wahrscheinlich von Saure gefressen worden waren. Seine graue, ungebugelte Hose fiel uber ausgetretene Schuhe, die dringend hatten geputzt werden mussen.
Joe Pearson unterzeichnete das letzte Papier und schob den Sto? mit einer fast wilden Bewegung der kleinen Miss Mildred hin. »Vielleicht darf ich jetzt mit meiner wirklichen Arbeit weitermachen, wie?« Seine Zigarre wippte auf und ab und verstreute Asche, zum Teil auf ihn selbst, zum Teil auf den glanzenden Linoleumboden. Pearson war so lange im Three Counties Hospital, da? er sich Grobheiten erlauben konnte, die bei einem jungeren Mann nie geduldet worden waren, und auch die Schilder >Nicht rauchen< zu ignorieren, die in Abstanden gut sichtbar in den Krankenhausgangen hingen.
»Danke, Doktor. Danke vielmals.«
Er nickte kurz und ging weiter zur Haupthalle, um mit dem Fahrstuhl in das Souterrain zu fahren. Aber beide Fahrstuhle befanden sich in den oberen Stockwerken. Mit einem unmutigen Brummen eilte er die Treppe hinunter, die zu seiner eigenen Abteilung fuhrte.
In der chirurgischen Abteilung, drei Etagen hoher, war die Atmosphare ausgeglichener. In der gesamten Operationsabteilung wurden Temperatur und Luftfeuchtigkeit sorgfaltig kontrolliert, damit die Chirurgen des Krankenhauses, die Assistenten und die Schwestern, die unter ihren grunen Operationsanzugen nur ihre Unterwasche trugen, unbeeintrachtigt arbeiten konnten. Manche der Chirurgen hatten ihre ersten Operationen an diesem Morgen bereits hinter sich und schlenderten fur eine Tasse Kaffee zu dem Aufenthaltsraum, ehe sie zu ihrem nachsten Fall ubergingen. Aus den Operationsraumen zu beiden Seiten des Ganges, der vom ubrigen Teil des Krankenhauses aseptisch abgeschlossen war, schoben Schwestern Patienten, die noch in der Narkose lagen, in eines der beiden Zimmer, wo die Patienten unter Beobachtung blieben, bis sie wieder zu sich gekommen waren und in die ihnen zugeteilten Krankenbetten gebracht werden konnten.
Zwischen Schluckchen von siedendhei?em Kaffee verteidigte Lucy Grainger, eine orthopadische Chirurgin, die Anschaffung eines Volkswagens, den sie sich am Tage vorher gekauft hatte.
»Sie mussen entschuldigen, Lucy«, sagte Dr. Bartlett, »aber ich furchte, ich bin auf dem Parkplatz versehentlich draufgetreten.«
»Macht nichts, Gil«, antwortete sie. »Aber fur Sie ist die korperliche Bewegung nur gesund, wenn Sie um Ihr Ungeheuer aus Detroit herumlaufen mussen.«
Gil Bartlett, einer der allgemeinen Chirurgen des Krankenhauses, war als Besitzer eines cremefarbenen Cadillacs bekannt, den man selten anders als in fleckenlosem Glanz strahlend sah. Im Grunde war der Wagen ein Ausdruck der peinlichen Sorgfalt seines Besitzers, der unbestreitbar einer der bestangezogenen Arzte am Three Counties Hospital war. Bartlett war auch der einzige Arzt, der sich mit einem Bart prasentierte, einen immer sauber gestutzten van Dyck, der beim Sprechen auf- und abwippte, ein Vorgang, den Lucy faszinierend zu beobachten fand.
Kent O'Donnell kam zu ihnen herubergeschlendert. O'Donnell war Chef der Chirurgie und gleichzeitig Prasident des medizinischen Ausschusses des Krankenhauses. Bartlett begru?te ihn.
»Sie habe ich gesucht, Kent. Ich halte vor den Schwestern nachste Woche einen Vortrag uber Mandeloperationen bei Erwachsenen. Haben Sie ein paar Farbdias von Luftrohrenentzundungen und durch Aspiration verursachte Lungenentzundungen?«
O'Donnell uberflog in Gedanken seine Sammlung von Farbfotos fur Lehrzwecke. Er wu?te, was Bartlett meinte. Er bezog sich auf eine der weniger bekannten Komplikationen, die manchmal nach der Ausschalung der Rachenmandeln bei Erwachsenen auftritt. Wie den meisten Chirurgen war O'Donnell bekannt, da? selbst bei der gro?ten Sorgfalt wahrend der Operation gelegentlich ein winziges Stuck der Mandel der Pinzette des Operateurs entging und von dem Patienten in die Lunge eingeatmet wurde, wo es eine Infektion verursachte. Er erinnerte sich, da? er eine Serie von Bildern der Luftrohre und der Lungen besa?, die einen derartigen Fall zeigten. Sie waren wahrend einer Obduktion aufgenommen worden. »Ich glaube ja«, antwortete er. »Ich werde sie heute abend heraussuchen.«
»Wenn Sie keines von der Luftrohre haben, dann geben Sie ihm eins vom Dickdarm«, riet Lucy Grainger. »Er kann es doch nicht unterscheiden.« Gelachter lief durch das Arztezimmer.
Auch O'Donnell lachelte. Er und Lucy waren alte Freunde, und manchmal fragte er sich, ob sie nicht mehr werden konnten, wenn ihnen Zeit und Gelegenheit gegeben wurden. Er hatte Lucy aus vielen Grunden gern, nicht zuletzt wegen der Art und Weise, in der sie sich in einer Umgebung behauptete, die manchmal als eine Mannerwelt angesehen wird, und in der sie dennoch niemals ihre Fraulichkeit verlor.
