»Die Priesterinnen sind davon uberzeugt, da? Thanatos in die Gestalt des Marmorbildes gefahren ist und den Toten hierher brachte, um uns eine Botschaft zu ubermitteln. Seht ihn Euch an! Seine rechte Hand ist noch blutig, ebenso das Schwert an seiner Seite.«

Samu trat uber den Toten hinweg und betrachtete das mannshohe Relief. Tatsachlich war die rechte Hand des geflugelten Gottes mit getrocknetem Blut besudelt. Ebenso das Schwert an seiner Seite. Doch das war unmoglich!

Unschlussig blickte sie auf den Toten hinab. Sein Kopf war mit einem glatten Schnitt abgetrennt worden. Der Schlag mu?te mit gro?er Kraft gefuhrt worden sein. Das sprach dafur, da? ein Gott den Leichnam enthauptet hatte.

Aber wie hatte sich Thanatos mit Blut besudeln konnen? Buphagos war schon seit vielen Stunden tot, als der Gott kam, um ihn zu richten, und das Blut des Mundschenks mu?te langst in seinen Adern erstarrt sein. Weder in der Nahe des Leichnams noch auf den hellen Marmorstufen des Tempels waren weitere Blutspuren zu sehen. Nachdenklich strich sich die Isispriesterin uber ihr Kinn und versuchte sich vorzustellen, wie der Todesbote aus der Saule gestiegen war und was er dann getan haben mochte.

»Zweimal in nur zwei Tagen hat sich uns das Wirken der Olympier offenbart«, murmelte Orestes duster. »So etwas ist seit dem Zeitalter des Herakles nicht mehr geschehen. Die Hohepriesterin wunscht zur Mittagsstunde Euren Konig zu sehen, Agypterin. Sie will mit ihm uber die Vorkommnisse reden und daruber, da? beide Ereignisse in Verbindung mit ihm und seinem Hofstaat stehen.«

»Ptolemaios XII., der Neue Osiris, ist ebenfalls ein Gott, und kein Sterblicher kann ihm Befehle erteilen. Er wird die Hohepriesterin aufsuchen, wenn es ihm gefallt.«

Samu konnte sehen, wie dem Eirenarkes das Blut in den Kopf scho?. Einen Moment lang schien es, als wurde er die Beherrschung verlieren. Seine Mundwinkel zuckten unruhig. »Ich hoffe, da? der Gott ein Einsehen in die Wunsche der Menschen hat, sonst konnte es sein, da? er allein im Olymp noch auf Asyl zu hoffen vermag.«

»Ich werde dem Neuen Osiris deine Botschaft ausrichten, Orestes«, entgegnete Samu ruhig. »Und ich werde ihm auch deinen Namen nennen, damit er wei?, wie du von ihm redest. Komm, Kleopatra, la? uns jetzt gehen.« Samu hatte sich halb zu der jungen Prinzessin umgewandt, die neugierig das Relief des blutbesudelten Thanatos musterte. Dann stieg sie mit Kleopatra an ihrer Seite stolz die Stufen des Tempels hinab.

In der Menge der Schaulustigen bildete sich eine Gasse, so da? die beiden ungehindert passieren konnten. Deutlich horte Samu das verargerte Getuschel der Epheser. Sie nannten sie flusternd eine agyptische Hexe!

Die Priesterin und die Prinzessin hatten schon fast den Eingang der Villa erreicht, als Kleopatra stehenblieb, um noch einmal zu dem machtigen Tempel zuruckzublicken. »Warum sind die Gotter der Griechen so wunderlich, Samu?«

Erstaunt blickte die Priesterin das Madchen an. »Wie meinst du das?«

»Thanatos mu? seine Schwertscheide benutzt haben, um Buphagos zu kopfen. Wollte er damit seine Starke demonstrieren?«

»Wovon redest du?«

»Das Blut ... Es war an der Schwertscheide. Hast du denn nicht genau hingesehen? Thanatos hat sich nicht die blanke Waffe umgegurtet. Sie steckte in einer Scheide.«

Samu mu?te sich eingestehen, nicht so sehr auf diese Kleinigkeiten geachtet zu haben, weil sie sich uber die arrogante Art des Eirenarkes geargert hatte. Das Schwert des Gottes war blau angemalt gewesen. Mitunter wahlten Kunstler diese Farbe auch, um den Schimmer von poliertem Eisen nachzuahmen.

Viel mehr hatte die Priesterin sich uber die Tatsache gewundert, da? uberhaupt Blut an der Waffe war. Doch auch diese Beobachtung pa?te zu dem Bild, das sie sich von den nachtlichen Ereignissen gemacht hatte. Hoffentlich kamen nicht die Priesterinnen der Artemis zu demselben Schlu?, zu dem sie gekommen war! Kleopatra wurde sie auf keinen Fall in ihr Wissen einweihen.

