Freizeit ausnutzten. Er sah, wie sie miteinander sprachen, wie sie in Gruppen zusammenstanden und die Stra?en entlanggingen – und obschon es nur ein anderer Teil des Konzentrationslagers war, erschien es ihm, als sei er durch einen unuberbruckbaren Abgrund von ihnen getrennt und als sei das druben fast so etwas wie eine verlorene Heimat, in der immerhin noch Leben und Gemeinschaft existierten. Er horte hinter sich das weiche Schlurfen der Haftlinge, die zur Latrine wankten, und er brauchte sich nicht umzublicken, um ihre toten Augen zu sehen. Sie sprachen kaum noch – sie stohnten hochstens oder zankten mit muden Stimmen; sie dachten nicht mehr. Der Lagerwitz nannte sie Muselmanner, weil sie vollig in ihr Schicksal ergeben waren. Sie bewegten sich wie Automaten und hatten keinen eigenen Willen mehr; alles war in ihnen ausgeloscht, au?er ein paar korperlichen Funktionen. Sie waren lebendige Tote und starben wie Fliegen im Frost. Das Kleine Lager war voll von ihnen. Sie waren gebrochen und verloren, und nichts konnte sie retten, nicht einmal die Freiheit 509 spurte die Kuhle der Nacht tief in den Knochen. Das Murmeln und Stohnen hinter ihm war wie eine graue Flut, in der man ertrinken konnte. Es war die Lockung zur Selbstaufgabe – die Lockung, gegen die die Veteranen verzweifelt kampften. 509 bewegte sich unwillkurlich und drehte den Kopf, um zu fuhlen, da? er noch lebte und einen eigenen Willen hatte. Dann horte er das Abpfeifen im Arbeitslager. Die Baracken dort hatten eigene Latrinen und wurden nachts abgeschlossen. Die Gruppen auf den Stra?en losten sich auf. Die Leute verschwanden. In kaum einer Minute war druben alles leer, und nur noch der trostlose Zug der Schatten im Kleinen Lager war da – vergessen von den Kameraden jenseits des Stacheldrahtes; abgeschrieben, isoliert, ein Rest zitternden Lebens im Territorium sicheren Todes. Lebenthal kam nicht durch das Tor. 509 sah ihn plotzlich schrag vor sich uber den Platz gehen. Er mu?te irgendwo hinter der Latrine hereingekommen sein. Niemand wu?te, wie er sich durchschmuggelte; es wurde 509 nicht gewundert haben, wenn er dazu die Armbinde eines Vormannes oder sogar die eines Kapos benutzt hatte. »Leo!« Lebenthal blieb stehen. »Was ist los? Vorsicht! Druben ist noch SS. Komm hier weg.« Sie gingen zu den Baracken hinuber. »Hast du was erwischt?« fragte 509. »Was?«

»Essen. Was sonst?«

Lebenthal hob die Schultern. »Essen! Was sonst«, wiederholte er irritiert. »Wie stellst du dir das vor? Bin ich der Kuchenkapo?«

»Nein.«

»Na also! Was willst du dann von mir?«

»Nichts. Ich habe nur gefragt, ob du was zu essen erwischt hast.«

Lebenthal blieb stehen. »Essen«, sagte er bitter. »Wei?t du, da? die Juden zwei Tage Brotentzug im ganzen Lager haben? Befehl von Weber.«

509 starrte ihn an. »Ist das wahr?«

»Nein. Ich habe es erfunden. Ich erfinde immer so was. Es ist witzig.«

»Mein Gott! Das wird Tote geben!«

»Ja. Haufen. Und du willst noch wissen, ob ich Essen erwischt habe -«

»Sei ruhig, Leo. Setz dich hierher. Das ist eine verfluchte Geschichte. Gerade jetzt!

Jetzt, wo wir allen Fra? brauchen, den wir kriegen konnen!«

»So? Ich bin vielleicht wohl noch schuld, was?« Lebenthal begann zu zittern. Er zitterte immer, wenn er sich aufregte, und er regte sich leicht auf; er war sehr empfindlich. Das bedeutete bei ihm nicht mehr, als hatte ein anderer mit den Fingern auf eine Tischplatte getrommelt. Es kam durch den standigen Hunger. Er vergro?erte und verkleinerte alle Emotionen. Hysterie und Apathie waren Geschwister im Lager. »Ich habe getan, was ich konnte«, zeterte Lebenthal leise mit hoher, sich uberschlagender Stimme. »Ich habe herangeschafft und riskiert und besorgt, und da kommst du und erklarst, wir brauchen -«

Seine Stimme versank plotzlich in ein mooriges, unverstandliches Gurgeln. Es war, als sei einer der Lautsprecher des Lagerradios au?er Kontakt geraten. Lebenthal fuhr mit den Handen auf dem Boden umher. Sein Gesicht sah jetzt nicht mehr aus wie ein beleidigter Totenkopf; es war nur noch eine Stirn mit einer Nase und Froschaugen und einem Haufen schlaffer Haut darunter, mit einem Loch darin. Endlich fand er sein falsches Gebi? auf dem Boden wieder, wischte es an seiner Jacke ab und schob es zuruck in den Mund. Der Lautsprecher war aufs neue angestellt, und die Stimme war wieder da, hoch und zeternd.

