war breit und braun, und eine tiefe Narbe lief vom rechten Mundwinkel uber das Kinn herunter – sie war ein Andenken an eine Saalschlacht mit Reichsbannerleuten im Jahre 1929. Weber hielt die Arme auf die Lehne seines Stuhles gestutzt und starrte gelangweilt auf die Straflinge, zwischen denen SS-Leute, Blockalteste und Kapos aufgeregt hin und her rannten, prugelten und schrieen. Die Blockaltesten schwitzten und lie?en aufs neue abzahlen. Monoton klangen die Stimmen auf:»Eins – zwei- drei -« Die Verwirrung war durch die ganz Zerfetzten im Kupferwerk entstanden. Die Haftlinge hatten Kopfe, Arme und Korper so gut zusammengesucht wie sie konnten; aber man hatte nicht alles gefunden. Wie man es auch machte: es schien, da? zwei Mann fehlten. In der Dammerung war es zwischen den Kommandos bereits zu einem Streit um die einzelnen Glieder gekommen; besonders naturlich um die Kopfe. Jeder Block wollte moglichst vollstandig sein, um den schweren Strafen zu entgehen, die auf ungenugende Meldung standen. Man hatte sich um die blutigen Stucke gerissen und gepufft, bis das Kommando »Stillgestanden« ertont war. Die Blockaltesten hatten in der Eile nichts organisieren konnen; so hatten zwei Korper gefehlt. Wahrscheinlich hatte die Bombe sie in kleine Stucke gerissen, die uber Mauern geflogen waren oder in Fetzen auf den Dachern herumlagen. Der Rapportfuhrer kam zu Weber. »Jetzt sind es nur noch anderthalb, die fehlen. Die Russen haben drei Beine fur einen gehabt, und die Polen hatten einen uberzahligen Arm.« Weber gahnte. »Lassen Sie durch Namensaufruf feststellen, wer fehlt.« Durch die Reihen der Gefangenen ging ein kaum merkliches Schwanken. Namensaufruf bedeutete, da? man noch ein bis zwei Stunden stehen mu?te, wenn nicht langer – bei den Russen und Polen, die kein Deutsch verstanden, kamen dauernd Irrtumer mit ihren Namen vor. Der Aufruf begann. Stimmen flatterten auf; dann horte man Schimpfen und Schlage. Die SS war gereizt und prugelte, weil sie ihre Freizeit verlor. Die Kapos und Blockaltesten prugelten aus Angst. Hier und da kippten Leute um, und unter den Verwundeten breiteten sich langsam schwarze Blutlachen aus. Ihre grauwei?en Gesichter wurden spitzer und schimmerten todlich in der tiefen Dammerung. Sie blickten ergeben zu ihren Kameraden hinauf, die mit den Handen an der Hosennaht dastanden und den Verblutenden nicht helfen durften. Fur manche war dieser Wald von dreckigen Zebrabeinen das letzte, was sie von der Welt sahen. Der Mond kroch hinter dem Krematorium hoch. Die Luft war diesig, und er hatte einen breiten Hof. Eine Zeitlang stand er genau hinter dem Schornstein, und sein Licht schimmerte daruber hinweg, so da? es aussah, als wurden Geister in den Ofen verbrannt und kaltes Feuer schluge heraus. Dann wurde er langsam mehr und mehr sichtbar, und der stumpfe Schornstein wirkte jetzt wie ein Minenwerfer, der eine rote Kugel senkrecht in den Himmel feuerte. In der ersten Zehnerreihe von Block dreizehn stand der Gefangene Goldstein. Er war der letzte am linken Flugel, und neben ihm lagen die Verwundeten und Toten des Blocks. Einer der Verletzten war Goldsteins Freund Scheller. Er lag als nachster neben ihm. Goldstein sah aus den Augenwinkeln, da? sich der schwarze Fleck unter dem zerfetzten Bein Schellers plotzlich viel rascher als vorher vergro?erte. Der durftige Verband hatte sich gelost, und Scheller verblutete. Goldstein stie? seinen Nebenmann Munzer an; dann lie? er sich seitlich umkippen, als sei er ohnmachtig geworden. Er richtete es so ein, da? er halb uber Scheller fiel. Was er machte, war gefahrlich. Der