Dann trat er zwischen das letzte Saulenpaar. Vor ihm, an der Ruckwand, ragte eine Statue auf, die so hoch war wie die Kammer selbst.
Harry verrenkte sich den Hals, um das riesenhafte Gesicht sehen zu konnen: es war das alte, affenartige Gesicht eines Zauberers mit langem schmalem Bart, der fast bis zum Saum seines wogenden Steinumhangs herabfiel. Zwei gewaltige graue Fu?e standen auf dem glatten Kammerboden. Und zwischen den Fu?en, mit dem Gesicht nach unten, lag eine kleine Gestalt mit schwarzem Umhang und flammend rotem Haar.
»Ginny!«, flusterte Harry. Mit einem Sprung war er bei ihr und fiel auf die Knie.»Ginny, sei nicht tot, bitte, sei nicht tot -«Er warf den Zauberstab zur Seite, packte Ginny an der Schulter und drehte sie um. Ihr Gesicht war wei? wie Marmor, und ebenso kalt doch ihre Augen waren geschlossen – also war sie nicht versteinert. Doch dann mu?te sie -
»Ginny, bitte wach auf«, flusterte Harry verzweifelt und schuttelte sie. Ginnys Kopf kullerte hoffnungslos hin und her.
»Sie wird nicht aufwachen«, sagte eine leise Stimme.
Harry schrak zusammen und rutschte auf den Knien herum.
Ein gro?er, schwarzhaariger Junge stand gegen die nachste Saule gelehnt und musterte ihn. Seine Umrisse waren merkwurdig verschwommen, als ob Harry ihn durch ein beschlagenes Fenster sehen wurde. Aber es gab keinen Zweifel -
»Tom – Tom Riddle?«
Riddle nickte, ohne die Augen von Harrys Gesicht zu wenden.
»Was meinst du damit, sie wird nicht aufwachen?«, fragte Harry verzweifelt.»Sie ist nicht… sie ist doch nicht…?«
»Sie lebt noch«, sagte Riddle.»Gerade noch.«
Harry starrte ihn an. Tom Riddle war vor funfzig Jahren in Hogwarts gewesen, doch da stand er, ein unheimliches, nebliges Licht um sich ausbreitend, keinen Tag alter als sechzehn.
»Bist du ein Geist?«, fragte Harry unsicher.
»Eine Erinnerung«, sagte Riddle leise.»Funfzig Jahre lang in einem Tagebuch aufbewahrt.«
Er deutete auf den Boden neben die Riesenzehen der Statue. Dort lag aufgeschlagen der kleine schwarze Taschenkalender, den Harry im Klo der Maulenden Myrte gefunden hatte. Einen Moment lang fragte sich Harry, wie es hierher gekommen war – doch es gab Dringlicheres zu tun.
»Du mu?t mir helfen, Tom«, sagte Harry und hob aber mals Ginnys Kopf,»Wir mussen sie hier rausbringen. Da ist ein Basilisk… ich wei? nicht, wo er steckt, aber er konnte jeden Augenblick kommen… bitte, hilf mir -«
Riddle ruhrte sich nicht. Harry, dem der Schwei? ausbrach, schaffte es, Ginny hochzuheben, und er beugte sich noch einmal zu Boden, um den Zauberstab aufzuheben.
Doch der Zauberstab war verschwunden.
»Hast du meinen -?«
Er sah auf Riddle sah ihn immer noch an – und mit seinen langen Fingern lie? er Harrys Zauberstab im Kreise wirbeln.
»Danke«, sagte Harry und streckte die Hand nach dem Zauberstab aus.
Ein Lacheln krauselte Riddles Mundwinkel. Er sah Harry ungeruhrt an und lie? den Zauberstab gelassen weiterkreisen.
»Hor zu«, sagte Harry unwirsch und seine Knie knickten unter der leblosen Last Ginnys ein.»Wir mussen hier raus! Wenn der Basilisk kommt -«
»Er kommt erst, wenn er gerufen wird«, sagte Riddle leise.
Harry konnte Ginny nicht mehr halten und lie? sie wieder zu Boden gleiten.
»Was meinst du damit?«, sagte er.»Gib mir meinen Zauberstab, ich brauch ihn womoglich -«
Riddle verzog lachelnd die Mundwinkel.
»Du wirst ihn nicht brauchen«, sagte er.
Harry starrte ihn an.
