»Ich werde dir Jod daruber pinseln. Ich hole die Flasche.«

Berger gab 509 das Streichholz und tastete sich zu seinem Bett hinuber. »Licht aus!« krachzte jemand.

»Quatsch nicht!« antwortete der Mann, der das Streichholz gegeben hatte.

»Licht aus!« krachzte die andere Stimme wieder. »Sollen die Posten uns zusammenschie?en?«

509 stand so, da? sein gebuckter Korper sich zwischen der Wand und dem Streichholz befand.

Der Mann im mittleren Bett hielt seine Decke gegen das Fenster, und 509 deckte die kleine Flamme seitlich mit seiner Jacke ab. Lohmanns Augen waren sehr klar. Sie waren zu klar. 509 blickte auf das Stuck Streichholz, das noch nicht verbrannt war, und dann auf Lohmann, und er dachte, da? er Lohmann sieben Jahre kannte, und er wu?te, da? dieses das letztemal sein wurde, da? er ihn lebend sah. Er hatte zu viele solche Gesichter gesehen, um das nicht zu wissen.

Er fuhlte die Hitze der Flamme an seinen Fingern, aber er hielt sie, bis er nicht mehr konnte. Er horte Berger zuruckkommen. Dann war die Dunkelheit plotzlich da, als sei er blind geworden.

»Hast du noch ein Streichholz?« fragte er den Mann im mittleren Bett.

»Hier.« Der Mann gab ihm eins. »Das letzte.«

Das letzte, dachte 509. Funfzehn Sekunden Licht. Funfzehn Sekunden fur die funfundvierzig Jahre, die noch Lohmann hie?en. Die letzten.

Der kleine flackernde Kreis. »Licht aus, verdammt! Haut ihm das Licht aus der Hand!«

»Idiot! Kein Aas kann was sehen!« 509 hielt das Streichholz niedriger. Berger stand neben ihm, die Flasche mit Jod in der Hand.

»Mach den Mund – «

Er brach ab. Er sah Lohmann jetzt ebenfalls deutlich. Es war unsinnig gewesen, das Jod zu holen.

Er hatte es auch nur gemacht, um irgend etwas zu tun. Langsam steckte er die Flasche in die Tasche. Lohmann schaute ihn ruhig an, ohne mit den Augenlidern zu blinken. 509 blickte weg. Er offnete die Hand und sah den kleinen Klumpen Gold darin schimmern. Dann sah er wieder auf Lohmann. Die Flamme sengte seine Finger. Ein Schatten von der Seite schlug nach seinem Arm.

Das Licht erlosch.

»Gute Nacht, Lohmann«, sagte 509.

»Ich komme nachher noch einmal«, sagte Berger.

»La?t nur«, flusterte Lohmann. »Dies jetzt – ist einfach -«

»Vielleicht finden wir noch ein paar Streichholzer.«

Lohmann erwiderte nichts mehr.

509 fuhlte die Goldkrone hart und schwer in seiner Hand. »Komm heraus«, flusterte er Berger zu.

»Wir besprechen das besser drau?en. Da sind wir allein.«

Sie tasteten sich zur Tur und gingen auf die Seite der Baracke, die vor dem Winde geschutzt war.

Die Stadt war abgeblendet und zum gro?en Teil geloscht.

Nur der Turm der Katharinenkirche brannte noch wie eine riesige Fackel. Er war sehr alt und voll trockenen Gebalks; die Schlauche der Feuerwehr konnten nichts gegen ihn ausrichten, und man mu?te ihn ausbrennen lassen.

Sie hockten sich nieder. »Was sollen wir machen?« fragte 509.

Berger rieb seine entzundeten Augen. »Wenn die Krone auf der Schreibstube registriert ist, sind wir verloren. Sie werden nachforschen und ein paar von uns hangen. Mich als ersten.«

»Er sagt, sie sei nicht registriert. Als er kam, gab es das hier noch nicht. Er ist seit sieben Jahren im Lager. Goldzahne wurden damals ausgeschlagen, aber nicht registriert. Das kam spater.«

»Wei?t du das genau?« 509 hob die Schultern.

Sie schwiegen eine Weile. »Wir konnen naturlich immer noch die Wahrheit sagen und die Krone abliefern. Oder sie in seinen Mund stecken, wenn er tot ist«, erklarte 509 schlie?lich. Seine Hand schlo? sich eng um den kleinen Klumpen. »Willst du das?«

Berger schuttelte den Kopf. Das Gold war Leben fur einige Tage. Beide wu?ten, da? sie es jetzt, da sie es hatten, nicht mehr abliefern wurden.

»Konnte er den Zahn nicht schon vor Jahren ausgebrochen und selbst verkauft haben?« fragte 509.