wutende SS-Blockfuhrer umkreiste die Reihen wie ein bissiger Schaferhund. Ein guter Tritt seiner schweren Stiefel gegen die Schlafe konnte Goldstein erledigen. Die Gefangenen in der Nahe standen unbeweglich; aber alle beobachteten, was vorging. Der Blockfuhrer befand sich gerade mit dem Blockaltesten am anderen Ende der Gruppe. Der Blockalteste meldete dort etwas. Er hatte Goldsteins Manover ebenfalls bemerkt und versuchte, den Scharfuhrer fur einige Augenblicke festzuhalten. Goldstein tastete unter sich nach dem Strick, mit dem Schellers Bein abgeschnurt war. Er sah dicht vor seinen Augen das Blut und roch das rohe Fleisch. »La? doch«, flusterte Scheller. Goldstein fand den abgerutschten Knoten und loste ihn. Das Blut sprudelte starker. »Sie spritzen mich ja doch ab«, flusterte Scheller. »Mit dem Bein -« Das Bein hing nur noch an ein paar Sehnen und Hautfetzen. Es hatte sich durch den Fall Goldsteins verschoben und lag jetzt schief und sonderbar da, mit verdrehtem Fu?, als habe es ein drittes Gelenk. Goldsteins Hande waren na? von Blut. Er zog den Knoten an, aber der Strick rutschte wieder ab. Scheller zuckte. »La? doch -« Goldstein mu?te den Knoten wieder aufmachen. Er fuhlte den zersplitterten Knochen an den Fingern. Sein Magen kam hoch. Er schluckte, suchte in dem glitschigen Fleisch, fand das Band wieder, schob es hoher und erstarrte. Munzer hatte ihn gegen den Fu? gesto?en. Es war eine Warnung; der SS- Blockfuhrer schnaufte heran. »Wieder so ein Schwein! Was ist mit dem nun wieder los?« »Umgefallen, Herr Scharfuhrer.« Der Blockalteste war neben ihm. »Steh auf, faules Aas!« schrie er Goldstein an und trat ihm gegen die Rippen. Der Tritt sah viel harter aus, als er war. Der Blockalteste bremste ihn im letzten Moment. Er trat noch einmal. Er vermied so, da? der Scharfuhrer es tat. Goldstein ruhrte sich nicht. Gegen sein Gesicht schlug das Blut Schellers. »Los, los! La?t ihn liegen!« Der Blockfuhrer ging weiter. »Verdammt, wann werden wir hier fertig?« Der Blockalteste folgte ihm. Goldstein wartete eine Sekunde; dann packte er das Band um Schellers Bein, ri? es zusammen, knotete es und drehte den Holzknebel, der sich vorher gelost hatte, wieder fest hinein. Das Blut horte auf zu sprudeln. Es sickerte nur noch. Vorsichtig nahm Goldstein die Hande weg. Der Verband blieb fest.

Der Aufruf war beendet. Man hatte sich geeinigt, da? dreiviertel eines Russen und die obere Halfte des Straflings Sibolski aus Baracke 5 fehlten. Es stimmte nicht ganz. Von Sibolski waren die Arme da. Sie befanden sich allerdings im Besitz von Baracke 17, die sie als die Reste Josef Binswangers ausgab, von dem nichts wiedergefunden worden war. Dafur hatten zwei Mann von Baracke 5 die untere Halfte des Russen gestohlen, die dort als Sibolski ausgegeben wurde, da Beine schwer zu unterscheiden waren. Zum Gluck waren au?erdem noch ein paar uberzahlige Gliederstucke da, die auf die eineinviertel Fehlenden angerechnet werden konnten. Damit war klar, da? keiner der Haftlinge im Wirrwarr des Bombardements gefluchtet war. Trotzdem ware es moglich gewesen, da? alle bis zum Morgen auf dem Appellplatz hatten stehen mussen, um dann im Kupferwerk weiter nach den Resten zu suchen – das Lager hatte ein paar Wochen vorher einmal zwei Tage gestanden, bis jemand gefunden worden war, der im Schweinestall Selbstmord verubt hatte. Weber sa? ruhig auf seinem Stuhl, das Kinn immer noch auf die Hande gestutzt. Er hatte sich wahrend der ganzen Zeit kaum geruhrt. Nach der Meldung erhob er sich langsam und streckte sich. »Die Leute haben lange genug gestanden. Sie brauchen Bewegung. Erdkunde uben!