fragte er sachlich.

»Hier gibt es keine Gaskammern, Karel. Du solltest das wissen«, sagte Berger argerlich.

»Das haben sie uns in Birkenau auch gesagt. Wenn sie euch Handtucher geben und euch sagen, ihr sollt baden, dann ist es Gas.«

Berger schob ihn beiseite. »Geh und i? dein Brot, sonst nimmt es dir ein anderer weg.«

»Ich passe schon auf.« Karel stopfte das Brot in den Mund. Er hatte gefragt, wie man nach einem Reiseziel fragt, und hatte nichts Boses gemeint. Er war in Konzentrationslagern aufgewachsen und kannte nichts anderes.

»Kommt -« sagte 509.

Ruth Holland begann zu weinen. Ihre Hande hingen wie Vogelkrallen am Stacheldraht. Sie fletschte die Zahne und stohnte. Sie hatte keine Tranen.

»Kommt -« sagte 509 noch einmal. Er lie? die Augen uber die Zuruckbleibenden gleiten. Die meisten waren schon gleichgultig in die Baracken zuruckgekrochen. Nur die Veteranen und ein paar andere standen da. Es schien 509 plotzlich, als habe er noch etwas ungeheuer Wichtiges zu sagen, etwas, von dem alles abhinge. Er muhte sich mit aller Kraft, aber er konnte es nicht in Gedanken und Worte bringen. »Verge?t dies nicht«, sagte er schlie?lich nur.

Keiner erwiderte etwas. Er sah, da? sie es vergessen wurden. Sie hatten ahnliches schon zu oft gesehen. Bucher hatte es vielleicht nicht vergessen, er war jung genug; aber der mu?te mit.

Sie stolperten den Weg entlang. Sie hatten sich nicht gewaschen. Das war ein Witz Webers gewesen; das Lager hatte nie genug Wasser. Sie gingen vorwarts. Sie sahen sich nicht um. Sie kamen durch die Stacheldrahtpforte, die das Kleine Lager abtrennte.

Die Krepierpforte. Wassja schmatzte. Die drei Neuen gingen wie Automaten. Sie kamen an den ersten Baracken des Arbeitslagers vorbei. Die Kommandos waren langst ausgeruckt. Die Baracken waren leer und trostlos; aber sie schienen 509 jetzt das Begehrenswerteste der Welt zu sein. Sie waren plotzlich Geborgenheit, Leben und Sicherheit. Er hatte hineinkriechen und sich verstecken mogen, fort von diesem erbarmungslosen Gang in den Tod. Zwei Monate zu fruh, dachte er stumpf. Vielleicht nur zwei Wochen zu fruh. Alles umsonst. Umsonst.

»Kamerad«, sagte plotzlich jemand neben ihm. Es war vor Baracke 13. Der Mann stand vor der Tur und hatte ein Gesicht, das schwarz mit Bartstoppeln war.

509 blickte auf. »Verge?t das nicht«, murmelte er. Er kannte den Mann nicht.

»Wir werden es nicht vergessen«, erwiderte der Mann. »Wohin geht ihr?«

Die Leute, die im Arbeitslager zuruckgeblieben waren, hatten Weber und Wiese gesehen. Sie wu?ten, da? das etwas Besonderes bedeuten mu?te.

509 blieb stehen. Er sah den Mann an. Auf einmal war er nicht mehr stumpf. Er fuhlte wieder das Wichtige, das er noch zu sagen hatte, das, was nicht verlorengehen durfte.

»Verge?t es nicht«, flusterte er eindringlich. »Nie! Nie!«

»Nie!« wiederholte der Mann mit fester Stimme. »Wohin mu?t ihr?«

»In ein Hospital. Als Versuchskaninchen. Verge?t es nicht. Wie hei?t du?«

»Lewinsky, Stanislaus.«

»Vergi? es nicht, Lewinsky«, sagte 509. Es war ihm, als habe es mehr Kraft mit dem Namen.

»Lewinsky, vergi? es nicht.«

»Ich werde es nicht vergessen.«

Lewinsky ruhrte mit der Hand an die Schulter von 509. 509 spurte es weiter als nur bis zur Schulter. Er sah Lewinsky noch einmal an. Lewinsky nickte. Sein Gesicht war nicht wie die Gesichter im Kleinen Lager. 509 fuhlte, da? er verstanden worden war.