Berger sah ihn an. »Glaubst du, da? die SS sich darauf einla?t?«

»Nein. Besonders nicht, wenn sie die frische Wunde im Munde entdeckt.«

»Das ist das wenigste. Wenn er noch etwas durchhalt, heilt die Wunde. Es ist au?erdem ein hinterer Backenzahn; das macht die Kontrolle schwieriger, wenn die Leiche erst starr ist. Wenn er heute abend stirbt, ist er morgen vormittag soweit. Wenn er morgen fruh stirbt, mussen wir ihn hier behalten, bis er starr ist. Das geht. Handke konnen wir beim Morgenappell tauschen.« 509 sah Berger an. »Wir mussen es riskieren. Wir brauchen das Geld. Jetzt besonders.«

»Ja. Wir konnen ohnehin nichts anderes mehr machen. Wer soll den Zahn verschieben?«

»Lebenthal. Er ist der einzige, der es machen kann.«

Hinter ihnen offnete sich die Tur der Baracke. Ein paar Leute zerrten eine Gestalt an Armen und Beinen heraus und schleiften sie zu einem Haufen neben der Stra?e. Dort lagen die Toten, die seit dem Abendappell gestorben waren.

»Ist das schon Lohmann?«

»Nein. Das sind keine von den Unsern. Das sind Muselmanner.«

Die Leute, die den Toten losgelassen hatten, taumelten zur Baracke zuruck.

»Hat irgend jemand gemerkt, da? wir den Zahn haben?« fragte Berger.

»Ich glaube nicht. Es sind fast alles Muselmanner, die da liegen. Hochstens der Mann, der uns die Streichholzer gegeben hat.«

»Hat er was gesagt?«

»Nein. Bis jetzt nicht. Aber er kann immer noch einen Anteil verlangen.«

»Das ist das wenigste. Die Frage ist, ob er es fur ein besseres Geschaft halt, uns zu verraten.« 509 dachte nach. Er wu?te, da? es Leute gab, die fur ein Stuck Brot zu allem fahig waren. »Er sah nicht so aus«, sagte er schlie?lich. »Warum hatte er uns sonst die Streichholzer gegeben?«

»Das hat nichts damit zu tun. Wir mussen vorsichtig sein. Sonst sind wir beide erledigt. Und Lebenthal ebenso.« 509 wu?te auch das gut genug. Er hatte manchen Mann fur weniger hangen sehen.

»Wir mussen ihn beobachten«, erklarte er. »Wenigstens so lange, bis Lohmann verbrannt ist und Lebenthal den Zahn verschoben hat. Danach nutzt es ihm nichts mehr.«

Berger nickte. »Ich gehe noch einmal 'rein. Vielleicht finde ich schon etwas heraus.«

»Gut. Ich bleibe hier und warte auf Leo. Er mu? noch im Arbeitslager sein.«

Berger stand auf und ging zur Baracke hinuber. Er und 509 hatten ohne Zogern ihr Leben riskiert, wenn Lohmann durch irgend etwas zu retten gewesen ware. Aber er war nicht zu retten. Deshalb redeten sie uber ihn wie uber einen Stein. Die Jahre im Lager hatten sie dazu gebracht, sachlich zu denken.

509 hockte im Schatten der Latrine. Es war ein guter Platz; niemand achtete hier auf ihn. Das Kleine Lager hatte fur alle Baracken zusammen nur eine gemeinsame Massenlatrine, die an der Grenze der beiden Lager errichtet war und zu der ein endloser Zug von Skeletten standig stohnend von den Baracken hinuber und zuruck schuffelte. Fast alle hatten Durchfall oder Schlimmeres, und viele lagen zusammengebrochen umher und warteten, bis sie wieder Kraft genug hatten, um weiter zu stolpern. Zu beiden Seiten der Latrine lief der Stacheldrahtzaun entlang, der das Kleine Lager vom Arbeitslager trennte. 509 hockte so, da? er die Pforte, die in den Stacheldraht geschnitten war, beobachten konnte. Sie war da fur die SS-Blockfuhrer, die Blockaltesten, die Essenholer, die Leichentrager und die Leichenwagen. Von Baracke 22 durfte nur Berger sie benutzen, wenn er zum Krematorium ging. Fur alle anderen war sie streng verboten. Der Pole Silber hatte sie die Krepierpforte genannt, weil die Gefangenen, die ins Kleine Lager uberwiesen wurden, nur als Leichen durch sie zuruckkamen. Jeder Posten durfte schie?en, wenn ein Skelett versuchen sollte, ins Arbeitslager zu gelangen. Fast niemand versuchte es. Auch vom Arbeitslager kam au?er denen, die Dienst hatten, nie jemand heruber. Das Kleine Lager war nicht nur unter einer losen Quarantane; es war auch sonst von den ubrigen Gefangenen aufgegeben worden und wurde lediglich als eine Art von Friedhof betrachtet, auf dem die Toten noch kurze Zeit umherwankten. 509 konnte durch den Stacheldraht einen Teil der Stra?en des Arbeitslagers sehen. Sie wimmelte von Gefangenen, die den Rest ihrer

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