»Los, Fritzi. Wir konnen nicht so lange hier stehenbleiben.«
»Schon. Wir werden sehen. Warte meinetwegen hier.«
Die Madchen gingen weiter. 509 horte ihre Rocke rascheln. Er kroch zuruck, zog den Mantel hinter sich her und legte sich erschopft nieder. Er hatte das Gefuhl zu schwitzen; aber er war ganz trocken.
Als er sich umdrehte, sah er Lebenthal. »Geklappt?« fragte Leo.
»Ja. Die Kartoffeln hier und das Brot.«
Lebenthal beugte sich nieder. »Diese Biester«, sagte er dann. »Was fur Blutsauger! Das sind ja fast Preise wie hier im Lager! Eine Mark funfzig ware genug gewesen. Fur drei Mark hatte Wurst dabei sein mussen. Das kommt davon, wenn man so was nicht selber macht!« 509 horte nicht zu.
»La? uns teilen, Leo«, sagte er.
Sie krochen hinter die Baracke und legten die Kartoffeln und das Brot auseinander.
»Die Kartoffeln brauche ich«, sagte Lebenthal. »Zum Handel, morgen.«
»Nein. Wir brauchen jetzt alles selbst.«
Lebenthal blickte auf. »So? Und woher soll ich Geld fur das nachstemal kriegen?«
»Du hast doch noch was.«
»Was du nicht alles wei?t!«
Sie hockten sich plotzlich wie Tiere auf allen vieren gegenuber und sahen sich in die eingesunkenen Gesichter.
»Sie kommen heute abend zuruck und bringen mehr«, sagte 509. »Sachen von druben, mit denen du leichter handeln kannst. Ich habe ihnen gesagt, wir hatten noch funf Mark.«
»Hor mal -« begann Lebenthal. Dann hob er die Schultern. »Wenn du das Geld hast, ist es deine Sache.« 509 starrte ihn an. Schlie?lich blickte Lebenthal weg und lie? sich auf die Ellenbogen sinken. »Du machst mich kaputt«, jammerte er leise. »Was willst du eigentlich? Wozu mischst du dich auf einmal in alles ein?« 509 widerstand der Gier, eine Kartoffel in den Mund zu stopfen und noch eine, rasch, alle, ehe ihm jemand zuvorkam. »Wie stellst du dir das vor?« flusterte Lebenthal weiter. »Alles auffressen, das Geld ausgeben wie Idioten – wie sollen wir dann Neues kriegen?«
Die Kartoffeln. 509 roch sie. Das Brot. Seine Hande wollten dem Denken plotzlich nicht mehr folgen. Sein Magen war nichts mehr als Gier. Essen! Essen! Schlingen! Rasch! Rasch!
»Wir haben den Zahn«, sagte er muhsam und drehte den Kopf weg.
»Was ist mit dem Zahn? Wir kriegen doch etwas dafur. Was ist damit?«
»Da war heute wenig zu machen. Das dauert noch. Ist auch nicht sicher. Man hat erst, was man in der Hand hat.«
Ist er nicht hungrig? dachte 509. Was redet er? Zerrei?t es ihm nicht den Magen?
»Leo«, sagte er mit dicker Zunge. »Denk an Lohmann. Wenn wir soweit sind, ist es zu spat. Jeder Tag zahlt jetzt. Wir brauchen nicht mehr fur Monate im voraus zu denken.«
Von der Richtung des Frauenlagers her kam ein dunner, hoher Schrei – wie von einem angstlichen Vogel. Ein Muselmann stand dort auf einem Bein und streckte die Arme zum Himmel. Ein zweiter versuchte, ihn zu halten. Es sah aus, als ob beide einen grotesken »pas de deux« vor dem Horizont tanzten. Einen Moment spater sturzten sie wie durres Holz zu Boden, und der Schrei verstummte.
509 drehte sich wieder um. »Wenn wir erst sind wie die, nutzt uns alles nichts mehr«, sagte er.
»Dann sind wir kaputt fur immer. Wir mussen uns wehren, Leo.«
»Wehren – wie?«
»Wehren«, sagte 509 ruhiger. Der Anfall war voruber. Er konnte wieder sehen. Der Brotgeruch machte ihn nicht mehr blind. Er naherte seinen Kopf Lebenthals Ohr.
»Fur nachher -« sagte er fast lautlos. »Um uns zu rachen -«
Lebenthal fuhr zuruck. »Damit will ich nichts zu tun haben.«
509 lachelte schwach. »Das sollst du auch nicht. Sorge du nur furs Fressen.«
Lebenthal schwieg eine Zeitlang. Dann griff er in seine Tasche, zahlte Geldstucke dicht vor seinen Augen und gab sie 509. »Hier sind drei Mark. Die letzten. Bist du nun zufrieden?«
509 nahm das Geld, ohne zu antworten.
