»Gefahrlich. Kann nur gemacht werden mit jemand, der aus dem Lager heraus kann oder Verbindung nach drau?en hat.«
»Wie, ist egal. Was konnen wir dafur kriegen? Es mu? rasch gehen!«
»Das geht nicht so rasch. So etwas mu? befingert werden. Das verlangt Kopf, sonst sind wir am Galgen oder sind es los ohne einen Pfennig.«
»Kannst du es nicht heute abend noch machen?«
Lebenthal lie? die Hand mit dem Zahn sinken. »509«, sagte er. »Gestern warst du noch vernunftig.«
»Gestern ist lange her.«
Ein Krach kam von der Stadt und gleich darauf ein klarer, hallender Glocken« ton.
Das Feuer hatte das Gebalk des Kirchturms durchfressen, und die Glocke war gerutscht.
Lebenthal hatte sich erschreckt geduckt. »Was war das?« fragte er.
509 verzog die Lippen. »Ein Zeichen, Leo, da? gestern lange her ist.«
»Es war eine Glocke. Wieso hat die Kirche da unten noch eine Glocke? Sie haben doch alle Glocken zu Kanonen eingeschmolzen.«
»Ich wei? es nicht. Vielleicht haben sie die eine vergessen. Also wie ist es mit dem Zahn heute abend? Wir brauchen Fra? fur die Tage ohne Brot.«
Lebenthal schuttelte den Kopf. »Heute geht es nicht. Gerade deshalb nicht. Heute ist Donnerstag.
Kameradschaftsabend in der SS-Kaserne.«
»Ach so. Heute kommen die Huren?«
Lebenthal blickte auf. »So, das wei?t du? Woher?«
»Das ist ja egal. Ich wei? es, Berger wei? es, Bucher wei? es, und Ahasver wei? es.«
»Wer sonst noch?«
»Keiner.«
»So, ihr wi?t das! Ich habe nicht gemerkt, da? ihr mich beobachtet habt. Mu? besser aufpassen.
Gut, das ist also heute abend.«
»Leo«, sagte 509. »Versuch heute abend, den Zahn loszuwerden. Das ist wichtiger.
Dies hier kann ich fur dich machen. Gib mir das Geld; ich wei? Bescheid. Es ist einfach.«
»Du, wei?t, wie es gemacht wird?«
»Ja, von der Grube aus -«
Lebenthal dachte nach. »Da ist ein Kapo bei der Lastwagenkolonne«, sagte er dann.
»Er fahrt morgen in die Stadt. Ich konnte probieren, ob er anbei?t. Gut, meinetwegen. Und vielleicht bin ich auch noch rechtzeitig zuruck, um dieses hier selbst zu machen.«
Er hielt 509 den Zahn hin.
»Was soll ich damit?« fragte 509 erstaunt. »Du mu?t ihn doch mitnehmen -«
Lebenthal schuttelte verachtungsvoll den Kopf. »Da sieht man, was du vom Handel verstehst!
Meinst du, ich kriege etwas dafur, wenn einer von den Brudern ihn erst in den Pfoten hat? Das wird anders gemacht. Wenn alles gut geht, komme ich zuruck und hole ihn. Versteck ihn solange.
Und nun pa? auf -« 509 lag in einer Bodenvertiefung, ein Stuck vom Stacheldraht entfernt, aber naher, als es erlaubt war. Die Palisaden machten hier einen Knick, und die Stelle war von den Maschinengewehrturmen schwer einzusehen – besonders nachts und bei Nebel.
Die Veteranen hatten das schon seit langem entdeckt; aber erst Lebenthal hatte es vor einigen Wochen fertig gebracht, Kapital daraus zu schlagen.
Das gesamte Gebiet einige hundert Meter au?erhalb des Lagers war verbotene Zone, die nur mit besonderer Erlaubnis der SS betreten werden durfte. Ein breiter Streifen davon war von allem Gebusch gereinigt, und die Maschinengewehre waren darauf eingeschossen.
Lebenthal, der einen sechsten Sinn hatte fur alles, was mit Essen zusammenhing, hatte beobachtet, da? seit ein paar Monaten zwei Madchen Donnerstag abends ein Stuck des breiten Weges benutzten, der am Kleinen Lager vorbei» fuhrte. Sie gehorten zur »Fledermaus«, einer Kneipe mit Stimmungsbetrieb, die vor der Stadt lag, und kamen als Gaste zum gemutlichen Teil der Kultur abende der SS. Die SS hatte ihnen chevaleresk erlaubt, durch die verbotene Zone zu gehen; sie sparten so einen Umweg von fast zwei Stunden. Zur Vorsicht wurde wahrend der kurzen Zeit, die sie brauchten, an der Seite des Kleinen Lagers der Strom abgestellt. Die Lagerverwaltung wu?te davon nichts; die SS-Leute machten das in dem allgemeinen Durcheinander der letzten Monate auf eigene Faust.