Er ging weiter.

Bucher hatte auf ihn gewartet. Sie erreichten die Gruppe der vier anderen, die weitergetrottet waren. »Fleisch«, murmelte Wassja. »Suppe und Fleisch.«

Die Schreibstube roch nach kaltem Mief und Lederwichse. Der Kapo hatte die Papiere vorbereitet. Er sah die sechs ausdruckslos an. »Ihr sollt das hier unterschreiben.« 509 blickte auf den Tisch. Er verstand nicht, was da zu unterschreiben war. Gefangene wurden gewohnlich kommandiert, und damit fertig. Dann spurte er, da? ihn jemand ansah. Es war einer der Schreiber, der hinter dem Kapo sa?. Er hatte feuerrotes Haar.

Als er sah, da? 509 ihn bemerkte, bewegte er fast unmerklich den Kopf von 'rechts nach links.

Weber kam herein. Alles stand stramm. »Weitermachen!« kommandierte er und nahm die Papiere vom Tisch. »Noch nicht fertig? Los, unterschreibt das!«

»Ich kann nicht schreiben«, sagte Wassja, der am nachsten stand.

»Dann mach drei Kreuze.«

Wassja machte drei Kreuze. »Der Nachste!«

Die drei Neuen traten einer nach dem anderen heran. 509 versuchte sich krampfhaft zu sammeln.

Es schien ihm, als mu?te irgendwo noch ein Ausweg sein. Er sah wieder zu dem Schreiber hinuber; aber der blickte nicht mehr auf. »Jetzt du!« knurrte Weber.

»Los! Traumst wohl, was?« 509 nahm den Zettel auf. Seine Augen waren trube. Die paar Schreibmaschinenzeilen wollten nicht stillstehen. »Lesen auch noch!« Weber gab ihm einen Sto?.

»Unterschreib, Lausehund!« 509 hatte genug gelesen. Er hatte die Worte »hiermit erklare ich freiwillig -« gelesen.

Er lie? das Blatt auf den Tisch fallen. Da war die verzweifelte, letzte Gelegenheit! Das hatte der Schreiber gemeint.

»Los, du Zitterbock! Soll ich dir die Hand fuhren?«

»Ich melde mich nicht freiwillig«, sagte 509.

Der Kapo starrte ihn an. Die Schreiber hoben die Kopfe und duckten sie sofort wieder uber ihre Papiere. Es wurde einen Moment sehr still.

»Was?« fragte Weber dann unglaubig.

509 holte Atem. »Ich melde mich nicht freiwillig.«

»Du weigerst dich, zu unterschreiben?«

»Ja.«

Weber leckte sich die Lippen. »So, du unterschreibst das nicht?« Er nahm die linke Hand von 509, drehte sie und ri? sie ihm uber dem Rucken hoch. 509 fiel nach vorn auf den Boden. Weber hielt die verdrehte Hand weiter fest, zog 509 daran hoch, wippte und trat ihm auf den Rucken. 509 schrie und wurde still.

Weber nahm ihn mit der anderen Hand am Kragen und stellte ihn wieder auf. 509 fiel um.

»Schwachling!« knurrte Weber. Dann offnete er eine Tur. »Kleinen! Michel!

Nehmt den Jammerkerl mal nach druben und macht ihn munter. La?t ihn da. Ich komme 'ruber.«

Sie schleppten 509 hinaus. »Jetzt du!« sagte Weber zu Bucher. »Unterschreib!«

Bucher zitterte. Er wollte nicht zittern, aber er hatte keine Gewalt uber sich. Er war plotzlich allein.

509 war nicht mehr da. Alles in ihm gab nach. Er mu?te rasch tun, was 509 getan hatte, sonst war es zu spat, und er wurde wie ein Automat ausfuhren, was man ihm befahl.

»Ich unterschreibe auch nicht«, stammelte er.

Weber grinste. »Sieh mal an! Noch einer! Das ist ja wie in den alten guten Anfangstagen!«

Bucher fuhlte den Schlag kaum. Eine krachende Finsternis brach uber ihm zusammen.

Als er aufwachte, stand Weber uber ihm. 509, dachte er stumpf, sog ist zwanzig Jahre alter als ich.

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