das hatte genugt.
»Und sie brauchen die Leute fur klinische Experimente?« fragte Neubauer.
»Ja. Versuche fur die Armee. Geheim, vorlaufig, naturlich.« Wiese lachelte. Die Zahne unter seinem Schnurrbart waren uberraschend gro?. »So, geheim -« Neubauer schnaufte. Er konnte diese uberlegenen Akademiker nicht leiden. Uberall mischten sie sich ein und verdrangten mit ihrer Wichtigtuerei die alten Kampfer. »Sie konnen haben, so viele Sie wollen«, sagte er. »Wir sind froh, wenn die Leute noch zu etwas gut sind. Alles, was wir hier dafur brauchen, ist ein Uberweisungsbefehl.«
Wiese blickte uberrascht auf. »Ein Uberweisungsbefehl?«
»Gewi?. Ein Uberweisungsbefehl von meinem ubergeordneten Amt.«
»Aber wieso – ich verstehe das nicht -«
Neubauer unterdruckte seine Genugtuung. Er hatte Wieses Uberraschung erwartet.
»Ich verstehe wirklich nicht -« sagte der Stabsarzt noch einmal. »Ich habe doch bis jetzt nie etwas Derartiges gebraucht.«
Neubauer wu?te das auch. Wiese hatte es nicht gebraucht, weil er den Gauleiter gekannt hatte.
Aber der Gauleiter war inzwischen wegen einer undurchsichtigen Angelegenheit ins Feld verschickt worden; das gab Neubauer jetzt eine willkommene Gelegenheit, dem Stabsarzt Schwierigkeiten zu machen.
»Das Ganze ist eine reine Formsache«, erklarte er leutselig. »Wenn die Armee die Uberweisung fur Sie beantragt, bekommen Sie die Leute ohne weiteres.«
Wiese hatte wenig Interesse daran; er hatte die Armee nur als Vorwand benutzt.
Neubauer wu?te das ebenfalls. Wiese zerrte nervos an seinem Schnurrbart. »Ich verstehe das alles nicht. Ich habe bisher immer ohne weiteres Leute bekommen.«
»Fur Experimente? Von mir?«
»Hier vom Lager.«
»Da mu? ein Irrtum vorliegen.« Neubauer griff zum Telefon. »Ich werde mich einmal erkundigen.«
Er brauchte sich nicht zu erkundigen, er wu?te auch so Bescheid. Nach ein paar Fragen legte er den Horer nieder. »Ganz, wie ich vermutet habe, Herr Doktor. Sie haben fruher Leute fur leichte Arbeit angefordert und bekommen. So etwas macht unser Arbeitsamt ohne Formalitaten. Wir versorgen taglich Dutzende von Betrieben mit Arbeitskommandos. Die Leute bleiben dabei dem Lager unterstellt. Ihr Fall heute liegt anders. Sie verlangen dieses Mal Leute fur klinische Experimente. Das macht eine Uberweisung notwendig. Die Leute verlassen damit offiziell das Lager.
Dafur brauche ich einen Befehl.«
Wiese schuttelte den Kopf. »Das ist doch eins wie das andere«, erklarte er argerlich.
»Fruher sind die Leute ebenso fur Experimente benutzt worden wie jetzt.«
»Davon wei? ich nichts.« Neubauer lehnte sich zuruck. »Ich wei? nur, was in den Akten steht.
Und ich glaube, es ist besser, wir lassen es dabei. Sie haben zweifellos kein Interesse daran, die Aufmerksamkeit der Behorden auf einen solchen Irrtum zu lenken.«
Wiese schwieg einen Moment. Er merkte, da? er sich selbst gefangen hatte. »Hatte ich Leute bekommen, wenn ich sie fur leichte Arbeit angefordert hatte?« fragte er dann.
»Sicherlich. Dafur ist unser Arbeitsamt ja da.«
»Gut. Dann bitte ich um sechs Leute fur leichte Arbeit.«
»Aber, Herr Stabsarzt!« Neubauer geno? die Situation mit vorwurfsvollem Triumph.