Lebenthal legte das Brot und die Kartoffeln auseinander. »Zwolf Teile. Verflucht wenig dafur.« Er begann abzuzahlen.
»Elf. Lohmann will nichts mehr. Braucht auch nichts mehr.«
»Gut. Elf.«
»Bring es hinein zu Berger, Leo. Sie warten.«
»Ja. Hier ist deins. Willst du hierbleiben, bis die beiden zuruckkommen?«
»Ja.«
»Du hast noch Zeit. Sie kommen nicht vor eins oder zwei.«
»Das macht nichts. Ich bleibe hier.«
Lebenthal zuckte die Achseln. »Wenn sie nicht mehr bringen als vorher, brauchst du uberhaupt nicht zu warten. Dafur kann ich auch was im Gro?en Lager kriegen. Wucherpreise, die Biester!«
»Ja, Leo. Ich werde aufpassen, da? ich mehr kriege.«
509 kroch wieder unter den Mantel. Ihn fror. Die Kartoffeln und sein Stuck Brot hielt er in der Hand. Er steckte das Brot in die Tasche. Ich werde heute nacht nichts essen, dachte er. Ich werde bis morgen warten. Wenn ich das fertigbringe, dann – er wu?te nicht, was dann sein wurde. Irgend etwas. Etwas Wichtiges. Er versuchte es auszudenken. Es ging nicht. Er hatte noch die Kartoffeln in der Hand. Eine gro?e und eine sehr kleine. Sie waren zu stark. Er a? sie. Er verschlang die kleine mit einem Bissen; die gro?e kaute und kaute er. Er hatte nicht erwartet, da? der Hunger danach noch schlimmer werden wurde. Er hatte es wissen mussen; es geschah immer wieder, aber man glaubte es jedesmal nicht. Er leckte seine Finger, und dann bi? er in seine Hand, um sie von dem Brot in seiner Tasche fortzuhalten. Ich will das Brot nicht sofort herunterschlingen, wie fruher, dachte er. Ich will es erst morgen essen.
Ich habe heute abend gegen Lebenthal gewonnen. Ich habe ihn halb uberzeugt. Er wollte nicht; aber er hat mir drei Mark gegeben. Ich bin noch nicht kaputt. Ich habe noch Willen. Wenn ich es mit dem Brot aushalte bis morgen – es war ihm, als tropfe schwarzer Regen in seinem Kopf – dann -er ballte die Fauste und starrte auf die brennende Kirche – da war es endlich -, dann bin ich keinTier. Kein Muselmann.
Nicht nur eine Fre?maschine. Ich habe dann, es ist – die Schwache kam wieder, die Gier – es ist -, ich habe es zu Lebenthal vorhin gesagt, aber da hatte ich kein Brot in der Tasche. – Sagen ist leicht – es ist – Widerstand – es ist so, wie wieder ein Mensch werden – ein Anfang.
VI
Neubauer sa? in seinem Buro. Ihm gegenuber sa? der Stabsarzt Wiese, ein kleiner, affenahnlicher Mann mit Sommersprossen und einem zerfransten, rotlichen Schnurrbart.
Neubauer war schlecht gelaunt. Er hatte einen dieser Tage, an dem alles schiefzugehen schien. Die Nachrichten in den Zeitungen waren mehr als vorsichtig gewesen; Selma hatte zu Hause herumgemurrt; Freya war mit roten Augen durch die Wohnung geschlichen; zwei Rechtsanwalte hatten ihre Buros in seinem Geschaftshaus gekundigt – jetzt kam auch noch dieser lausige Pillendreher mit seinen Wunschen daher.
»Wieviel Leute wollen Sie denn haben?« fragte er murrisch.
»Sechs genugen einstweilen. Korperlich ziemlich weit herunter.«
Wiese gehorte nicht zum Lager. Er besa? vor der Stadt ein kleines Hospital und hatte den Ehrgeiz, ein Mann der Wissenschaft zu sein. Er machte, wie manche andere Arzte, Experimente an lebenden Menschen, und das Lager hatte ihm einigemale Gefangene dafur zur Verfugung gestellt.
Er war mit dem fruheren Gauleiter der Provinz befreundet gewesen, und niemand hatte deshalb viel gefragt, wozu er die Leute benutzte. Die Leichen waren immer ordnungsgema? spater im Krematorium abgeliefert worden;