Der Operationsanzug, den sie jetzt trug, lie? sie formlos wie alle anderen, fast anonym, erscheinen. Er wu?te aber, da? sich darunter eine hubsche, schlanke Figur verbarg, die im allgemeinen dezent, elegant und modisch angezogen war.
Seine Gedanken wurden von einer Krankenschwester unterbrochen, die geklopft hatte und unbemerkt eingetreten war.
»Dr. O'Donnell. Die Familie Ihres Patienten wartet drau?en.«
»Sagen Sie bitte, ich kame sofort.« Er trat in das Umkleidezimmer und begann, seinen Operationsanzug abzustreifen. Auf seinem Programm fur heute stand nur eine Operation, die er bereits beendet hatte. Wenn er die Familie drau?en getrostet und ihr Mut zugesprochen hatte - gerade hatte er dem Patienten erfolgreich Gallensteine entfernt -, war seine nachste Aufgabe ein Besuch beim Verwaltungsdirektor.
Ein Stockwerk uber der chirurgischen Abteilung, in dem Krankenzimmer fur Privatpatienten Nr. 28, hatte George Andrew Dunton die Fahigkeit verloren, Warme oder Kalte wahrzunehmen, und stand funfzehn Sekunden vor dem Tod. Wahrend Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten hielt und darauf wartete, da? der Puls aussetzte, stellte Schwester Penfield den Ventilator am Fenster auf stark, weil durch die Anwesenheit der Angehorigen die Luft im Zimmer unbehaglich stickig geworden war. Das ist eine ordentliche Familie, dachte sie, die Frau, der erwachsene Sohn, die jungere Tochter. Die Frau schluchzte leise vor sich hin, die Tochter weinte tonlos, wobei ihr die Tranen uber die Wangen liefen, der Sohn hatte sich abgewendet, aber seine Schultern zuckten. Wenn ich einmal sterbe, dachte Elaine Penfield, hoffe ich, da? auch um mich jemand weint. Tranen sind der beste Nachruf, den es gibt.
Jetzt lie? Dr. McMahon das Handgelenk seines Patienten sinken und sah zu den anderen hinuber. Es waren keine Worte erforderlich, und methodisch notierte Schwester Penfield die Todeszeit: zehn Uhr zweiundfunfzig.
In den Krankensalen und den Zimmern der Privatpatienten an diesem Gang gehorte diese Zeit zu den stillen Stunden des Tages. Die Morgenmedikamente waren ausgegeben, die Visiten beendet, und es herrschte vorubergehend Stille, bis die Essenszeit wieder einen Hohepunkt der Betriebsamkeit brachte. Manche der Schwestern waren zur Kantine Kaffee trinken gegangen, andere, die zuruckgeblieben waren, fullten ihre Krankenblatter aus. »Klagt uber fortgesetzte Leibschmerzen«, hatte Schwester Wilding auf dem Krankenblatt einer Patientin notiert. Sie war im Begriff, eine weitere Bemerkung hinzuzufugen, unterbrach sich aber.
Zum zweiten Male an diesem Morgen griff Schwester Wilding, grauhaarig und mit sechsundfunfzig Jahren eine der altesten Pflegerinnen des Krankenhauses, in ihre Schwesternuniform und zog den Brief heraus, den sie bereits zweimal gelesen hatte, seit er zusammen mit der Post ihrer Patienten auf ihren Schreibtisch gelegt worden war. Das Foto eines jungen Marineleutnants mit einem hubschen Madchen am Arm fiel heraus, als sie ihn auseinanderfaltete, und sie betrachtete einen Augenblick lang das Bild, ehe sie den Brief noch einmal las. »Liebe Mutter«, begann er, »es wird dich sicher sehr uberraschen, aber ich habe hier in San Franzisko ein Madchen kennengelernt, und gestern haben wir geheiratet. Ich wei?, da? das fur dich in mancher Weise eine gro?e Enttauschung bedeutet, da du immer gesagt hast, du wolltest an meiner Hochzeit teilnehmen. Aber ich bin uberzeugt, du wirst es verstehen, wenn ich dir sage...«
Schwester Wilding lie? ihre Augen von dem Brief abschweifen und dachte an den Jungen, den sie in Erinnerung und den sie so selten gesehen hatte. Nach der Scheidung hatte sie fur Adam gesorgt, bis er aufs College ging. Dann war Annapolis gefolgt, mit ein paar Wochenendbesuchen und kurzen Ferien. Danach kam die Marine. Und jetzt war er ein Mann, der einer anderen gehorte. Sie durfte nicht vergessen, nachher ein Telegramm mit vielen lieben und guten Wunschen an sie aufzugeben. Vor Jahren hatte sie immer gesagt, da? sie ihren Beruf aufgeben werde, sobald Adam auf eigenen Fu?en stehen und sich selbst erhalten konne, aber sie hatte es dann doch nicht getan, und jetzt wurde die Pensionierung schnell genug kommen, ohne da? sie etwas dazu tat. Sie schob Brief und Foto in die Tasche zuruck und griff nach der Feder, die sie niedergelegt hatte. Dann fugte sie in sorgfaltigen Buchstaben auf dem Krankenblatt hinzu: »Leichtes Erbrechen und Durchfall.
Dr. Reubens benachrichtigt.«