« Befehle hallten uber den Platz:»Hande hinter dem Kopf verschranken! Knie beugt! Froschhupfen! Vorwarts – hupft!« Die langen Reihen gehorchten. Sie hupften langsam mit gebeugten Knien vorwarts. Der Mond war inzwischen weiter aufgestiegen und heller geworden. Er beleuchtete jetzt schon einen Teil des Appellplatzes. Der andere lag im Schatten, den die Gebaude warfen. Die Umrisse des Krematoriums, des Tores und sogar des Galgens zeichneten sich scharf auf dem Boden ab. »Zuruckhupfen!« Die Reihen hupften aus dem Licht wieder in das Dunkel zuruck. Leute fielen um. SS-Mannschaften, Kapos und Blockalteste prugelten sie wieder hoch. Das Schreien war kaum zu horen uber dem Scharren der zahllosen Fu?e. »Vorwarts! Zuruck! Vorwarts! Zuruck! Stillgestanden!« Jetzt begann die eigentliche Erdkunde. Sie bestand darin, da? die Gefangenen sich hinwerfen mu?ten, auf dem Boden kriechen, aufspringen, sich wieder hinwerfen und weiterkriechen. Sie lernten auf diese Weise die Erde des Tanzplatzes schmerzlich genau kennen. Nach kurzer Zeit war der Platz ein Durcheinander von wimmelnden riesigen gestreiften Maden, die wenig Menschliches an sich zu haben schienen. So gut sie konnten, schutzten sie die Verwundeten; aber in der Hast und Angst war es nicht immer moglich. Nach einer Viertelstunde befahl Weber Halt. Die Viertelstunde hatte allerdings Verwustungen unter den erschopften Haftlingen angerichtet. Uberall lagen welche herum, die nicht weiter konnten. »In Blocks ausgerichtet antreten!« Die Leute schleppten sich zuruck. Sie holten die Zusammengebrochenen und hielten die zwischen sich fest, die noch stehen konnten. Die anderen legten sie neben die Verwundeten. Das Lager stand still. Weber trat vor. »Was ihr da soeben gemacht habt, ist in eurem eigenen Interesse geschehen. Ihr habt gelernt, wie man bei Luftangriffen Deckung nimmt.« Ein paar SS-Leute kicherten. Weber warf einen Blick zu ihnen hinuber und fuhr fort:»Ihr habt heute am eigenen Leibe erfahren, mit welch einem unmenschlichen Feinde wir es zu tun haben. Deutschland, das immer nur Frieden wollte, ist in brutaler Weise angefallen worden. Der Feind, der an der Front uberall geschlagen worden ist, greift in seiner Verzweiflung zu einem letzten Mittel: er bombardiert gegen jedes Volkerrecht in feigster Weise offene, friedliche deutsche Stadte. Er zerstort Kirchen und Hospitaler. Er mordet wehrlose Frauen und Kinder. Es war nicht anders von Untermenschen und Bestien zu erwarten. Wir werden die Antwort nicht schuldig bleiben. Das Lagerkommando verfugt ab morgen vermehrte Arbeitsleistung. Die Kommandos rucken eine Stunde fruher aus, um aufzuraumen. Sonntags gibt es bis auf weiteres keine Freizeit mehr. Juden erhalten zwei Tage kein Brot. Bedankt euch bei den feindlichen Mordbrennern dafur.« Weber schwieg. Das Lager ruhrte sich nicht. Man horte den Berg hinauf das hohe Summen eines starken Wagens, der rasch naher kam. Es war der Mercedes Neubauers. »Singen!« kommandierte Weber. »Deutschland, Deutschland uber alles!« Die Blocks begannen nicht sofort. Sie waren uberrascht. In den letzten Monaten war nicht mehr oft befohlen worden zu singen – und wenn, dann waren es immer Volkslieder gewesen. Sie wurden meistens angeordnet, wenn die Prugelstrafen vollzogen wurden. Wahrend die Gemarterten schrieen, hatten die ubrigen Straflinge dazu lyrische Strophen zu singen. Die alte, fruhere Nationalhymne aus der Vornazizeit aber war seit Jahren nicht mehr befohlen worden.

»Los, ihre Schweine!«

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