509 lie? ihn jammern, ohne zuzuhoren. Lebenthal merkte es und horte auf. »Wir haben doch schon ofter Brotentzug gehabt«, sagte er schlie?lich lahm. »Und fur langer als zwei Tage. Was ist los mit dir, da? du heute so viel Theater deswegen machst?« 509 sah ihn eine Weile an. Dann deutete er auf die Stadt und die brennende Kirche.

»Was los ist? Das da, Leo -«

»Was?«

»Das da unten. Wie war das doch damals im Alten Testament?«

»Was hast du mit dem Alten Testament zu schaffen?«

»Gab es da nicht so etwas unter Moses? Eine Feuersaule, die das Volk aus der Knechtschaft fuhrte?«

Lebenthal blinkte mit den Augen. »Eine Rauchwolke bei Tag und eine Feuersaule bei Nacht«, sagte er, ohne zu jammern. »Meinst du das?«

»Ja. Und war nicht Gott darin?«

»Jehova.«

»Gut, Jehova. Und das da unten – wei?t du, was das ist?« 509 wartete einen Augenblick. »Es ist etwas Ahnliches«, sagte er dann. »Es ist Hoffnung, Leo, Hoffnung fur uns! Verdammt, will das denn keiner von euch sehen?«

Lebenthal antwortete nicht. Er sa? in sich geduckt und blickte auf die Stadt hinunter.

509 lie? sich zurucksinken. Er hatte es endlich jetzt zum erstenmal ausgesprochen.

Man kann es kaum sagen, dachte er, es erschlagt einen fast, es ist ein so ungeheures Wort. Ich habe es vermieden durch all die Jahre, es hatte mich zerfressen, wenn ich es gedacht hatte; – aber jetzt ist es wiedergekommen, heute, man wagt noch nicht, es ganz auszudenken, aber es ist da, und entweder zerbricht es mich nun oder es wird wahr.

»Leo«, sagte er. »Das da unten bedeutet, da? auch dieses hier kaputtgehen wird.«

Lebenthal ruhrte sich nicht. »Wenn sie den Krieg verlieren,«, flusterte er. »Nur dann! Aber wer wei? das?« Er sah sich unwillkurlich angstlich um.

Das Lager war in den ersten Jahren ziemlich gut uber den Verlauf des Krieges informiert gewesen.

Spater jedoch, als die Siege ausblieben, hatte Neubauer verboten, Zeitungen hereinzubringen und Nachrichten uber den Ruckzug im Lagerradio bekanntzugeben. Die wildesten Geruchte hatten seitdem die Baracken durchjagt; und schlie?lich hatte keiner mehr gewu?t, was er wirklich glauben sollte.

Der Krieg ging schlecht, das wu?te man; aber die Revolution, auf die viele seit Jahren gewartet hatten, war nie gekommen.

»Leo«, sagte 509. »Sie verlieren ihn. Es ist das Ende. Wenn das da unten im ersten Jahre des Krieges passiert ware, wurde es nichts bedeuten. Da? es jetzt nach funf Jahren geschieht, hei?t, da? die anderen gewinnen.«

Lebenthal sah sich wiederum um. »Wozu redest du daruber?« 509 kannte den Aberglauben der Baracken. Was man aussprach, verlor an Sicherheit und Kraft – und eine getauschte Hoffnung war immer ein schwerer Verlust an Energie. Das war auch der Grund fur die Vorsicht der anderen.

»Ich rede daruber, weil wir jetzt daruber reden mussen«, sagte er. »Es ist Zeit dafur. Jetzt wird es uns helfen, durchzustehen. Diesmal ist es keine Latrinenparole. Es kann nicht mehr lange dauern.

Wir mussen -« Er stockte.

»Was?« fragte Lebenthal.

509 wu?te es selbst nicht genau. Durchkommen, dachte er. Durchkommen und noch mehr. »Es ist ein Rennen«, sagte er schlie?lich. »Ein Wettrennen, Leo – mit -« Mit dem Tode, dachte er; aber er sprach es nicht aus. Er zeigte in die Richtung der SS-Kasernen.

»Mit denen da! Wir durfen jetzt nicht noch verlieren. Das Ende ist in Sicht, Leo!« Er packte Lebenthal am Arm. »Wir mussen jetzt alles tun -«

»Was konnen wir schon tun?« 509 fuhlte, da? sein Kopf schwamm, als hatte er getrunken. Er war nicht mehr gewohnt, viel zu denken und zu sprechen. Und er hatte lange nicht so viel gedacht wie heute. »Hier ist etwas«, sagte er und holte den Goldzahn aus der Tasche. »Von Lohmann.

Wahrscheinlich nicht eingetragen. Konnen wir ihn verkaufen?«

Lebenthal wog den Klumpen in der Hand. Er zeigte keine Uberraschung.

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