»Wir Sterblichen werden das Wesen der Gotter nie vollends erfassen konnen, Prinzessin. Auch wenn uns manchmal ihr Handeln sehr vertraut vorkommt, so tun sie doch schon im nachsten Augenblick wieder etwas, das uns vollig unbegreiflich ist. Betrachte nur Zeus, den Machtigsten aller Olympier. Immer wieder gelustet es ihn danach, das Lager mit Menschenfrauen zu teilen, doch kann er sie, obwohl er der erste aller Gotter ist, nur selten vor dem Zorn seines eifersuchtigen Weibes, Hera, beschutzen.«

»Kann es nicht auch sein, da? die Gottinnen in Wahrheit machtiger sind als ihre Manner?«

Samu lachelte. »Ich denke, es wird nicht mehr lange dauern, bis du selbst die Erfahrung machst, welche Macht Frauen uber Manner haben. Dann wird dir die Antwort auf diese Frage klar werden.«

Laute Stimmen im Atrium und ein standiges Kommen und Gehen hatten Philippos aus dem Schlaf gerissen. Er konnte zwar nicht verstehen, woruber gesprochen wurde, doch lie? sich eine unbestimmte, nicht in Worte zu fassende Angst aus den Gesprachsfetzen heraushoren, die zu ihm drangen. Offenbar beherrschte das ratselhafte Ende des Mundschenks am gestrigen Tage noch immer die Gemuter der Sklaven und Hoflinge.

Eine Zeitlang blieb der Grieche unter seiner warmen Wolldecke liegen und lauschte auf die Gerausche in der gro?en Villa. An ihm hatte offenbar niemand Interesse. Keiner kam herein, um ihn zu wecken . Man brauchte ihn nicht! Ob dies schon die ersten Konsequenzen aus dem Gesprach mit dem Konig waren? Es hatte ihn bisher immer gewundert, wie schnell die sonst so oberflachlichen Hoflinge bemerkten, wer in Ungnade gefallen war. Es war fast so, als sei man gestorben. Niemand nahm mehr Notiz von einem. Und wenn man hinging und einen der Hofbeamten ansprach oder auch nur mit einer der Tanzerinnen plauderte, mit denen sich der Herrscher gelegentlich vergnugte, dann schien es, als bereite es dem Gegenuber korperliche Qualen, mit einem zu reden. Jede Ausflucht war willkommen, um vor einem solchen Gesprach zu fliehen.

Zweimal hatte Philippos in seiner kurzen Zeit am Hof des Konigs erlebt, was es hie?, ausgesto?en zu sein. Er hatte es beobachtet und keine besondere Teilnahme fur das Schicksal der Betroffenen gezeigt. Jetzt war es vorbei mit seiner Rolle als unbeteiligter Beobachter!

Beklommen blieb er liegen und beobachtete, wie der schmale Streifen Sonnenlicht, der durch ein kleines, hochgelegenes Fenster in sein Zimmer fiel, langsam uber den Boden wanderte.

Wenn das Licht seine Sandalen erreichte, dann wurde er aufstehen. Er konnte sich nicht ewig unter seiner Decke verkriechen! Er durfte jetzt nicht den Kopf verlieren! Wenn er ein Geachteter war, dann wurden sich auch daraus noch Vorteile fur ihn ergeben! Er mu?te nur lange genug daruber nachdenken. Fast jedes Problem lie? sich allein durch Nachdenken bewaltigen!

Wenn die Epheser sich gegen Ptolemaios und die anderen agyptischen Fluchtlinge erhoben, weil sie in dem Vorfall wahrend der Prozession ein schreckliches Omen sahen, dann mochte es Philippos vielleicht sogar das Leben retten, wenn er beim Konig in Ungnade gefallen war. Geistesabwesend starrte der Grieche auf die kleinen Staubkorner, die in dem goldenen Sonnenstrahl auf und nieder tanzten, der das graue Zwielicht seiner Kammer durchschnitt. Nicht mehr lange, und der Lichtstreifen auf dem Boden hatte seine Sandalen erreicht.

Dicht neben den Schuhen lag seine zerknullte Toga. Er hatte sich gestern abend nicht so gehen lassen durfen! Er hatte das Kleidungsstuck einfach zusammengeknullt und von sich geworfen. Sie war hoffnungslos zerknittert. In diesem Zustand war es unmoglich, die Toga noch einmal so zu drapieren, da? ihr Faltenwurf seinen Vorstellungen vom korrekten Sitz dieses unbequemen Kleidungsstucks entsprechen wurde. Es blieb ihm nichts anderes ubrig, als sie zum Waschen zu geben, damit das Leinentuch frisch gestarkt wurde. Er wurde also heute eine Tunica statt des unbequemen Staatsgewandes tragen.

Im Atrium war lautes Reden und das Tappen vieler Fu?e zu horen. Offenbar verlie? eine Abordnung den Palast. Ob Ptolemaios schon zu dem Gesprach mit der Hohepriesterin des Artemisions aufgebrochen war? Als der Larm im Innenhof verklungen war, lie? sich auch im ubrigen Haus kaum noch ein Gerausch vernehmen. Es war, als sei die riesige Villa ausgestorben. Nur ganz selten waren die leisen Schritte der Sklaven zu horen. Offenbar hatte fast der ganze Hofstaat das Gebaude verlassen. Das war die Gelegenheit, um den Plan, den er letzte Nacht geschmiedet hatte, in die Tat umzusetzen.

Einen Moment lang spahte Philippos von der saulengerahmten Loggia ins Atrium.

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