In Block 13 begann Munzer zu singen. Die anderen fielen ein. Wer den Text nicht mehr kannte, markierte. Die Hauptsache war, da? alle Munder sich bewegten.

»Wozu?« flusterte Munzer nach einer Weile, ohne den Kopf zu bewegen, zu seinem Nebenmann Werner hinuber, wahrend er scheinbar weitersang.

»Was?«

Die Melodie wurde zu einem dunnen Krachzen. Sie war nicht tief genug angefangen worden, und die Stimmen konnten jetzt die hohen, jubilierenden Noten der Schlu?zeilen nicht erreichen und brachen ab. Die Haftlinge hatten auch nicht mehr viel Atem.

»Was ist das fur ein sauma?iges Gebell?« brullte der zweite Lagerfuhrer. »Noch einmal von vorn!

Wenn's diesmal nicht klappt, bleibt ihr die ganze Nacht hier!«

Die Haftlinge begannen tiefer. Das Lied ging jetzt besser.

»Was?« wiederholte Werner.

»Wozu gerade Deutschland, Deutschland uber alles -?«

Werner kniff die Augen zusammen. »Trauen vielleicht – ihren eigenen Naziliedern nicht mehr ganz so – nach heute -«, sang er.

Die Gefangenen starrten geradeaus. Werner spurte eine sonderbare Spannung in sich aufsteigen. Er hatte auf einmal das Gefuhl, da? nicht nur er allein sie spure – als spure auch Munzer sie, als spure Goldstein am Boden sie, als spurten viele andere sie und als spure sie sogar die SS. Das Lied klang plotzlich nicht mehr so, wie die Haftlinge sonst sangen. Es war lauter und fast herausfordernd ironisch geworden, und der Text hatte nichts mehr damit zu tun. Hoffentlich merkt Weber es nicht, dachte er, wahrend er auf den Lagerfuhrer blickte – sonst gibt es noch mehr Tote, als bereits da liegen.

Goldsteins Gesicht am Boden war dicht vor dem Gesicht Schellers. Schellers Lippen bewegten sich. Goldstein konnte nicht verstehen, was er sagte; aber er sah die halboffenen Augen und ahnte, was es war. »Quatsch!« sagte er. »Wir haben den Lazarettkapo. Er wird es schieben. Du kommst durch.«

Scheller erwiderte etwas. »Halt die Schnauze!« rief Goldstein durch den Larm zuruck:»Du kommst durch, fertig!« Er sah die graue, porose Haut vor sich. »Sie spritzen dich nicht ab!« heulte er als Text in die letzten Takte. »Wir haben den Lazarettkapo! Er wird den Arzt bestechen!«

»Achtung!«

Der Gesang brach ab. Der Lagerkommandant war auf den Platz gekommen. Weber meldete. »Ich habe den Brudern eine kurze Predigt gehalten und ihnen eine Stunde Mehrarbeit aufgeknallt.«

Neubauer war uninteressiert. Er schnuffelte in die Luft und blickte zum Nachthimmel auf. »Glauben Sie, da? die Bande heute nacht wiederkommt?«

Weber grinste. »Nach den letzten Radiomeldungen haben wir neunzig Prozent abgeschossen.«

Neubauer fand das nicht witzig. Hat auch nichts zu verlieren, dachte er. Kleiner Dietz, Landsknecht, weiter nichts. »Lassen Sie die Leute abtreten, wenn Sie fertig sind«, erklarte er plotzlich murrisch.

»Wegtreten lassen!«

Die Blocks marschierten ab zu den Baracken. Sie nahmen ihre Verwundeten und Toten mit. Die Toten mu?ten gemeldet und in die Listen eingetragen werden, bevor sie im Krematorium abgeliefert wurden. Schellers Gesicht war spitz wie das eines Zwerges, als Werner, Munzer und Goldstein ihn aufnahmen. Er sah aus, als ob er die Nacht nicht uberleben wurde. Goldstein hatte wahrend der Erdkunde einen Schlag gegen die Nase bekommen. Sie fing an zu bluten, als er marschierte. Das Blut schillerte im fahlen Licht dunkel auf seinem Kinn.

Sie bogen in die Stra?e ein, die zu ihrer Baracke fuhrte. Der Wind, der von der Stadt heraufwehte, war starker geworden und traf sie voll, als sie um die Ecke kamen. Er brachte den Rauch der brennenden Stadt mit sich herauf.