»Mir fehlen, offen gestanden, die Grundlagen fur einen so plotzlichen Wechsel ihrer Wunsche. Erst wollen Sie Leute haben, die korperlich moglichst weit herunter sind, und dann verlangen Sie sie fur leichte Arbeit. Das ist doch ein Widerspruch! Wer bei uns korperlich weit genug herunter ist, kann nicht einmal mehr Strumpfe stopfen, das konnen Sie mir glauben. Wir sind hier ein mit preu?ischer Ordnung gefuhrtes Erziehungs- und Arbeitslager -« Wiese schluckte, stand brusk auf und griff nach seiner Mutze. Neubauer erhob sich ebenfalls. Er war zufrieden damit, Wiese geargert zu haben. Es lag ihm nichts daran, sich den Mann vollig zum Feinde zu machen. Man konnte nie wissen, ob der alte Gauleiter nicht eines Tages wieder in Gnaden aufgenommen werden wurde. »Ich habe einen anderen Vorschlag, Herr Doktor«, sagte er deshalb. Wiese drehte sich um. Er war bla?. Die Sommersprossen stachen scharf aus seinem kasigen Gesicht. »Bitte?« »Wenn Sie die Leute so dringend brauchen, konnten Sie nach Freiwilligen fragen. Das erspart die Formalitaten. Wenn ein Haftling der Wissenschaft einen Dienst leisten will, so haben wir nichts dagegen. Es ist nicht ganz offiziell, aber das nehme ich auf meine Kappe, besonders bei den nutzlosen Fressern im Kleinen Lager. Die Leute unterschreiben eine entsprechende Erklarung, fertig.« Wiese antwortete nicht gleich. »In einem solchen Falle ist nicht einmal eine Bezahlung fur Arbeitsleistungen notig«, sagte Neubauer herzlich. »Die Leute bleiben offiziell im Lager. Sie sehen, ich tue, was ich kann.« Wiese blieb mi?trauisch. »Ich wei? nicht, weshalb Sie plotzlich so schwierig sind. Ich diene dem Vaterland -« »Das tun wir alle. Ich bin auch nicht schwierig. Nur ordentlich. Burokram. Scheint einem wissenschaftlichen Genie wie Ihnen unnotig zu sein; aber fur uns ist es nun mal die halbe Welt.« »Ich kann also sechs Freiwillige haben?« »Sechs und mehr, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen sogar unseren ersten Lagerfuhrer auf die Tour mitgeben; er kann Sie zum Kleinen Lager fuhren. Sturmfuhrer Weber. Uberaus fahiger Mann.« »Gut. Danke.« »Nichts zu danken. War ein Vergnugen.« Wiese ging. Neubauer griff zum Telefon und instruierte Weber. »Lassen Sie ihn sich ordentlich abzappeln! Keine Befehle! Nur Freiwillige. Er soll sich meinetwegen die Schwindsucht an den Hals reden. Wenn keiner will, konnen wir ihm eben auch nicht helfen.« Er schmunzelte und legte den Horer wieder auf. Seine schlechte Laune war verschwunden. Es hatte ihm gut getan, einem dieser Kulturbolschewisten einmal zu zeigen, da? man auch noch etwas zu melden hatte. Das mit den Freiwilligen war ein besonders guter Einfall gewesen. Es wurde Wiese schwerfallen, jemand zu ergattern. Die Gefangenen wu?ten fast alle Bescheid. Selbst der Lagerarzt, der sich ebenfalls fur einen Gelehrten hielt, mu? sich seine Opfer auf den Stra?en zusammenfangen, wenn er gesunde Leute fur Experimente brauchte. Neubauer grinste und beschlo?, spater nachzuforschen, was aus der Sache geworden war. »Kann man die Wunde sehen?« fragte Lebenthal. »Kaum«, sagte Berger. »Die SS sicher nicht. Es war der vorletzte Backenzahn. Der Kiefer ist jetzt starr.« Sie hatten die Leiche Lohmanns vor die Baracke gelegt. Der Morgenappell war vorbei. Sie warteten auf den Wagen fur die Toten. Ahasver stand neben 509. Seine Lippen bewegten sich. »Fur diesen brauchst du nicht Kaddisch zu sagen, Alter«, erklarte 509. »Dieser war ein Protestant.« Ahasver blickte auf. »Es wird ihm nicht schaden«, sagte er ruhig und murmelte weiter.
Bucher erschien. Hinter ihm kam Karel, der Knabe aus der Tschechoslowakei. Seine Beine waren dunn wie Stocke und das Gesicht winzig wie eine Faust unter dem viel zu gro?en Schadel. Er schwankte.
»Geh zuruck, Karel«, sagte 509. »Hier ist es zu kalt fur dich.«
Der Junge schuttelte den Kopf und kam naher. 509 wu?te, warum er bleiben wollte.
Lohmann hatte ihm manchmal etwas von seinem Brot gegeben. Und dieses hier war Lohmanns Beerdigung; es war der Weg zum Friedhof, es waren die Kranze und Blumen mit bitterem Geruch, es war Beten und Klagen, es war alles, was sie noch fur ihn tun konnten – dieses: da zu stehen und mit trockenen Augen auf den Korper zu starren, der in der fruhen Sonne lag.
»Da kommt der Wagen«, sagte Berger.
Das Lager hatte fruher nur Leichen trager gehabt; dann, als die Toten zahlreicher wurden, au?erdem einen Wagen mit einem Schimmel. Der Schimmel war gestorben, und jetzt hatte man ein ausgedientes, flaches Lastauto mit einer Lattenverschalung, wie es zum Transport von geschlachtetem Vieh benutzt wurde. Es fuhr von Baracke zu Baracke, die Toten zu sammeln.
»Sind Leichentrager dabei?«
»Nein.«
»Dann mussen wir ihn selbst aufladen. Holt Westhof und Meyer.«
»Die Schuhe«, flusterte Lebenthal plotzlich aufgeregt.
»Ja. Aber er mu? etwas an den Fu?en haben. Haben wir was?«
»In der Baracke ist noch das zerrissene Paar von Buchsbaum. Ich hole es.«
»Stellt euch hier herum«, sagte 509. »Rasch! Pa?t auf, da? man mich nicht sehen kann.«
Er kniete neben Lohmann nieder. Die anderen stellten sich so, da? er gegen das Lastauto, das vor Baracke 17 hielt, und gegen die Posten auf den nachsten Turmen geschutzt war. Er konnte die Schuhe leicht abziehen; sie waren viel zu gro?. Die Fu?e Lohmanns bestanden nur noch aus Knochen.
»Wo ist das andere Paar? Rasch, Leo!« »Hier -«
Lebenthal kam aus der Baracke. Die zerrissenen Schuhe hatte er unter seiner lacke.