Sie riskierten nichts; niemand vom Kleinen Lager war fahig, zu fliehen.
Eine der Huren hatte einmal in einem Anfall von Gutmutigkeit ein Stuck Brot durch den Draht geworfen, als Lebenthal gerade in der Nahe gewesen war. Ein paar im Dunkeln geflusterte Worte und das Angebot, zu bezahlen, hatten genugt – die Madchen brachten seitdem manchmal etwas mit, besonders bei regnerischem oder nebligem Wetter. Sie warfen es durch den Draht, indem sie taten, als richteten sie sich die Strumpfe oder schuttelten Sand aus ihren Schuhen. Das Lager war vollig abgeblendet, und die Wachen schliefen an dieser Seite oft; aber selbst, wenn jemand mi?trauisch geworden ware: auf die Madchen hatte niemand geschossen, und bis er kam, um nachzusehen, waren alle Spuren langst verschwunden gewesen.
509 horte, wie der Turm in der Stadt ganz zusammensturzte. Eine Feuergarbe scho? empor und zerflatterte. Dann kamen die fernen Signale der Feuerwehr heruber.
Er wu?te nicht, wie lange er gewartet hatte; Zeit war im Lager ein belangloser Begriff. Aber plotzlich horte er durch das unruhige Dunkel Stimmen und dann Schritte. Er kroch unter dem Mantel Lebenthals hervor naher an den Draht heran und horchte. Es waren leichte Schritte, die von links kamen. Er blickte zuruck; das Lager war sehr dunkel, und er konnte nicht einmal mehr die Muselmanner sehen, die zur Latrine stolperten. Dafur horte er, wie einer der Posten den Madchen etwas nachrief:»Werde um zwolf abgelost. Treffe euch doch noch, was?«
»Klar, Arthur.«
Die Schritte kamen naher. Es dauerte noch eine Weile, bis 509 die Umrisse der Madchen vage gegen den Himmel erkennen konnte. Er sah nach den Maschinengewehrturmen hinuber. Es war so diesig und dunkel, da? er die Posten nicht sehen konnte – und sie ihn deshalb auch nicht. Vorsichtig begann er zu zischen.
Die Madchen blieben stehen. »Wo bist du?« flusterte eine.
509 hob den Arm und winkte.
»Ach da. Hast du das Geld?«
»Ja. Was habt ihr?«
»Gib erst den Zaster her. Drei Mark.«
Das Geld war mit einem langen Stock in einem Beutel, an dem sich ein Bindfaden befand, unter dem Stacheldraht hinweg auf den Weg geschoben worden. Eines der Madchen buckte sich, nahm es heraus und zahlte es rasch. Dann sagte es:»Hier, pa? auf!«
Die beiden holten Kartoffeln aus den Taschen ihrer Mantel und warfen sie durch den Draht. 509 versuchte, sie in Lebenthals Mantel aufzufangen. »Jetzt kommt das Brot«, sagte das dickere Madchen.
509 sah, wie die Scheiben durch den Draht segelten. Er fischte sie rasch zusammen.
»So, das ist alles.« Die Madchen wollten weitergehen.
509 zischte. »Was?« fragte die Dickere.
»Konnt ihr mehr bringen?«
»Nachste Woche.«
»Nein. Wenn ihr von der Kaserne zuruckkommt. Die geben euch doch dort, was ihr wollt.« »Bist du derselbe, wie immer?« fragte das dickere Madchen und beugte sich vor.
»Die sehen doch alle gleich aus, Fritzi«, sagte die andere.
»Ich kann hier warten«, flusterte 509. »Ich habe noch Geld.«
»Wieviel?«
»Drei.«
»Wir mussen los, Fritzi«, sagte das andere Madchen. Sie markierten wahrend der Zeit Schritte auf der Stelle, damit die Posten nicht horen sollten, da? beide nicht weitergingen.
»Ich kann die ganze Nacht warten. Funf Mark.«
»Du bist ein Neuer, was?« fragte Fritzi. »Wo ist der andere? Tot?«
»Krank. Hat mich hergeschickt. Funf Mark. Vielleicht auch mehr.«