Die Gesichter der Gefangenen veranderten sich. »Riecht ihr es auch?« fragte Werner.

»Ja.« Munzer hob den Kopf.

Goldstein spurte den su?en Geschmack des Blutes auf seinen Lippen. Er spuckte aus und versuchte den Rauch mit offenem Munde zu schmecken.

»Es riecht, als brenne es auch hier schon -«

»Ja -«

Sie konnten den Rauch jetzt sogar sehen. Er wehte vom Tal die Stra?en hinauf wie ein leichter, wei?er Nebel und hing bald uberall zwischen den Baracken. Es schien Werner einen Augenblick sonderbar und fast unbegreiflich, da? der Stacheldraht ihn nicht zuruckhielt – als sei das Lager plotzlich nicht mehr so abgeschlossen und unzuganglich, wie es vorher gewesen war.

Sie gingen die Stra?e hinab. Sie gingen durch den Rauch. Ihre Schritte wurden fester, und ihre Schultern reckten sich. Sie trugen Scheller mit gro?er Vorsicht.

Goldstein beugte sich zu ihm nieder. »Riech es! So riech es doch auch!« sagte er leise, verzweifelt und flehend in das spitze Gesicht hinein.

Aber Scheller war langst bewu?tlos.

Die Baracke war dunkel und stank. Licht gab es abends schon lange nicht mehr.

»509«, flusterte Berger. »Lohmann will mit dir sprechen.«

»Ist es soweit?«

»Noch nicht.« 509 tastete sich durch die schmalen Gange zu dem Brettergestell, neben dem sich das matte Viereck des Fensters abhob. »Lohmann?«

Etwas raschelte. »Ist Berger auch da?« fragte Lohmann.

»Nein.«

»Hol ihn.«

»Wozu?«

»Hol ihn!« 509 tastete sich zuruck. Fluche folgten ihm. Er trat auf Korper, die in den Gangen lagen. Jemand bi? ihm in die Wade. Er schlug auf den unbekannten Kopf, bis die Zahne sich losten.

Nach einigen Minuten kam er mit Berger wieder. »Da sind wir. Was willst du nun?«

»Hier!« Lohmann streckte seinen Arm aus.

»Was?« fragte 509.

»Halte deine Hand unter meine. Flach. Vorsichtig.« 509 fuhlte die dunne Faust Lohmanns. Sie war trocken wie Eidechsenhaut. Langsam offnete sie sich. Etwas fiel in die Hand von 509, klein und schwer. »Hast du es?«

»Ja. Was ist es? Ist es -«

»Ja«, flusterte Lohmann. »Mein Zahn.«

»Was?« Berger schob sich naher. »Wer hat das getan?«

Lohmann begann zu kichern. Es war ein fast lautloses, gespenstisches Kichern.

»Ich.«

»Du? Wie?«

Sie fuhlten die Befriedigung des Sterbenden. Er schien kindisch stolz und tief beruhigt. »Nagel.

Zwei Stunden. Kleiner Eisennagel. Habe ihn gefunden und den Zahn damit losgebohrt.«

»Wo ist der Nagel?«

Lohmann griff neben sich und gab ihn Berger. Berger hielt ihn gegen das Fenster und befuhlte ihn dann. »Dreck und Rost. Hat es geblutet?«

Lohmann kicherte wieder. »Berger«, sagte er,»ich kann eine Blutvergiftung riskieren.«

»Warte.« Berger suchte in seiner Tasche. »Hat jemand ein Streichholz?«

Streichholzer waren kostbar. »Ich habe keins«, erwiderte 509.

»Hier«, sagte jemand aus dem mittleren Bett.

Berger rieb die Zundflache an. Das Streichholz flammte auf. Berger und 509 hatten die Augen geschlossen gehalten, um nicht geblendet zu werden. Sie gewannen so einige Sekunden zum Sehen.

»Mach den Mund auf«, sagte Berger.

Lohmann starrte ihn an. »Sei nicht lacherlich. Verkauft das Gold.«

»Mach den Mund auf.«

Uber Lohmanns Gesicht huschte etwas, das als Lacheln gemeint sein konnte. »La? mich in Ruhe.

Gut, euch beide noch einmal bei Licht gesehen zu haben.«

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