»Was meinst du, ich werd ihn nicht -?«
»Ich habe lange auf diese Stunde gewartet, Harry Potter«, sagte Riddle.»Auf die Gelegenheit, dich zu treffen. Mit dir zu sprechen.«
Harry verlor die Geduld.»Hor mal«, sagte er,»ich glaub, du kapierst es nicht. Wir sind in der Kammer des Schreckens. Unterhalten konnen wir uns spater -«
»Wir reden jetzt«, sagte Riddle immer noch breit lachelnd und steckte Harrys Zauberstab in die Tasche.
Harry starrte ihn an. Etwas sehr Merkwurdiges ging hier vor…
»Was ist mit Ginny passiert?«, fragte er langsam.
»Nun, das ist eine interessante Frage«, sagte Riddle vergnugt.»Und eine ziemlich lange Geschichte. Ich denke, der eigentliche Grund, warum Ginny hier liegt, ist, da? sie ihr Herz ausgeschuttet und all ihre Geheimnisse einem unsichtbaren Fremden verraten hat.«
»Wovon redest du?«, sagte Harry.
»Vorn Tagebuch«, sagte Riddle.»Meinem Tagebuch. Die kleine Ginny hat Monat fur Monat darin geschrieben und mir all ihre jammerlichen Sorgen und ihr Herzeleid anvertraut – wie ihre Bruder sie triezen, wie sie mit gebrauchten Umhangen und Buchern zur Schule kam, und da? -«Riddles Augen funkelten -»und da? sie nicht glaubt, der beruhmte, gute, gro?e Harry Potter wurde sie jemals mogen…«
Wahrend er sprach, wandte Riddle die Augen keinen Moment lang von Harrys Gesicht. Etwas Hungriges lag in seinem Blick.
»Es war sehr langweilig, den albernen kleinen Sorgen eines elfjahrigen Madchens zu lauschen«, fuhr er fort.»Doch ich war geduldig. Ich schrieb zuruck, ich zeigte Mitgefuhl, ich war nett. Ginny hat mich einfach geliebt. Keiner versteht mich besser als du, Tom… Ich bin so froh, da? ich mich diesem Tagebuch anvertrauen kann… Es ist wie ein Freund, den ich in der Tasche herumtragen kann…«
Riddle lachte. Es war ein hohes, kaltes Lachen, das nicht zu ihm pa?te und Harry die Nackenhaare zu Berge stehen lie?.
»Ich darf durchaus von mir behaupten, Harry, da? ich jene, die ich brauchte, immer bezaubern konnte. Und so hat Ginny mir ihr Herz ausgeschuttet, und ihr Herz war genau das, was ich brauchte. Ich wurde starker und starker, denn ich konnte mich von ihren tiefsten Angsten, ihren dunkelsten Geheimnissen nahren. Ich wurde machtig, viel machtiger als die kleine Miss Weasley. Machtig genug, um Miss Weasley schlie?lich mit ein paar meiner Geheimnisse zu futtern, um ihr allmahlich ein wenig von meiner Seele einzuflo?en…«
»Was meinst du damit«, sagte Harry, dessen Mund jetzt sehr trocken war.
»Hast du es noch nicht erraten, Harry Potter?«, sagte Riddle sanft.»Ginny Weasley hat die Kammer des Schreckens geoffnet. Sie hat die Schulhahne erwurgt und Drohungen an die Wande geschmiert. Sie hat die Schlange von Slytherin auf vier Schlammbluter losgelassen und auf die Katze von diesem Squib.«
»Nein«, flusterte Harry.
»Ja«, sagte Riddle gelassen.»Naturlich wu?te sie zuerst nicht, was sie tat. Es war sehr lustig. Ich wunschte, du hattest ihre neuen Tagebucheintrage lesen konnen… Wurden jetzt bei weitem interessanter… Lieber Tom«, zitierte er und beobachtete Harrys entsetztes Gesicht,»ich glaube, ich verliere mein Gedachtnis. Auf meinem Umhang sind uberall Huhnerfedern und ich wei? nicht, wie das kommt. Lieber Tom, ich kann mich nicht erinnern, was ich in der Nacht von Halloween getan habe, aber eine Katze wurde angegriffen und ich bin uberall mit Farbe bekleckert. Lieber Tom, Percy sagt standig, ich sei bla? und nicht mehr die Alte. Ich glaube, er verdachtigt mich… Heute gab es wieder einen Angriff und ich wei? nicht, wo ich war. Tom, was soll ich tun? Ich glaube, ich werde verruckt… Ich glaube, ich bin es, die alle angreift, Tom!«
Harry ballte die Hande zu Fausten. Seine Fingernagel gruben sich tief ins Fleisch.